31 Dezember 2021

Der ungeliebte Besuch (Jahreswechsel)

Unsere Clique ist ein fröhliches Team. Wenn wir nicht gerade Aufgaben zu erledigen haben, ist immer was los. Leider gehört auch C. zu der Truppe, warum auch immer. Sie war irgendwann da, zuerst recht ruhig, aber nach kurzer Zeit doch ziemlich dominant. Ich kenne niemand, der sie so richtig mag, hinter dem Rücken wird sie als echte Nervensäge bezeichnet. Wenn es sich vermeiden lässt, lädt man sie nicht direkt ein, aber wenn die Gruppe sich trifft, kann man sie auch nicht explizit außen vor lassen.
Also, sie ist jedenfalls dabei und zu allem Übel scheint sie auch stets Zeit zu haben. Frage ich herum, ob jemand in den nächsten Tagen mit ins Kino geht, dann kann ich sicher sein, dass C. mit dabei ist. Bei den anderen sind Hausaufgaben, Sportaktivitäten und was es sonst noch so gibt im Wege. Schließlich sitze ich dann ausgerechnet mit ihr alleine in der Filmvorführung. Danach nistet sie sich dann noch bei mir ein, erzählt Geschichten und sieht nicht ein, mich ins Bett zu entlassen, obwohl mir die Augen zufallen.
Vermutlich bin ich der einzige, der versucht, ihr zu vermitteln, dass sie manchmal – Entschuldigung – etwas lästig ist. Aber egal, wie man es formuliert, das kommt einfach nicht an. Bemerkenswert, dass meine Freunde das genauso sehen, ja sogar lauthals darüber schimpfen, aber in Gegenwart von C. nur leise vor sich hinmurmeln.

Und so geht wieder ein Jahr zu Ende. C. ist immer noch unser Begleiter, mal kann man mit einer Ausrede Abstand gewinnen, mal die Zeit mit Anderen verbringen. Aber im Hintergrund ist sie immer noch da, einige Wochen scheint sie untergetaucht, dann steht sie wieder täglich vor der Tür. Ungerührt drückt sie mich zur Begrüßung und treibt mich mit ihrer Art und dieser ungeliebten Verbundenheit in den Wahnsinn. 

Also hoffen wir für 2022 mal das Beste: Wir werden C. vielleicht noch nicht los, aber mit etwas Geschick werden die Besuche seltener.

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24 Dezember 2021

Weihnachten: So oder so ähnlich vor rund 2000 Jahren

Es war alles ganz anders. Könnte ich mir vorstellen. Oder alles so, wie wir es immer in der Christmette vorgelesen bekommen. Eine Mischung aus Geschichte und Fiktion.

Es war eine beschwerliche Reise, die unser Josef da auf sich nimmt. Irgendwelche Bürokraten haben ihn mit seiner Frau gezwungen, zu einer Erfassung aufzubrechen. Internet und Steuer-ID gab es noch nicht, persönliches Erscheinen unabdingbar. Also weg von der Baustelle als Zimmermann, und mit der schwangeren Frau auf eine mühsame Tour durchs Land.
Heute war wieder eine anstrengende Etappe, Maria wird immer schwerfälliger, kaum kann sie den Tag durchhalten, die Niederkunft steht kurz bevor. Und auch in diesem Zustand fällt es täglich schwerer, eine Unterkunft, was sage ich: eine Bleibe für die Nacht zu finden. Angekommen in einem Ort, ich glaube Bethlehem, läuft es heute extrem schlecht. Keine Herberge aufzutreiben, für das Hineinschlüpfen in einen Schober voller Tiere müssen sie noch dankbar sein. Und das sind sie, denn kaum hineingekrochen in das aufgehäufte Stroh, argwöhnisch beäugt von einer Kuh und einem Esel, beginnen bei Maria die Wehen. Oh mein Gott, keine Hebamme weit und breit, der hilflose Josef – ein Zimmermann als Geburtshelfer – und das in Dunkelheit, Dreck, umringt von Tieren.

Die angehende Mutter, schluchzend, in Schmerzen, leidend, der arme Josef, und endlich, endlich die Erlösung, als der kleine Bub auf die Welt kommt, strampelnd, mit einem Schrei. Sie haben das in den letzten Tagen immer wieder besprochen, ein kleiner Fetzen Stoff muss für den Säugling reichen, mit Zimmermanns-Werkzeug wird die Nabelschnur durchtrennt. Nicht die feine englische Art, Not macht erfinderisch.

Derweil ist auch draußen Bewegung. In einiger Entfernung lagern ein paar Hirten, es ist recht kühl und zur Nacht sitzen sie noch um das verglimmende Feuer. Sie reden nicht viel, aber ein Rauchwerk macht die Runde, verschiedene Gräser lassen den Tag in milde Erinnerung versinken und begleiten die Männer in den Schlaf. Einer sitzt etwas abseits, hält ein Auge auf die zur Ruhe gekommene Schafherde, sie muss morgen wieder auf die Weide, heute Abend ist erst mal Pause, nur Diebe und tierische Feinde machen dem Wachmann vielleicht auch in dieser Nacht wieder Arbeit. Es ist eine ungeliebte Arbeit, oft erzählen sich die anderen phantasievolle Geschichten, die er als einziger ohne einen Zug an der Pfeife nicht so recht nachvollziehen kann.
Heute Abend beschließen sie, zu dem Stall drüben zu laufen, da ist irgendwas los, immer wieder hören sie Frauenschreie, das schürt die Phantasie und die Neugierde wächst mit jedem Laut, der aus der Richtung kommt. So wird einer bestimmt, der mutig die schwankende Truppe anführt, am Stall klopft und eine nur unzureichend bekleidete Frau vorfindet, die einen Neugeborenen im Arm hält. Was für ein seltener Anblick, werden die Hirten als Männer doch traditionell von Geburt und Entbindung ferngehalten. Und so erzählt der Anführer den ungehaltenen jungen Eltern, die in ihrem Stress nicht auch noch Schaulustige erwarten, eine Geschichte von einer Person, die vom Himmel herabgeschwebt ist. Ein Engel, wie er sich ausdrückt, der ihnen eine Botschaft mitgegeben habe und sie nun hier seien, die Nachricht noch mal mit ihren Hirtenaugen nachzuprüfen.

Josef ist das alles zu viel, auch Maria ist völlig am Ende, körperlich erschöpft, einfach nur noch müde und froh, wenn das schreiende Bündel in ihren Armen endlich Ruhe gibt. Sie nimmt ihre Kraft zusammen, bedankt sich für den Besuch und bedeutet der Meute, ihre Geschichte zu nehmen, für das Lagerfeuer zu behalten, ansonsten aber den Stall zu verlassen und ihr die unabdingbar erforderliche Erholung von den Strapazen zu gönnen.

Erst zögern die einfachen Männer, ist es doch ein Erlebnis in ihrem sonst so eintönigen Leben, aber dann trollen sie sich doch, nicht ohne noch mal einen Blick auf die Szene zu werfen, Eindrücke zu sammeln, die sie sich in den nächsten Tagen in immer wilder ausgemalten Bildern erzählen werden. Jeder kann ein Stückchen dazu beitragen, der Beginn einer großen Geschichte, der Weihnachtsgeschichte, wie wir sie kennen.

17 Dezember 2021

Brief-Fremde Signale

Ich habe schon immer gerne geschrieben. Schon als Jugendlicher saß mir der Stift locker und ich pflegte eine ganze Reihe Brieffreundschaften. Das war immer eine spannende Aufgabe, die Randbedingungen waren ja deutlich anders damals: In irgendwelchen Zeitschriften das Interesse an Briefaustausch inserieren oder darauf antworten, gespannt, wie das Gegenüber beim ersten Kontakt reagiert. Naja, bevorzugt natürlich das andere Geschlecht, irgendwie prickelnder, obwohl es nur in seltenen Fällen überhaupt zu einem Treffen kam.
Sehr unterschiedlich war die Zeit, die bis zur Antwort verging. Und vielfältig die Inhalte, die Häufigkeit, die innere Distanz. In den weniger attraktiven Austauschen ging es um die Freizeit, die Schule, irgendwelche Erlebnisse. Viel spannender das Seelenleben, Sorgen mit den Eltern und die Hakeleien mit Freunden. In seltenen Fällen auch Berichte von Verliebtsein und Andeutung erster Erfahrungen.

So oder so: Wenn mal wieder ein Brief für mich kam war das immer eine Aufhellung im Alltag. Meine Mutter pflegte diese Privatpost unter mein Kopfkissen zu legen und wenn ich ein Schreiben erwartete fuhr meine Hand täglich nach der Schule erst mal unter das Bettzeug, und ich war enttäuscht, wenn dort nur Stoff zu spüren war. Aber wenn nicht, dann zog ich vorsichtig den Umschlag hervor, als könnte er bei ruckartiger Bewegung Schaden nehmen. Und ohne den Absender zu lesen versuchte ich herauszufinden, wer mir geschrieben hatte. War es Susanne, an der eine Künstlerin verloren gegangen war, oder Steffi, die mit festem Druck des Kugelschreibers fast das Papier durchdrückte? Oder Lucy, bei der die inhaltlich trockenen Texte durch ein exquisites Parfum konterkariert wurden?

