30 Dezember 2022

Horrorskop 2023

Oft liest man in den Sternen ermutigende Botschaften, aber es gibt auch Sorgen und Ängste.

 Horrorskop 2023

Widder: Die Kriege gehen weiter

Stier: Alles wird teurer

Zwillinge: Im Alter einsam

Krebs: Verbreitete oder individuelle Arbeitslosigkeit

Löwe: Das Klima verändert sich

Jungfrau: Die Gesellschaft spaltet sich

Waage: Corona hat kein Ende

Skorpion: Es gibt vermehrt Terroranschläge

Schütze: Öfter Hungersnot, lokal und global

Steinbock: Unwetter und Starkregen

Wassermann: Es kommt zu neuen Pandemien

Fische: Wir sterben verarmt


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24 Dezember 2022

Stille Nacht in Engenhahn

Stille Nacht in Engenhahn
7:59 Uhr: Der Wecker springt an. Letzte Werbebotschaft kündet vom bevorstehenden Krippenfest. Die Nachrichten berichten von Energiepreiserhöhung und Weihnachtsgottesdiensten.
8:30 Uhr: Die Dusche bleibt kalt, weil eine Schmelzsicherung den Geist Gottes aufgegeben hat.
9:00 Uhr: Die Kinder Jonathan und Natalie haben aus der Bettwäsche Kostüme für den Weihnachtsmann gemacht. Die Gesichter sind mit Mamas sündhaft teurem Makeup über und über eingeschmiert und hinterlassen beim Toben auf dem hellen Ledersofa hässliche braune Spuren.
9:15 Uhr: WhatsApp von Tante Lisa, sie ist unterwegs und wird uns bei der Vorbereitung helfen. Unsere mehrfachen Ablehnungen ihrer desaströsen Handreichungen hat sie wie gewohnt ignoriert.
9:16 Uhr: Ich antworte Tante Lisa und schreibe ihr noch mal sehr deutlich, sie soll zu Hause bleiben.
9:19 Uhr: Meine Frau muss eingreifen, um den eskalierenden WhatsApp-Wechsel mit Tante Lisa wieder in den Griff zu bekommen.
9:56 Uhr: Ein Speditionslaster fährt auf der Straße vor und will uns 30 Weihnachtsbäume mit Express-Zuschlag liefern. Meine Frau beteuert ihr Unwissen, ich kann mich auch nicht an eine Bestellung erinnern. Inzwischen hat der Fahrer den Kran ausgefahren und lädt die Bäume auf den Bürgersteig. Erste Nachbarn sammeln sich, um das Schauspiel zu bestaunen.
10:03 Uhr: Bei der Zentrale der Speditionsfirma geht niemand ans Telefon, als Wartemusik läuft „Stille Nacht“, die Kinder begleiten die Musik aus der Freisprecheinrichtung mit schrägem Gesang und einer Plastik-Trompete.
10:15 Uhr: Der Laster ist wieder abgefahren, endlich geht eine überforderte Frau bei der Spedition ans Telefon und bestätigt die Lieferung. Rechnung sollte der Fahrer uns übergeben haben. Die Kinder singen immer noch „Stille Nacht“ und denken sich neue Strophen aus.
11:06 Uhr: Die Spedition ruft an, bei der Adresse hat es einen Fehler gegeben, falsche Postleitzahl und wir sollen die Bäume erst mal ins Haus holen, sie werden nach Weihnachten abgeholt.
11:30 Uhr: Tante Lisa trifft ein und bringt Onkel Helmut mit. Gemeinsam plündern sie die Bar und kommentieren wortreich den halbgeschmückten Weihnachtsbaum. Meine Frau versucht verzweifelt, die roten Christbaumkugeln von letztem Jahr zu finden, Kater Harry spielt mit den grünen Kugeln und wird von Jonathan am Schwanz durch die Wohnung gezogen.
11:37 Uhr: Natalie bekommt Hunger, Onkel Helmut sucht mit ihr nach Naschzeug zu seinem zweiten Rotwein. Dabei stolpert er über den Karton mit der Krippe und landet mit seinem Weinglas fluchend auf dem Teppich vor der Terrassentür.
12:00 Uhr: Zwei Nachbarn kommen vorbei und tragen die Weihnachtsbäume in die Diele. Ihr Rüde Hasso verängstigt unseren Harry so sehr, dass er sich mauzend in den Christbaum rettet. Dieser bekommt bedenkliche Schlagseite, erste Kugeln fallen herab und zerschellen auf dem Boden. Meine Frau versucht, den kippenden Baum aufzufangen und hat stattdessen den Kater im Arm. Natalie kommt schreiend ins Zimmer und läuft heulend auf Tante Lisa zu. Diese beruhigt sie mit einem Schluck Ramazotti und steckt ihr zerkrümelnde Salztstangen in den Mund.
