05 November 2021

Aufbruch

Herbstkalte Luft. Ich sehe den Lufthauch vor meinem Gesicht, Schwaden meines Atems stehen in der Luft, kühl, unbewegt. Ob es dämmert oder den ganzen Tag schon so lichtarm war, kann ich nicht sagen, Straßenlaternen verbreiten ihr organgefarbenes Licht, tapfer durchdringt ihr Leuchten die Nebelschwaden.

Zum Berg hin ist der Weg matschig, der Regen der letzten Tage hat die Erde durchfeuchtet, das schüttere Gras ist glitschig und bietet den Schritten wenig Halt. Zur oberen Weide hin höre ich das Weidezaungerät, sein Klicken scheint das einzige Geräusch in diesem Stillleben. Ein ganz verhaltenes Gluckern mischt sich noch damit, kaum wahrnehmbares Abfließen des Wassers.

Talseits eine ruhige Idylle, postkartenkitschige Landschaft mit Kirche, die dem Zuschauer eine irreale Harmonie vorgaukelt. Dort wo ein paar Häuser zusammenstehen, geduckt seit Jahrzehnten unter der Last ihrer Dächer, der Erwartung an ihre Haltbarkeit, an den Schutz für die darin lebenden, auch ein Dorfplatz mit Baum, altmodischer Bank, ohne Blätter jetzt .

Noch mal ein tiefer Atemzug, vor meinem Gesicht eine Nebelbank, windstill schon den ganzen Tag muss ich mich bewegen, um wieder sehen zu können, was am Waldrand vor sich geht, denn unübersehbar traut sich gerade ein Rudel Rehe aus der Deckung. Sie haben mich nicht gesehen, können mich nicht sehen, scheu wie sie sind würden sie sonst im Dickicht bleiben, meinen neugierigen Blicken entgehend.


Ich schaue den Tieren zu, nicht bewegen jetzt, fast schon tastend suchen sich die Rehe den Weg entlang der Koppel, der Elektrozaun klickt, nicht für die Rehe, oh wehe, wenn sie daran kämen. Jetzt scheinen sie eine gute Stelle gefunden zu haben, lautlos die Verständigung zu bleiben und die Gräser des Feldes zu zupfen.

Ich fröstele, ziehe die Jacke vorne noch fester zu, neben dem Reisverschluss schlage ich noch den Gürtel über den Umschlag, stelle den Kragen hoch. Auf der anderen Seite der Szene kommt nun auch Bewegung ins Spiel, in der nun deutlich hereinbrechenden Dunkelheit ein Zehnender, kapitaler Bursche mit stolz erhobenem Kopf. Sorgfältig schaut er sich um, entdeckt die Rehe und zögert in der Bewegung bis offensichtlich eines der Rehe ihn entdeckt. Das ganze Rudel hat es nun mitbekommen, die Köpfe drehen sich zum Hirsch, Stillleben für den unbeteiligten Betrachter.

Doch jetzt Leben, sehr vorsichtig, der Hirsch senkt kaum merklich das Geweih, ist da vielleicht noch Leben hinter ihm, für mich nicht zu erraten, aber möglich wäre es, doch dann setzt er sich in Bewegung, ob die Rehe begrüßen oder vertreiben will erschließt sich weder mir noch dem Rudel, aber nach kurzem Abwarten drehen sich die Rehe, ruhig wenden sie sich von ihrer Weide ab und machen Anstalten, in den Wald zu verschwinden.

Der Hirsch beschleunigt den Gang, nein, hinter ihm kann ich keine weiteren Artgenossen erkennen, er ist allein und springt jetzt graziös über den Elektrozaun, um so den Rehen den Weg abzuschneiden, die wiederum auch vom gemütlichen Gang zu zunehmend weiten Sprüngen wechseln und auf den Wald zueilen.

Es sind nur Sekunden und die dunkle Wand hat zuerst die Rehe, dann den Hirsch verschluckt, Knacken des Unterholzes höre ich noch, zuerst recht vernehmlich, dann nur noch vereinzelt, schließlich gar nicht mehr. Einen Moment bleibe ich noch stehen, dann ist alles still, jetzt wage ich wieder zu atmen, die ferne Straßenlaterne versinkt vor meinen Augen im Atemnebel, es wird Zeit für den Heimweg.

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