Nach der Ratestunde schaute ich nach der Auflösung, aha, also doch von Angela. Was hatte ich ihr als letztes geschrieben, wo nahm sie den Faden ihres Textes oder meiner Antwort wieder auf? In Vorfreude auf das Lesen steckte ich den Brief in die Tasche, einfach nur Aufreißen und schnell konsumieren wäre schade gewesen. Abends dann das Eröffnen, geradezu zeremonielle Aufschneiden und Betrachten des Schriftbildes. Dann das Durchlesen, Innehalten, nochmaliges Lesen und Hineinsinken in die Ausführungen.

*Plop* Wie selten das heute geworden ist. In einer Zeit, in einem Alter und einer Lebensphase, die so ganz anders ist. Pausenlos kommen E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, Sprachmemos, Anrufe bei mir an. Keine wohlüberlegten Zeilen, mit gewissem Aufwand auf ausgewähltes Briefpapier gebracht, sondern schnell dahingeworfene autokorrigierte Statements. Ich habe kaum Zeit dafür, auch nur die Inhalte zu erfassen, von Genuss oder Innehalten kann keine Rede sein.

Doch jetzt hatte ich doch noch mal so ein Erlebnis. Ich hatte mich in Gedanken mit einem Nachbarn beschäftigt, den ich eine Weile nicht gesehen hatte, nur mal im Vorbeilaufen zugewunken. Ob er auch langsam den Corona-Blues bekäme, wollte ich per Kurznachricht von ihm wissen. Und zu meiner freudigen Überraschung schickte er mir als Antwort eine wundervolle Sprachnachricht, seine Freude über meine Kontaktaufnahme und die Herzlichkeit waren nicht zu überhören. Ich setzte in der Aufnahme zurück, spielte sie nochmal ab und genoss die freundliche Botschaft. Deutlich später ging das Memo immer noch durch meinen Kopf, aber jetzt fand ich auch die Worte, ebenso herzlich zu antworten.

Abschluss der Geschichte war noch einmal eine Erwiderung und wie zu Zeiten der Brieffreundschaft registrierte ich den Eingang, freute mich und zögerte das Abhören noch ein wenig hinaus. Wie schön, dachte ich mir, wie emotional erhebend ein liebevolles Signal sein kann.

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10 Dezember 2021

Von Dir

Am Ende sind wir.
Seh‘ ich dort:
Ein kleiner Smiley
Den Du anderen zeigst
Meinst Du ihn wirklich
Oder ist er nur
Ein Zeichen Deiner Kollaboration
Geschicklichkeit, Political Correctness
Bloß nicht: Erkläre, was Du wirklich denkst
Wer weiß, ob Du
Wenn irgendjemand dieses wüsste,
Nicht sogar Nachteile
In Kaufe nähmst.

Das willst Du nicht
Ich kann’s verstehen
Doch um die Ehrlichkeit zu treffen
Müsst‘ man vielleicht an dieser Stelle
Ein klares Zeichen, ein Bekenntnis seh’n
Und das scheust Du
Lass‘ es mich Feigheit nennen
Auch wenn der Freimut eine Tugend ist,
Die heute schlichtweg keinen Wert mehr hat.

03 Dezember 2021

Du meine Schneeflocke

Du hast schon einen weiten Weg vom Himmel hoch bis zu mir zurückgelegt, hast ausgerechnet mich getroffen und nun liegst du auf meiner Hand und schmilzt für mich dahin.
Es ist so schön, dass du mich gefunden hast, ich schaue dich an und freue mich über deine schöne feinkristalline Struktur.
In wenigen Augenblicken wirst du ja nicht mehr existieren, geschmolzen durch meine Wärme. Aber du lebst fort als Wasser, meine Hand wird feucht und du hast dich eigentlich nur verwandelt. Als Flocke hast du vielleicht nur wenige Stunden zwischen der Geburt in der Atmosphäre und dem Auftauen, aber in deinem Herzen bist du Wasser, und damit gehörst du zum ewigen Wasserzyklus der Erde. Und selbst wenn du in den vielen Millionen Jahren deiner Existenz mal zerfällst, dann ergeben sich immer noch so wertvolle Elemente wie Sauerstoff und Wasserstoff.
Tja, und deine Bindung ist für uns Menschen auch eine Art Vorbild. Existieren da über unvorstellbare Zeiträume hinweg drei Atome in einer stabilen Beziehung, und haben dabei über die Wasserstoffbrücken  auch noch eine einzigartige Verbindung zu den Nachbarn. Gäbe es irgendetwas hiervon nicht, dann gäbe es nicht das Leben auf der Erde, wie wir es kennen.

Und all dies sehe ich in dir, wie du so auf mir liegst, vergänglich und doch unsterblich, zerfallend und doch überdauernd, wunderhübsch und eigentlich nur trivial-schön.

26 November 2021

Das Ende der Kindheit


Es ist früher Morgen
Ich gähne beim Aufwachen und öffne traurig die Augen
Traurig darüber, dass meine Kindheit zu Ende gegangen ist.
Ich schaue aus dem Fenster, Vögel draußen, und dort: Ein Regenbogen.
Ein Blick aus dem anderen Fenster: Der Regen ist abgezogen, die Vögel singen.
Ich bin nicht alleine.

An der Wand mein Spiegel.
Ich drehe mich um, schaue hinein.
Und dort sehe ich ein Kind, es ist das Kind in mir
Ich erinnere mich an all die Liebe, die ich erlebt habe
Hockt dort das Kind, das einst liebte und später seine Naivität verlor?
Ich bin ganz ruhig.

Der Sinn meines Lebens
Ich denke an all die Probleme.
Es gibt so viele Fragen und so wenig Antworten
Ich schaue noch genauer in den Spiegel, da sind doch Zeichen
Die Antworten stecken in mir, nur in mir, ich muss sie nur erkennen
Ich starre gebannt.

Die Sonne geht auf
Ich blinzele in das grelle Licht
Da sehe ich in den Strahlen einen Weg
Ich mache einen Schritt auf die Helligkeit zu
Mein Schicksal scheint am Ende der Düsternis zu liegen
Ich folge dem Licht.

Der Weg führt mich weg
Ich habe mein Schicksal gefunden
Die Asche der Erinnerung glimmt nur noch
Ich lasse den Rebell wieder aus mir heraus
Die Welt wird verändert, von mir verändert
Ich bin unterwegs.

Ein Blick zurück
Ich bin immer noch ein Kind
Nur die Sichtweise hat sich geändert
Ich habe noch die Kraft der Jugend in mir
Denn meine Kindheit ist noch gar nicht zu Ende
Ich ziehe dich mit.

19 November 2021

Wenn ich 70 bin


Ich marschiere durchs Leben
Meine Beine werden steifer
Das Haar ein wenig schütter
Wenn ich 65 bin

Die Rente rückt näher
Mein Geist wird starrer
Urteile härter
Wenn ich 66 bin

Du begleitest mich
Durch all die Jahre
Kennst meine Marotten
Wenn ich 67 bin

Teilen wir noch alles
Brauchen wir uns noch
Ertragen wir die Schwächen
Wenn ich 68 bin

Leben wir nur für uns
Sind wir füreinander da
Helfen wir uns gegenseitig
Wenn ich 69 bin

Lieben wir uns noch
Prickelt Deine Gegenwart
Küssen wir uns
Wenn ich 70 bin

12 November 2021

Ich schreibe, also bin ich.

Es ist schon spät.
Für meinen Stift und meine Gedanken auf dem Papier
Ich sammle, aber die Gebilde werden immer abstruser.
Schon bricht die Logik, nur noch verstreute Bruchstücke.
Zu spät!

Es ist noch zu früh.
Tapfer hämmere ich auf der Schreibmaschine der Phantasie.
Die Wesen der Muse, die Geister des Geistes besuchen mich.
Vor meinen Augen verschwimmt die reale Welt.
Noch Zeit!

Dein Reich komme.
Wie vielfältig die Arten meiner Traumwelt
Vom Aussterben bedroht, von mir geschützt 
Fressketten, an deren Ende ich stehe.
Mittendrin!


Die Zeit ist reif.
Alleine streune ich durch die Dunkelheit der Märchenwälder
Treffe dich und dich und dich
Liebe euch für eure Existenz und die Anregungen, die ihr mir gebt
Jetzt!

05 November 2021

Aufbruch

Herbstkalte Luft. Ich sehe den Lufthauch vor meinem Gesicht, Schwaden meines Atems stehen in der Luft, kühl, unbewegt. Ob es dämmert oder den ganzen Tag schon so lichtarm war, kann ich nicht sagen, Straßenlaternen verbreiten ihr organgefarbenes Licht, tapfer durchdringt ihr Leuchten die Nebelschwaden.

Zum Berg hin ist der Weg matschig, der Regen der letzten Tage hat die Erde durchfeuchtet, das schüttere Gras ist glitschig und bietet den Schritten wenig Halt. Zur oberen Weide hin höre ich das Weidezaungerät, sein Klicken scheint das einzige Geräusch in diesem Stillleben. Ein ganz verhaltenes Gluckern mischt sich noch damit, kaum wahrnehmbares Abfließen des Wassers.

Talseits eine ruhige Idylle, postkartenkitschige Landschaft mit Kirche, die dem Zuschauer eine irreale Harmonie vorgaukelt. Dort wo ein paar Häuser zusammenstehen, geduckt seit Jahrzehnten unter der Last ihrer Dächer, der Erwartung an ihre Haltbarkeit, an den Schutz für die darin lebenden, auch ein Dorfplatz mit Baum, altmodischer Bank, ohne Blätter jetzt .

Noch mal ein tiefer Atemzug, vor meinem Gesicht eine Nebelbank, windstill schon den ganzen Tag muss ich mich bewegen, um wieder sehen zu können, was am Waldrand vor sich geht, denn unübersehbar traut sich gerade ein Rudel Rehe aus der Deckung. Sie haben mich nicht gesehen, können mich nicht sehen, scheu wie sie sind würden sie sonst im Dickicht bleiben, meinen neugierigen Blicken entgehend.


Ich schaue den Tieren zu, nicht bewegen jetzt, fast schon tastend suchen sich die Rehe den Weg entlang der Koppel, der Elektrozaun klickt, nicht für die Rehe, oh wehe, wenn sie daran kämen. Jetzt scheinen sie eine gute Stelle gefunden zu haben, lautlos die Verständigung zu bleiben und die Gräser des Feldes zu zupfen.

Ich fröstele, ziehe die Jacke vorne noch fester zu, neben dem Reisverschluss schlage ich noch den Gürtel über den Umschlag, stelle den Kragen hoch. Auf der anderen Seite der Szene kommt nun auch Bewegung ins Spiel, in der nun deutlich hereinbrechenden Dunkelheit ein Zehnender, kapitaler Bursche mit stolz erhobenem Kopf. Sorgfältig schaut er sich um, entdeckt die Rehe und zögert in der Bewegung bis offensichtlich eines der Rehe ihn entdeckt. Das ganze Rudel hat es nun mitbekommen, die Köpfe drehen sich zum Hirsch, Stillleben für den unbeteiligten Betrachter.

Doch jetzt Leben, sehr vorsichtig, der Hirsch senkt kaum merklich das Geweih, ist da vielleicht noch Leben hinter ihm, für mich nicht zu erraten, aber möglich wäre es, doch dann setzt er sich in Bewegung, ob die Rehe begrüßen oder vertreiben will erschließt sich weder mir noch dem Rudel, aber nach kurzem Abwarten drehen sich die Rehe, ruhig wenden sie sich von ihrer Weide ab und machen Anstalten, in den Wald zu verschwinden.

Der Hirsch beschleunigt den Gang, nein, hinter ihm kann ich keine weiteren Artgenossen erkennen, er ist allein und springt jetzt graziös über den Elektrozaun, um so den Rehen den Weg abzuschneiden, die wiederum auch vom gemütlichen Gang zu zunehmend weiten Sprüngen wechseln und auf den Wald zueilen.

Es sind nur Sekunden und die dunkle Wand hat zuerst die Rehe, dann den Hirsch verschluckt, Knacken des Unterholzes höre ich noch, zuerst recht vernehmlich, dann nur noch vereinzelt, schließlich gar nicht mehr. Einen Moment bleibe ich noch stehen, dann ist alles still, jetzt wage ich wieder zu atmen, die ferne Straßenlaterne versinkt vor meinen Augen im Atemnebel, es wird Zeit für den Heimweg.

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29 Oktober 2021

Dolce Vita

 

Eigentlich war es gar nicht Julias Gitarre. Sie hat sie von Klaus-Peter ausgeliehen. Wir haben gar nicht verstanden, warum er dieses Instrument mitgenommen hat, denn er kann es gelinde gesagt nicht wirklich bedienen. Klaus-Peter ist der Inbegriff von verklemmt. Vermutlich zieht er die Unterhosen an, die ihm seine Mutter in den Koffer gepackt hat. Und die Gitarre hat er sich umgeschnallt, weil er sich in seinen Träumen ausmalt, wie er damit ein Mädchen flachlegt.

Das ist bei Kathrin anders, die hat das Liederbuch in der Hand, das sie gar nicht braucht, weil sie alle Texte und Melodien ohnehin kennt. Es ist mehr als Anregung oder zum Weiterreichen an die anderen Sänger, hier um das Lagerfeuer herum. Die stimmliche Qualität ist überschaubar, aber ein paar ganz passable Töne bringt die Runde denn doch hervor. Und im Grunde ist es auch egal, Hauptsache die Melodie stimmt und der Rhythmus und die Stimmung.

Am Abend ist das Feuerholz zusammen gekommen, im nahegelegenen Wald gesammelt, an den Strand gebracht, jetzt Stück für Stück verheizt. Wie weit weg ist nun der Sonnentag, in der Badehose am Strand, ein kleiner Ausflug in die Berge, wo wir Wein geholt haben. Jetzt macht der Kanister die Runde, schon sehr rustikal das Ganze, aber ein schmackhafter Rotwein, der die Zungen lockert.

Ja, hat der Winzer uns erklärt, schon sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Sein Cousin ist nach Deutschland gegangen, in den Sommermonaten dort, eine Pizzeria in „Nurnberg“, wie er sagt. Und mit dem Weingut hat er so sein Auskommen, reich wird er nicht, aber was soll er mit Geld, davon kann er sich die Sonne nicht kaufen, Dolce Vita in Deutschland für ihn undenkbar. Und schmunzelnd lässt er uns noch wissen, sein Wein sei gut für Amore.

Wahrscheinlich hat er Recht, die Flammen des Lagerfeuers schaffen eine romantische Atmosphäre, im Hintergrund rauscht das Meer, im Vordergrund schrammelt Julia auf der Gitarre. Wir arbeiten uns durch das Liederbuch, hier und da ergibt sich ein Händchenhalten, auf allen Gesichtern liegt ein Strahlen.

Der Morgen ist noch fern.

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22 Oktober 2021

Hey, Du!

Ich sitze hier und denk an dich
An mich, wieso denn das?
Du bist mein Leser!
Was hast du denn heut für mich?
Ein paar Gedanken, ein paar Träume
Zuerst die Gedanken.
Ich frage mich, wie Beruf, Hobby und Job zueinander stehen.
Wie meinst Du das?
Das Hobby macht Spaß, der Beruf sollte erfüllen, der Job muss getan werden.
Ja, schon. Aber was ist die Erkenntnis?
Wir wollen doch Spaß haben, also lebe dein Hobby im Job.
Man sagt doch: Mach nie das Hobby zum Beruf
Stimmt aber nicht, solange man im Beruf aufgeht.
Aber dann fehlt der Ausgleich.
Den brauche ich nicht, weil meine Arbeit keine Last ist.
Und die Träume?
Ich sitze im Baumhaus
Was gibt es da?
Um mich herum sitzen und schwirren alle möglichen Vögel.
Das hört sich nach Durcheinander an.
Ja, weil jeder Vogel mir irgendwas ins Ohr zwitschern will.
Ist das nicht schrecklich?
Doch, wie im Alltag: So viele gutmeinende Berater.
Stopf dir was in die Ohren!
Dann höre ich aber nichts mehr, auch nicht die guten Ratschläge.
Scheuch‘ die Vögel weg, die nur laut krächzen.
Leider verscheucht man meist die falschen.
Tja, also was tun?
Sorgfältig zuhören. Das Filtern kann mir keiner abnehmen.
Viel Erfolg und viel Kraft.
Ich danke dir – komm mich nächste Woche wieder besuchen.



15 Oktober 2021

Lass die Sonne in dein Herz

Hauptsatz
Lass die Sonne in dein Herz
Schick die Sehnsucht himmelwärts
Gib dem Traum ein bisschen Freiheit
Lass die Sonne in dein Herz

Variation in Moll (Lugubre)
Covid-19 bricht mein Herz
Quarantäne noch bis März
Nein, wir brauchen nichts zu hoffen
Covid-19 bricht mein Herz

Seitensatz (Agile)
Sommersonne scheint ins Haus
Füße aus dem Fenster raus
Müßiggang und gute Laune
Sommersonne scheint ins Haus
 
Überleitung (Allegro ma non troppo)
Wie es läuft entscheiden wir
Emotionen sind in mir
Was draus wird ist völlig offen
Wie es läuft entscheiden wir.
 
Epilog (Con moto)
Überall ne gute Zeit
Von den Sorgen ganz befreit
Selters, Sekt und helles Lachen
Überall ne gute Zeit
 
Reprise
Lass die Sonne in dein Herz
Denn hier ist kein Platz für Schmerz
Träum mit mir ein bisschen weiter
Lass die Sonne in dein Herz
 
Coda (incalzando)
Genieß das Leben voll und ganz
Jeder Tag hat seinen Glanz
Irgendwann ist es zu Ende
Genieß das Leben voll und ganz

08 Oktober 2021

Ängste und Sorgen… über den Wolken

Vor mir sitzt Werner, 60, Ingenieur und Hobbypilot. Er hat mich am Büdchen neben dem Tower abgeholt, wir haben kurz mit Peter gesprochen, der heute Dienst hat und für die Abläufe auf diesem kleinen Amateurflughafen verantwortlich ist.

Werner hat jetzt ein Klemmbrett auf den Knien, tauscht über Funk irgendwelche englischen Codewörter mit Peter aus. Schließlich ist die Vorbereitung abgeschlossen, er zieht den einen oder anderen  Hebel, drückt auf den Startknopf und tuckernd springt der Motor an, beginnt zu brummen, immer vernehmlicher und jetzt setzt sich unser kleines Flugzeug tatsächlich holpernd in Richtung Startbahn in Bewegung.

Wie schwerfällig am Boden, wie leicht in der Luft, werden meine Gedanken gefesselt, während die Maschine allmählich schneller wird, auf der Hälfte der Bahn gibt Werner Gas, das Rumpeln wird schwächer und dann schweben wir. Der Motor wummert, aber sonst ist es still, wir gleiten geruhsam in die Höhe, ganz anders als im Ferienflieger ist alles so betulich und direkt.

Ich schaue hinunter auf die Erde, sehe die Häuser wie auf einer Modelleisenbahn, Autos als bewegte Rechtecke und Menschen wie Ameisen.

Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
Würde was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein

Meine Gedanken verlieren sich, ich schaue aus der Kabine nach draußen, wie unscheinbar die ganzen menschlichen Werke von hier oben aussehen. Brücken, die in jahrelanger Arbeit erbaut wurden, sind aus dieser Perspektive läppische Kleinigkeiten in den riesigen Formen der Natur. Ein kleiner Erdrutsch, ein Unwetter, Sturm, Erdbeben oder sonstige Ereignisse und man erfährt, was wirkliche Macht ist.

Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand

Ein wenig in Trance geraten schaue ich wieder nach vorne, es ist still geworden und jetzt weiß ich auch warum. Werner hat sich nach vorne gebeugt, betätigt Knöpfe, funkt mit Peter und jetzt hat er einen Strang Drähte aus einem Kabelbaum in der Hand, wo er wohl einen Stecker wieder festdrücken will. Der Motor schweigt, ich überlege, ob ich die Stille genießen oder Angst vor einem Absturz haben soll.

Gerade noch erhabener König der Lüfte, jetzt ängstliche Kreatur mit der Sorge vor einem kurz bevorstehenden Unfall oder gar Tod. Schluss mit Reinhard May, nein, meine Ängste und Sorgen sind nicht unter Wolken verborgen, nur der Fallschirm auf meinem Rücken und die geradezu lethargische Ruhe meines Piloten lassen mich hoffen, dass der Ausflug ein gutes Ende nimmt.

Und tatsächlich, vorne zuckt der Rotor kurz, bleibt dann allerdings wieder stehen. Wir gleiten weiter, noch in ausreichender Höhe und beschreiben jetzt einen weiten Bogen, der uns in Richtung Flughafen bringen soll. Wieder zuckt der Rotor, diesmal schon länger, nein, sogar dauerhafte Bewegung, es tuckert, brummt, wummert, wir gewinnen wieder an Höhe.

Werner bedeutet mir, mich zurückzulehnen und gibt zu verstehen, dass alles in Ordnung ist, kein Grund, sich Sorgen zu machen. Als er dann allerdings nach einem zweiten kurzen Aussetzer unseres Motors wissen will, ob wir noch mal eine Runde dranhängen sollen, erkläre ich ihm meine Vorfreude auf ein Bier an der kleinen Theke neben dem Tower.

Jedenfalls bin ich dankbar, als wir sanft aufsetzen, über die Landebahn zum Hangar rumpeln und wenige Augenblicke später von Peter in Empfang genommen werden, als sei das ein ganz normaler Flug gewesen, die ungeplanten Gleitflugphasen kaum der Rede wert.

Und dann wird mir klar, dass ich meine Ängste und Sorgen nicht über den Wolken verliere, sondern besser schon auf der Erde dafür sorge, dass sie nichtig und klein bleiben.

01 Oktober 2021

Dies ist keine Liebesgeschichte

Es ist die Erinnerung an das, was mal eine werden sollte.

Ich sitze in einer dreckigen, kleinen Bar unten an der südlichen Ostküste. Östlicher das Meer, südlicher das Meer. Sonst nichts mehr. Der Barkeeper – unrasiert seit Tagen oder sogar Wochen – steht mit dem Rücken zu mir und poliert Gläser. Als ich reinkam stand er auch so da und war mit Krügen und dergleichen beschäftigt. Ohne sich umzudrehen nahm er meine Bestellung entgegen: Whiskey-cola, aber mit viel Eis. Ich weiß nicht, wie es machte, den Drink vor mich zu stellen, ohne sich umzudrehen, nur mit einem beiläufigen „Prost Fremder!“. Ich nippte an dem Getränk, wälze einen Eiswürfel im Mund, spüle Whiskey darüber, fühle, wie er mir durch den heißen Hals läuft, im Magen ankommt, im Hals einen beißenden Nachgeschmack hinterlassend, der mich würgen lässt.

Es ist staubig hier, für den Barkeeper Gottseidank, denn sonst müsste er seine Gläser nicht ohne Unterbrechung putzen, denn das tut er: er putzt und poliert unaufhörlich. Der Staub dringt durch alle Ritzen, vor allem durch die Saloontür, die aus einem dieser Cowboyfilme stammen könnte. Geht draußen jemand vorbei, was zu dieser Tageszeit selten genug vorkommt, prasselt der Sand leise auf die Holzbohlen. Alles ist hier aus Holz, verwittert und grau, von der Sonne ausgetrocknet, das Salz aus der Meerluft tut ein Übriges.

Wenn man sich sandig fühlt und die Krümel abstreifen will, merkt man: Alles Salz, was einen schon zerfressen hätte, wenn es feucht genug wäre. Hier ist alles durstig, sogar die Wüste, die am Ende der Siedlung liegt und erst recht die Luft, die mir den letzten Whiskey aus dem Glas klaut, nachdem sie meine Eiswürfel verzehrt hat.

Ich bestelle mir noch einen. Juan – so heißt er bestimmt, jeder heißt hier Juan oder Fillipo – dreht sich um, als würde er sich wundern, dass ich noch lebe. Er sieht mich lange schläfrig an, fast denke ich, hier kriege ich keinen Drink mehr, da nimmt er langsam ganz behutsam mein Glas, als könnte es zerbrechen oder als müsste er es wieder vorsichtig seinem Besitz einverleiben. Ich bleibe sitzen und warte. Wortlos dreht er das Glas in der Hand, spült es aus. Mit einem fast verächtlichen „Da, Fremder“ reicht er mir das gefüllte Glas zurück, starrt mich dabei an, während ich ein Geldstück – irgendeines, denn ich kenne mich mit der Währung noch nicht aus – aus der Tasche hole und über die Theke schiebe. Es scheint ein größerer Wert zu sein, denn sein Gesicht hellt sich auf und so etwas wie „Gracias“ tropft von seinen Lippen.

Ich halte den Augenblick für günstig, ein Gespräch anzufangen und frage ihn, ob man hier irgendwo übernachten könnte. „Si Senor“, er entpuppt sich als nicht sehr beredsam und erst nach mehreren Anfragen errate ich, dass er außer Wirt auch Hotelier ist, sofern man in einem Kotten wie hier jemand so nennen kann. Jedenfalls kann ich hier die Nacht verbringen, falls es nötig ist, bedeutet mir mein Gegenüber, der mir jetzt wieder den Rücken zugekehrt hat. Dann murmelt er irgendwas von Siesta und ohne noch einmal mein tauendes Eis eines Blickes zu würdigen schlappt er durch einen Vorhang davon, wonach sich auch seine schlurfenden Schritte irgendwo im Haus verlieren. Da sitze ich nun allein, meinen Whiskey muss ich bald trinken, sonst wird er lauwarm und beginnt womöglich zu kochen, es gibt nichts, womit ich an diesem Zipfel der Welt nicht rechnen würde.

Irgendwo hier musst du auch gewohnt haben, unter all diesen unrasiert-dreckigen, schläfrigen Lumpen, die dir bestimmt Nachtlager und mehr gewährt haben, wenn sie abends aufwachen. Irgendwo hier Station gemacht, weitergereist – getrampt – mit dem nächstbesten Auto in eine Stadt gefahren, die genauso staubig ist wie hier und wo man dich genauso gemustert und fremd angesehen hat. Dann die erste Vergewaltigung, deine Flucht und Mord. Es ging auf einmal alles so schnell. Ich hätte dir gerne gesagt, dass es mir leid tut und dass wir es nochmal versuchen wollen.

[06/1988]

24 September 2021

Wer wollte was

Wer was wollte

Wollte was er will

Was andere auch wollen

Wollen wir bekommen

Wovon alle träumen

 

Wären es Wünsche

Woran wir denken

Würden sie erfüllt

Willenskraft pur.



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17 September 2021

Sohn und Tochter

ES MUSS DOCH GEREGNET HABEN,


als sich der Sohn mit der Tochter traf. Sie waren ein wunderschönes Paar, sie war groß und schlank, während er kräftig und breit war. Wenn Leute vorbeikamen, stießen sie sich an und zeigten bewundernd auf die beiden. Und wenn sie erst einmal ihr rotes Kleid anzog, dann beneidete man ihn um seine schöne Dame und machte ihr Komplimente.

 Doch so schön sie auch waren, sie waren Kameraden, denn weder konnte sie ihn erreichen, noch konnte er zu ihr gelangen. Aber Liebe ist stärker als jede Trennung; Sie stärkte ihn mit ihren Tränen und er wischte alles beiseite, was zwischen ihnen stand.

 Sie war mal weiß. Damals. Damals war sie aber auch noch ganz, die Verbindung und die Trennung. Heute ist sie Trennung und die Verbindung und läuft von einem Punkt der Vergangenheit bis hinein in die Zukunft. Diese weiße Trennung zwischen dem blauen Paar ist abgerissen. Denn Grün enthält Blau und die beiden sind Natur.

 Das Paar kann nicht glücklich werden, denn sooft sie sich auch vermählen, ist ihnen doch keine Liebesnacht vergönnt. Das mag auch der Grund sein, warum sie ohne Nachwuchs alt werden und sie von Zeit zu Zeit weint, um vielleicht auch uns zu stärken.

 Ich stehe dabei und sehe nur eine Brücke zwischen Himmel und Fluss.

[Brücke von Avignon, 02/1986]

03 September 2021

Wellen am Strand


Heute ist wieder ein windiger Tag, über Nacht scheinen sich die Wolken formiert zu haben, der Wind greift immer wieder hinein und wirbelt sie durcheinander. Der Wetterhahn dreht sich auf dem Dach, die Ziegel auf der Scheune ächzen und fast scheinen sie ein wenig im Fauchen der Luft zu flattern. Jules ist hinausgegangen, kräftige Jacke an, stemmt sich gegen den Sturm. Erst mal ein Rundgang ums Haus. Ist alles dicht, keine schlagenden Fensterläden, keine losen Dinge, kein morscher Ast. 

Dann den Weg hinauf zur Düne, dünnes Gras links und rechts, vom Regen der letzten Tage durchfeuchtet, etwas glitschig, von seinen Gummistiefeln niedergedrückt. Der Weidezaun singt im Wind, die Leitungen zirpen dazu, „klick-klack“ macht der Stromautomat. Ängstlich haben sich die Schafe zusammengerottet, ihnen scheint das Pfeifen in der alten Linde unheimlich. Überhaupt sieht der Baum furchtbar alt aus, reckt seine überwiegend kahlen Äste in den Himmel, scheint dem zum Sturm anwachsenden Wind ein hämisches Grinsen entgegenzusetzen – komm ruhig, ich habe schon viele von deiner Sorte erlebt.

Jules hat jetzt den Deich erreicht, klettert auf der landseitigen Böschung hoch, der rechte Fuß glitscht kurz weg, macht aber nichts, damit hat er gerechnet. Ein Blick zurück zum Haus, zum Hofgarten, über den Deich nach rechts und nach links… alles in Ordnung. Vor ihm liegt das Wasser, überraschend ruhig, der zu erwartende Wellengang wird sich erst mit Verzögerung aufbauen, derzeit ist es noch recht gemäßigt. Unbeirrt vom Blasen des Windes rollen die Wellen an den Strand, bahnen sich gewohnt und unbeirrt ihren Weg um die Felsen herum. 

Der Fels steht da, unbeeindruckt vom Wind, unbeeindruckt vom Wasser, ja auch unbeeindruckt von der Welt und deren Zeit. Für ihn scheinen andere Gesetze zu gelten, er liegt da, lässt geduldig mit sich spielen, souverän, in der Gewissheit der Unverwundbarkeit weit über menschliche Zeitrechnung hinaus. Jules setzt sich darauf, es ist ein Moment der Elemente, das Zerren des Sturms an seiner Jacke, das Klatschen des bewegten Wassers und unter ihm die Ruhe des Steins. Fundament für ihn, während die Wellen immer und immer wieder an ihm lecken, fast meint er, sie versuchten seine Schuhe zu erreichen, vor der Durchnässung schützt ihn die Höhe seiner Warte.

Eine Weile sitzt er da, schaut den Wellen zu, die immer lebhafter werden, in Zusammenarbeit mit der aufkommenden Flut erst zaghaft, dann immer energischer an seinem Sitzstein und dann auch an seinen Stiefeln zu lecken beginnen. Was für eine Kraft hier steckt, im Wind, der ihn wegpusten kann, in den Wellen, die den Deich auflösen und sein Haus wegspülen können, im Stein, der einmal ins Rollen gebracht alles niederrollen kann. Bliebe er jetzt sitzen, dann könnte er aber auch das Abflauen erleben, das Nachlassen der Bewegung, der Gefahr.

Sehr, sehr langsam, als könne er sonst etwas kaputt machen, steht Jules auf. Er dreht sich in Zeitlupentempo um, richtet sich auf und wird vom auflandigen Wind nun in Richtung Deichhang hinaufgedrückt. Aber jetzt sehen wir es, es war gar nicht die Vorsicht, es war eine Schwäche, jetzt stolpert er, der Wind schubst ihn, die Wellen lecken jetzt nicht mehr vorsichtig, vielmehr greifen sie mit langen Wasserarmen nach ihm. Er torkelt kurz, verliert das Gleichgewicht. Wieder ein ungestümer Windstoß, gerade als er sich aufrichten will, jetzt sieht er schemenhaft oben auf dem Deich seine Frau, mit rudernden Armen „komm rein bei dem Wetter“ scheint sie zu gestikulieren. Er will nicken, was ihm aber nicht gelingt, weil er just in dem Moment mit dem linken Stiefel wegknickt und rückwärts statt vorwärts läuft, von den gerade noch so harmlosen Wellen ins offene Wasser hinausgezogen. Eben will er sich wieder aufrichten, als ein Ast der alten Linde geflogen kommt. Wohl doch morscher als bislang eingeschätzt schlägt ihm der Knüppel gegen den Bauch, kurz geht ihm die Puste aus. Unbarmherzig nutzt der Wind sein verlorenes Gleichgewicht aus, drückt ihn seitwärts und er fühlt noch, wie er mit dem Kopf gegen den Stein stößt. Dann wird es dunkel.

Seine Frau eilt den Deich hinunter, oh mein Gott, mein Jules, mein Liebster, was mache ich denn nur, lebst Du noch, so sag doch was. Kein Ton, aber er lebt noch, jetzt alle Kraft sammeln, ihn aus der Gefahr herausholen, schwer ist er, ein Mann in gutem Alter und sie zerrt an ihm, vom Wind sabotiert und zieht und muss auch noch den Berg hoch, um ihn in Sicherheit zu bringen. Zum Glück schlägt er jetzt die Augen wieder auf, benommen noch, aber wieder bei Bewusstsein, die Beine gehorchen ihm wieder, seit er aus dem Wasser ist, unbeholfen setzt er sich in Bewegung.

Eine kleine Ewigkeit später und nach Wiederkehr der Kräfte halten die Beiden sich an der Hand, wanken auf das schützende Haus zu, wo der Wasserkessel ein einsames Lied pfeift und den Segen eines heißen Tees ankündigt.

27 August 2021

Bist du da?

Ich bin auf dem Lebensweg.

Da vorne eine Gabelung.

Wohin geht es rechts?

Wohin geht es links?

Einfach probieren.

Es geht bergauf.

Es geht bergab.

Um die Kurve.

Im weiten Bogen.

Zurück zum Anfang.

Der Kreis geschlossen. 


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20 August 2021

Liebe unter dem Dach (5)

[Vorgeschichte und Kennenlernen] [Besuch und Gegenbesuch]

5. Rock my Soul

Irgendwie ergibt es sich, dass wir uns immer mal wieder besuchen. Mal hat sie eine Frage zu ihrem ungeliebten Nebenfach Mathematik, mal bin ich neugierig, was sie gerade über die Evolution gelernt hat.

Heute sitzen wir bei mir, es ist Herbst geworden und durch das kleine Fenster wird es schon am Nachmittag recht schummrig. Ich freue mich über ihren Besuch, irgendwie war die Vorlesung heute nicht so gut, ich war wohl zu unkonzentriert. Auch das Lernen wollte nicht so recht klappen. Da kommt mir ein Klön mit Eva gerade recht. Eben ist sie aufgestanden, steht am Fenster und schaut in die untergehende Sonne. Wieso ist mir ihr schöner Po eigentlich vorher nie aufgefallen? Heute dafür umso mehr. Ich starre sie von hinten an, ist heute irgendetwas besonders an ihr? Jedenfalls stehe ich vom Bett auf, stelle mich neben sie und gemeinsam schauen wir hinaus zu den ersten fallenden Blättern. Ich lege meine Hand auf ihren Rücken und streichle an ihm hinunter. Sie dreht sich zu mir, gibt mir einen Klapps und weicht zurück. Sicher wird mein Gesicht dunkelrot, mir ist das total unangenehm und ich murmele eine Entschuldigung.

Aber die peinliche Situation dauert nur einen kurzen Augenblick. Sie kommt auf mich zu und im nächsten Moment spüre ich ihre Lippen auf meinen, ihre Zunge. Wir torkeln zum Bett, in Zeitlupe, wie in einem Drehbuch. Sie hat einen schönen Körper unter ihrem gebatikten T-Shirt. Und dann lieben wir uns, liegen prustend nebeneinander, lachen und lieben uns noch mal.

Ein wenig erschöpft sitzen wir dann im Bett, beide nackt, eine unwirklich Szene. „Rock my Soul“, schießt es mir durch den Kopf und fange ich an zu summen. Und sie summt mit, wir fangen an zu singen, immer abwechselnd „Rock my Soul“ – „In the bosom of Abraham“, immer lauter, bis Martin von unten klopft.

13 August 2021

Liebe unter dem Dach (3+4)

3. Besuch

Anders als gewünscht musste ich dann doch noch mal zu meinem Vermieter und ihn um einen Schlüssel für die WG bitten. Widerwillig kramte er in einem Schlüsselkasten, gab mir eine Handvoll Schlüssel unter der Maßgabe, alle nicht passenden unverzüglich wieder zurückzubringen.
Jetzt war alles komplett, mein Zimmer, meine Bücher, ich - und ein Bad.
Die ersten Wochen gingen dahin, mathematischer Vorkurs und das Kennenlernen von Kommilitonen füllten den Tag, das Lösen von Übungsaufgaben die Nacht. Außer dem Studium war weder Zeit noch Platz für Gedanken. So viele Alltagsprobleme, Orientierung in der fremden Stadt, neue Kameraden. 

Ich hatte mir den Tisch neben das Dachfenster gestellt, so dass ich immer mal aufstehen und hinausschauen konnte. Es gab einen schönen Blick über die umliegenden Häuser bis zu einem nahegelegenen Park. Gerade stand ich wieder gedankenverloren vor dem geöffneten Fenster, als es klopfte. „Ja?“ – „Ich bin’s.“ (Mädchenstimme). Ich öffnete die Tür, vor mir die Studentin von unten. „Und?“ – „Ich muss mal… schauen, wie es hier oben aussieht.“ – „Komm rein.“
Sie schlüpfte an mir vorbei ins Zimmer und schaute sich neugierig um. Der Blick streifte mein Bett, das Büchertischchen, das Fenster. „Was studierst Du eigentlich?“ – „Physik, im ersten Semester.“ Sie lächelte und zeigte mir ihre hübschen Zähne – „Ah. Ein Ersti.“ Und dann: „Das Zimmer ist ja schon ziemlich klein, aber einen schönen Ausblick hast Du.“ – „Ja, klein, aber ich bin froh, dass ich ein Dach über dem Kopf habe.“ Diesmal lachte sie spontan los: „Das mit dem Dach über dem Kopf kannst Du bei Dir wörtlich nehmen.“ (Pause) „Eva.“
Ich kochte uns beiden Tee, wir saßen auf dem Bett und sie blätterte in meinen Büchern. „Ich verstehe kein Wort.“ – „Ich auch nicht.“ Sie schaute mich überrascht an, versuchte herauszubekommen, ob ich es ernst meinte. „Wenn ich es verstände bräuchte ich es nicht zu studieren“, erklärte ich ihr.
Diesmal waren ihre Haare gekämmt, in der Nachmittagssonne glänzten sie wie Gold. „Und was machst Du?“ – „Biologie.“ Stimmt, darauf hätte ich kommen können. Sie war so naturschön, Make-up hatte ihr Gesicht bestimmt noch nie abbekommen.

4. Gegenbesuch

Der Stress der ersten Studienwochen ließ nach, ich lernte die anderen Mitbewohner in der WG kennen. Martin war so ein ganz weicher Sowi-Student, für alles Verständnis und ein geregeltes Leben wie das seiner Eltern konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Mitschwimmen und immer den Menschen helfen, die seine Hilfe am dringendsten brauchen. Tobias war in Germanistik eingeschrieben, hing aber lieber bei den Wirtschaftswissenschaftlern herum, weil die Mädchen da hübscher wären. Und Margot (wie kann man sein Kind nur so nennen?) wollte Grundschullehrerin werden. Kinder: ihr ein und alles, voller Begeisterung berichtete sie von ihren Praktika.
Mal wieder so ein Nachmittag, an dem ich schon früh meinen Stoff durch hatte und auf einen Tee runter lief. Nur Martin saß in der Küche, Eva müsste auch da sein und ich könnte sie fragen, ob sie auch Lust hätte. Ich klopfte bei ihr, nichts. Leises Türöffnen, sie lag auf dem Bett und war offensichtlich über einem ihrer Bücher eingeschlafen. Noch während ich überlegte, ob ich sie besser schlafen ließe schreckte sie hoch, schlaftrunken: „Ja?“ – „Ich muss mal… Dich besuchen.“ – „Komm rein.“
Ich schloß die Tür hinter mir, schaute mich um. Es war alles bunt, ein Asparagus hing in einer Makramee-Blumenampel, der Bettrahmen war laienhaft-liebevoll als Tigerente gestrichen. Daneben ein Bücherregal, lauter Biologiewerke und ein Schreibtisch, ebenfalls voll mit Biobüchern. Jetzt wachte Eva langsam wieder auf, „Gefällt‘s dir?“ – „Gemütlich hast du’s.“
Wir unterhielten uns über das Studium, dann erzählte sie von zu Hause, sie kam aus einem kleinen Dorf, aber einen richtigen Hof hätten sie nicht. Leider, wie sie sagt, sie würde gerne etwas mit Tieren machen, Zucht vielleicht oder einen richtigen eigenen Hof haben. Bei den Vorlesungen kommt sie ins Schwärmen, vor allem Anthropologie macht ihr Spaß und der Professor sei so nett. Wenn auch chaotisch, aber das wäre sie ja schließlich auch. [Fortsetzung folgt.]

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06 August 2021

Liebe unter dem Dach (1+2)


1. Vorgeschichte

Es war Semesterbeginn. Die ohnehin schon angespannte Wohnungssituation entwickelte sich dramatisch weiter. Der Wohnungsmarkt schwankte zwischen komatöser Leblosigkeit und chaotischer Hektik. Ein Zimmer zu bekommen war mehr oder weniger Zufall, und ich konnte mich glücklich schätzen, im vierten Stock untergekommen zu sein.

Der Hausbesitzer hatte das Haus schon immer etagenweise vermietet, dieses Jahr hatte er auch noch den Dachboden ausgeräumt und noch mal ein Zimmer freigemacht. Ein bisschen Dämmwolle zwischen die Sparren, Spanplatten drauf und gestrichen. Mein Zimmer.

Bis zum dritten Stock gab es eine normale Treppe und immer rechts und links Wohnungen mit drei oder vier Studenten, alles Wohngemeinschaften mit einer Küche und einem Badezimmer. Zum Spitzboden führte dann eine schmale Stiege, linkerhand ein Speicher, rechts meine Studentenbude. Ein wenig karg war es schon, ein Bett, ein Tisch, Stuhl und ein kleines Bücherregal mussten sich den Platz unter der Dachschräge teilen. Immerhin hatte ich an der einzigen senkrechten Wand ein Waschbecken neben der Tür, so dass ich mich waschen konnte. Für die Benutzung der Toilette oder eine Dusche musste ich in die WG unter mir laufen.

2. Kennenlernen

Es war ein sonniger Tag im September, an dem ich mein Zimmer bezog. Der Vermieter hatte mir noch ein paar Tipps gegeben und feierlich den Schlüssel übergeben. Es wäre ihm sehr recht, wenn ich pünktlich zahlte und ihn ansonsten nicht behelligte. Ein wenig aufgeregt lief ich im Zimmer umher, packte meine Bücher auf den klapprigen Nierentisch, den mir der Hausherr vermacht hatte. Auch einen ausrangierten Teppich hatte ich noch aus dem Keller hochgeschleppt, der Geruch würde im Laufe der Zeit schon verschwinden.

Ich legte mich auf das Bett, müde und von den vielen neuen Eindrücken erschöpft schlief ich ein. Früh am Morgen wachte ich auf, die Blase drückte und mir wurde bewusst, dass ich in die WG runter musste. Ich warf mir ein Handtuch über den Rücken, schlüpfte in Sandalen und stieg die steile Treppe hinunter in die Zivilisation. Doch oh weh, die Wohnungstür war zu und ich hatte keinen Schlüssel. Trotz der frühen Uhrzeit musste ich klingeln. Nichts passierte. Mein Harndrang wurde immer stärker, aber ich wollte mich nicht direkt durch Sturmklingeln unbeliebt machen. Nach einer kleinen Ewigkeit drückte ich noch mal den Klingelknopf. Und tatsächlich, jetzt hörte ich Bewegung.

Die Tür ging auf, eine junge Frau stand vor mir, Haare zerzaust, aus dem Bett gefallen. „Ja?“ – „Ich wohne über euch.“ – „Und?“ – „Ich muss mal.“ Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen. „Komm rein!“. Ich schlüpfte an ihr vorbei und durch den Flur auf die angelehnte Tür zu, die nach WC aussah. Ich tastete nach dem Lichtschalter und bahnte mir einen Weg zwischen Handtüchern und Wäsche zur Toilette. Als ich wieder herauskam, war die Studentin verschwunden. Vermutlich schlief sie schon wieder. Ich zog die Tür leise hinter mir zu und machte mich wieder in mein Zimmer. [Fortsetzung folgt.]

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30 Juli 2021

Du bist gegangen

Sie haben dir nicht geglaubt.

Du warst noch jung, ein Mädchen mit Träumen, mit Phantasie.

Sie haben dir nicht geglaubt.

Das passiert irgendwo anders, nur nicht hier.

Sie haben dir nicht geglaubt.

So ein netter Mann, selbst vier Kinder und immer freundlich.

Sie haben dir nicht geglaubt.

Dich zu missbrauchen, immer wieder.

Ich habe dir geglaubt.

 

Jetzt liegst du da, auf dem Teppich.

Da gibt es nichts mehr zu glauben.

Du bist tot.


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20 Juli 2021

Zum Geburtstag meiner Tochter (2021)

Letztes Jahr haben sich zwei Zweien getroffen. Und ein Jahr ihre Verbindung als Zwilling gelebt. Das ändert sich ab heute, löst doch die Drei die zweite Zwei ab. Auf dem Weg durch den Verkehr des Lebens hat sich nun die Zwei nach vorne gesetzt und sitzt auf Steuer- und Beifahrersitz. Auf der Rücksitzbank hat es sich die Drei bequem gemacht, genug Platz für ihre beiden großen Busen.

Lustig ist die Fahrt und zwischendurch kommt von hinten Lachen und Gejohle, jetzt ist Kinder an die Macht zu hören, gebt den Kindern das Kommando tönt es dreistimmig.

Überhaupt, warum nicht auch mal tauschen? Die Drei beginnt zu quengeln, will auch mal vorne sitzen und lenken, sehr zum Verdruss der Zwei. Das Lachen verebbt, die Atmosphäre wird gespannt. Dann hat die Zwei eine Idee, „wir drehen das Auto einfach um, dann sitzt Du vorne, aber ich lenke immer noch“, versucht sie einen Kompromiss zu finden.

Nach kurzem Nachdenken willigt die Drei ein, denn egal wie die Führungssache ist, damit sind die beiden Zweiunddreißig und das kann sich doch sehen lassen. 

Nun hat die Drei auch noch einen guten Einfall: „Wir suchen uns ein anderes Pärchen, koppeln die beiden Autos und dann geht richtig die Post ab.“ Eine Dreiundzwanzig zusammen mit einer Zweiunddreißig: Das ist die Schnappszahl auf fünf.

„Juchhu,“ jodelt die jetzt wieder fröhliche Drei, „wir rocken das Leben“. Und ein wenig nachdenklich setzt sie hinterher: „Denk Dir nur, hätten wir das letztes Jahr gemacht, dann hätten wir auch eine Schnappszahl erreicht, aber nur die auf vier.“

„Mega,“ schließt die Zwei das Gespräch, „und das auch noch gerade im Jahr 2021, in dem unser Vater der Zahlen auch gerade fünfundfünfzig geworden ist - wenn das kein glücklicher Zufall ist.“

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16 Juli 2021

In der Traumwelt

Es ist schon spät, müde schlendere ich zum Bett, lege mich behutsam auf die weiche Matratze, die kuschelige Bettdecke und lösche das Licht. Du liegst neben mir, auch müde und im Halbschlaf tastest du nach meiner Hand, hältst sie und wir machen uns auf den Weg in eine andere Welt, die wir jede Nacht besuchen.

Noch sind die Gedanken nicht bereit, mich aus der Alltagswelt zu entlassen, der vergangene Tag geht mir genauso durch den Kopf wie der folgende; sind die Überlegungen am Anfang noch strukturiert, so kommen sie mehr und mehr durcheinander, bilden ein zunehmend chaotisches Durcheinander.

Gerade höre ich dich langsamer und gleichmäßiger atmen, du bist schon in der Traumwelt angekommen, „ich komme gleich“, möchte ich dir zurufen, aber das würde unsere Wanderung stören und so nehme ich deine Hand nur etwas fester und sehe jetzt den hellen Weg durch ein sonniges Feld vor mir, durch das wir spazieren gehen. Am Waldrand wird es dunkler, der Weg jetzt etwas saftiger bewachsen, nicht mehr so deutlich als Weg zu erkennen, dann noch etwas dunkler und die Geräusche ändern sich vom Zirpen der Grillen zu waldruhigem Knacken von Ästen, begleitet vom Wechsel der Gerüche hin zu einem feuchten, geradezu moderigen Waldpilzaroma.


Wir laufen weiter, immer tiefer in den Wald hinein und eine tiefe Entspannung legt sich über mich, jetzt wird auch mein Atem langsamer, die Gedanken entlassen die Verarbeitung der Vergangenheit und der Zukunft, nur du bist noch bei mir, im Wegdämmern spüre ich noch mal bewusst deine Hand, bevor ich eins werde mit dir und dem Wald und dem Boden.

09 Juli 2021

Die Fahrkarte


Ich habe sie in der Hand. Ganz fest. Ich kann sie in die Tasche stecken. Ich bin noch einige Kilometer vom Bahnhof entfernt. Es wäre kein Problem, den Zug einfach fahren zu lassen. Nennen Sie es Bequemlichkeit. In meiner Hosentasche drückt mich etwas. Ein kleines Stück harter Pappe drängt mich hin. Zu meinem Bahnhof.

Noch zwanzig Minuten.

Ein Bier, und er ist weg. Aber sie ist nicht weg. Ich könnte sie natürlich auch einfach vergessen.

Verlieren. So einfach geht es nicht. Mein Zug wird nicht ohne mich fahren. Ich stehe auf der Straße. Auf irgendeiner Straße in irgendeinem Viertel irgendeiner großen Stadt. Die Stadt mag mich nicht. Ich mag sie nicht.

Nein, ich mag sie wirklich nicht, und nur noch fünfzehn Minuten.

Irgendwoher kommt eine kleine Träne. Die Fahrkarte ist mehr als die Bezahlung für ein Transportmittel. Sie ist das Siegel unserer Trennung. Ich und die Stadt. Die Stadt und ich. Wir waren kein Traumpaar. Ein paar schöne Tage, gerade schön genug für eine Träne. Mehr wäre Verschwendung.

Noch zehn Minuten.

Noch kann ich umkehren. Mir fällt alles wieder ein, das Eis, das mir runtergefallen ist, das Kino, ganz dunkel in der letzten Reihe, die Spaziergänge und die unzähligen Fotos. Und immer warst du da.

Noch fünf Minuten.

Gewiss sind die Weichen schon gestellt. Nur noch einsteigen und alles vergessen. Nur sie, sie darf ich nicht vergessen. Wie ich das Bett gemacht habe, und das Licht, ja, das Licht habe ich angezündet. Nur ein paar Kerzen. Aber das Telefon hat nicht geklingelt und ich war einsam.

Ich steige ein. Ich weiß nicht, wohin erfährt, und ich glaube nicht, dass es einen Schaffner gibt, der dich sehen will. Der Zug rollt an. Du hast mich verlassen.
[02/1985]

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02 Juli 2021

Der wahre Grund für mein Schreiben von Blogs

Ich werde gelegentlich gefragt, warum ich eigentlich dauernd was in einen Blog schreibe. Dann erzähle ich von interessanten Ideen, die ich gerne teilen möchte. Weise auf intellektuelle oder gar literarische Fähigkeiten hin. Aber das ist natürlich glatt gelogen.

Der wahre Grund ist viel simpler. Da ich für einen Freizeitautor ziemlich fleißig schreibe, kommt einiges an Material zusammen. Das könnte ich nehmen und abheften, was mir aber nicht sicher genug ist. Dann gibt es die Alternative, es in eine Datencloud zu laden. Da bin ich skeptisch, denn die Wolken können auch mal regnen und weg ist das ganze Geschreibsel.

 Wodurch ich zu der Möglichkeit der Blogs gekommen bin. Sie unterscheiden sich zwar in der Leserschaft von der Datencloud (dort sind es Hacker und Geheimdienste, hier deutlich weniger „Follower“ mit zu viel Zeit). Aber sie sind ebenso sicher und ich verteile das Risiko des Vergessens nicht nur auf Computer-Festplatten, sondern auch auf mehrere Schultern. Meine Leser sind sozusagen unfreiwillig mein ausgelagertes Gedächtnis. Und das ist gut so, denn ich merke, wie ich im Laufe des fortschreitenden Alters immer vergesslicher werde.

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18 Juni 2021

Urlaubsgruß


Hallo, ich bin der oberste Stein am Ende der Brücke.

Ich bin so alt und stehe in der Mitte des Nichts

Und frage mich, wo ich anfangen soll.

Ich bin verloren, man hat mich verloren.

Irgendwann zwischen gestern und morgen, zwischen jetzt und gleich.

Irgendwann bin ich nicht mehr der Letzte.

Dann bin ich wieder da, wo ich angefangen habe.


Besuch mich doch mal.

[Brücke von Avignon, 2/1986]


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11 Juni 2021

Zeit

Wenn man aus dem Fenster sieht
Merkt man, dass sich viel verzieht
Die Zeit, der Raum
Man merkt es kaum
Und wenn auch meist nicht viel passiert
Man altert und ist irritiert
Dass sich so viel so schnell verändert.

Das ist auch weiter gar nicht fraglich
Das Wetter, mal schön, mal unbehaglich
Zieht auch dahin, wie ohne Ziel
Es ändert sich, doch nicht sehr viel
Und wenn länger mal die Sonne scheint
Dann wär‘s verrückt, wenn jemand meint
Dass dieses nun so bleiben müsste.

Nur bei der Zeit sind alle einig
Sie kommt und geht, sie hat‘s nicht eilig
Es sei denn, in den schönen Stunden
Ach je, was sind die schnell geschwunden
Doch wehe, muss man einmal warten
Hat keinen Kaffee, keine Karten
Dann sind Minuten Ewigkeiten.

Drum lasst mich dies zusammenfassen
Genießt die Zeit! Ihr könnt‘s zwar lassen
Doch wäre dies ein großer Irrtum
Denn allzu schnell vergeht der Reichtum
Den wir uns hier auf Erden sammeln
Und wenn wir dann vor Petrus stammeln
Da unten hab ich‘s doch zu was gebracht
Dann denkt euch nur, wie der wohl lacht
Das sind doch keine Plus-Einheiten.

Nun denn, ihr lieben Erdenwühler
Ich weiß, ihr seid gelehr’ge Schüler
Auch wenn das manchmal nicht so scheint
Wir sind und bleiben fest vereint
Im Geist, in Worten und in Taten
Wenn einstens wir durch Kübel waten
Die unten schon der Teufel heizt
Dann wisst ihr, dass die Seele beizt
Weil ihr doch manches schlecht gemacht.

Nur eines will ich euch noch sagen
Wer’s Leben liebt wird nicht verzagen
Und wenn wer meint, er könnt‘ es besser
So sag’ ich euch: Lasst diese Fresser
Lasst diese Säufer und Proleten
Mit ihnen geht’s wie mit Kometen
Auch wenn sie schön am Himmel steh‘n
Sie müssen doch so bald vergeh’n
Und länger währt die dunkle Zeit.

Das Leben scheint oft wie ein Traum
Es fliegt vorbei, man merkt es kaum
Doch ist’s zu guter Letzt zu Ende
Um uns herum vier schwarze Wände
Kein Fenster um hinauszusehen
Wie Zeiten kommen oder gehen
Ja, Zeit – spielt keine Rolle mehr.

04 Juni 2021

Lingerie when wet


Wie jeden Freitag treffe ich mich nachmittags mit Steffi zum Plaudern und gemütlichen Zusammensitzen. Heute ist auch ihre beste Freundin Judith mit von der Partie, sie hat ihren Freund Thomas mitgebracht. Auf dem etwas in die Jahre gekommenen Couchtisch steht das übliche Tea-for-two Gedeck, Tassen mit dem Aufdruck „ME“ und „YOU“. Für die zusätzlichen Gäste hast Steffi bei ihren Eltern noch ein paar Kaffeetassen stibitzt und dabei vermutlich in der Vitrine noch Kandiszucker entdeckt.

Jedenfalls sitzen wir so gut es geht zu dritt auf dem Zweisitzer, Thomas ist weitgehend im Sitzsack eben der Couch versunken. Er erzählt gerade ein Erlebnis aus der Schule, eine lustige Panne beim Sportunterricht heute. Der Referendar hat den Fosbury-Flop vorgemacht und zum Entzücken aller Mädchen ist sein T-Shirt dabei über seinen Sixpack hochgerutscht.

Judith weiß nicht so recht, was sie dazu sagen soll, eine Mischung aus Begeisterung und Verlegenheit lässt ihr das Blut in die Wangen schießen. Oder waren die Wangen schon vor der Geschichte gerötet? Sie beugt sich zu meinem Schwarm herüber, flüstert der Freundin was ins Ohr und schon springen die zwei auf und lassen Thomas und mich alleine zurück. Männerrunde. Wir schauen uns etwas überrascht an, Thomas wechselt zu mir auf die Couch und wir nutzen die Gelegenheit, um über die neuesten Schallplatten zu diskutieren.

Dann stehen die beiden Mädchen wieder genauso unvermittelt im Zimmer, wie sie verschwunden waren. Nur dass zwischendurch ziemlich viel passiert sein muss. Sie sind geschminkt, tragen Lippenstift und haben sich die offenen Haare zusammengemacht. Aber noch viel bemerkenswerter ist die Kleidung, denn nun haben sie nur noch leichte Strandkleidchen an und darunter – unübersehbar und geradezu aufreizend – hübsche Unterwäsche.

Die Überraschung ist den beiden geglückt, wir starren sie an wie von einem anderen Stern, mir schießen Begriffe wie Reizwäsche und Spitzenhöschen durch den Kopf. Stille, endlich durchbrechen die Mädchen die unangenehme Spannung, indem sie sich bei den Händen fassen und anfangen zu kichern. Jetzt müssen alle lachen, die Stimmung wird ausgelassen, Thomas und ich feuern das Paar an, das nun auf der anderen Seite des Couchtischs Polonaise macht, mit Drehungen und Posen.

Und dann seid ihr wieder weg. Als wäre es reine Einbildung gewesen, ist der Raum wieder leer. Ein zarter Duft von Parfüm liegt noch in der Luft, sonst keine Hinweise auf eure Anwesenheit. Wir warten noch einen Moment, ob die Tür wieder aufspringt und ihr zurückkommt, mit der nächsten Überraschung vielleicht? Aber sie bleibt zu, wir sind ein wenig enttäuscht, aber im Moment passiert einfach nichts mehr.

Es vergeht einige Zeit, bis Steffi wieder herein kommt, auch Judith ist dabei, ein Tablett in der Hand. Auf den Lippen sieht man noch Reste vom Lippenstift, auch die Mascara ist nur halbwegs verschwunden. Aber die Kleidung ist wieder alltäglich, kein Hinweis auf die Lingerie. Und mit Unschuldsmiene verteilt ihr Gläser mit Limonade und feiert vermutlich innerlich euren Mut und die gelungene Wirkung auf die beiden hin- und hergerissenen Jungs. 

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28 Mai 2021

Menschliche Begegnung


Der Duft nach gemähtem Gras. Gerade habe ich mit dem Bauern gesprochen. Vierzig Stück Vieh hat er, droben auf der Weide. (Schon eine einzige Kuh wäre zu viel in meiner Stadtwohnung.)

Und ob die glücklich wären, will ich wissen. – Glücklich? Jo, mei. Bin i a Kua? Mir lebens davon.

Ein anderes Verständnis von Tierliebe. Von Miteinander und Schlachtung.

Nein, Urlaub mache er nicht. Warum auch, er ist doch hier. 

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21 Mai 2021

private number

Es war gerade wie eine kleine Liebe am Rande. Aus dem Bilderbuch. Sie saß an der Bar und er hatte sich an einen Nachbartisch gesetzt. Zunächst war nichts passiert, aber dann hatte sie ihre Puderdose hausgeholt und ihn im Spiegel angeschaut. Sie hatte gelächelt. Er hatte ihr zugezwinkert, und als der Kellner weg war, setzte er sich zu ihr.

Sie unterhielten sich gut miteinander und er lud sie zum Essen ein. Sie sagte, sie könne leider nicht und gab ihm ihre Telefonnummer. Danach ging sie.


Er sitzt jetzt also da, alleine, und denkt über das Mädchen nach. Sie sieht gut aus, und er wird sie morgen anrufen, um sich mit ihr in einem kleinen Café zu treffen, in einem Séparée zu sitzen und dann mit ihr nach Hause zu gehen.

Sie hat ihm die falsche Telefonnummer gegeben. Seine kleine Königin wird sich nicht mit ihm treffen, sie wird nicht mit ihm nach Hause gehen. Sie wird ihm ein paar Tage den Kopf verdrehen und wird ihn in ein paar Wochen noch nicht einmal mehr interessieren. [02/1985]

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