12:45 Uhr: Die Szene beruhigt sich, der Baum steht wieder und die Nachbarn sind nach getaner Arbeit abgezogen. Als Dank haben sie sich an den Lebkuchen bedient, die für den Nachmittag aufgebaut waren. Die dunkle Stelle, an der Hasso auf den Läufer im Flur gepinkelt hat beginnt zu trocknen und der mit 28 Weihnachtsbäumen überfüllte Flur ist wieder einigermaßen passierbar.
14:30 Uhr: Opa Hanns will nun doch kommen und erwartet, dass er gleich abgeholt wird. Die Kinder sind begeistert, meine Frau schreit herum, weil wir keine Zeit für Transportdienste haben.
14:40 Uhr: Ich rufe meinen schwulen Freund Oskar an und bitte ihn, Opa Hanns abzuholen. Oskar windet sich, weil er seine Tage hat und sagt dann zu unter der Bedingung, dass er zum Abendessen bleibt und mit Jonathan und Natalie Weihnachtslieder singt.
15:20 Uhr: Tante Lisa ist übel, der Kaffee ist ihr nicht bekommen oder vielleicht sind es auch die Lebkuchen, jedenfalls krümmt sie sich und verlangt nach einem Arzt.
15:22 Uhr: Jonathan nimmt die Sache in die Hand und ruft beim Notarzt an, bevor ich ihm noch das Telefon aus der Hand reißen kann. Gerade kommt Onkel Helmut wieder in das Wohnzimmer und berichtet von einem Wasserschade auf der Gästetoilette.
15:23 Uhr: Während ich versuche, das Wasser abzudrehen hat meine Frau Tante Lisa so weit beruhigt, dass sie nun doch keinen Arzt braucht.
15:30 Uhr: Der Wasserschaden stellt sich als Verstopfung heraus, nachdem Tante Lisa sich übergeben hat und beim Nachspülen rollenweise Toilettenpapier in die Schüssel geworfen hat.
15:43 Uhr: Der Notarzt fährt vor und klingelt Sturm. Nachbarn schauen aus den Fenstern, einige Helfer von vorhin machen sich wieder auf den Weg zu unserem Haus.
15:50 Uhr: Es ist mir gelungen, den Notarzt und seinen Fahrer zu besänftigen, gegen ein kleines Trinkgeld und je einen Tannenbaum aus unserer Sammlung sind sie bereit, den Fehlalarm auf sich beruhen zu lassen.
16:10 Uhr: Oskar steht im Flur und bewundert die 25 verbliebenen Weihnachtsbäume. Er reserviert sich schon mal den schönsten und zeigt den Kindern, wie wundervoll es duftet, wenn man frische Tannenzweige über eine Kerze hält.
16:50 Uhr: Das Keyboard nebst Verstärker, Tiefbass und Mikrofon hat Oskar im Wohnzimmer aufgebaut, dafür musste er das Sofa auf die Terrasse schieben, er versichert mir, dass der Nieselregen dem Leder nichts ausmacht.
17:15 Uhr: Natalie will mit Tante Lisa die Baumspitze austauschen und bleibt mit dem Kleidchen in einem Zweig hängen, beim Lösen peitscht der Zweig in seine Ursprungslage zurück und schießt den an ihm hängenden Weihnachtsengel in die Glasvitrine, wo er seelig schlummernd zwischen den zerschmetterten Sektgläsern liegen bleibt.
17:58 Uhr: Der Rauchmelder im Kinderzimmer schlägt Alarm, nachdem Jonathan einen Tannenbaum mit dem Heißluftföhn erwärmt hat und der in Flammen steht.
18:01 Uhr: Ich hole einen Feuerlöscher aus dem Keller und stoße im Treppenhaus auf drei Nachbarn, die mir mit Bierflaschen zur Hilfe eilen wollen. Gemeinsam kämpfen wir uns durch die 21 Bäume zum Kinderzimmer vor, das Löschpulver verwandelt Kinderbett und Schreibtisch in eine romantische Schneelandschaft.
18:08 Uhr: Opa Hanns hat sein Hörgerät vergessen und bittet Oskar, die „Stille Nacht“ lauter zu spielen. Die Bässe von Oskars Lautsprecheranlage lassen das Haus erzittern, Harry flüchtet wieder auf den Tannenbaum, der erneut Schlagseite bekommt und Kugeln abwirft.
18:29 Uhr: Ein Vertreter des örtlichen Tierschutzvereins steht vor der Tür und wirft uns Tierquälerei an unserer Hauskatze vor. Nach Spende von 5 Weihnachtsbäumen für den Clubraum scheint ihm der Kater doch in guten Händen und einen Ramazotti mit Tante Lisa später wankt er gut gelaunt aus dem Haus.
18:45 Uhr: Unbemerkt ist meine Cousine Marie gekommen und verteilt aufgetakelte Weihnachtsgeschenke unter dem Christbaum, der nach seinem Kugelverlust inzwischen ein wenig schütter wirkt. Wie durch Zufall reißt ihr die Verpackung eines monströsen Bildes ein, auf dem sie nackt in erotischer Pose zu sehen ist.
18:53 Uhr: Onkel Helmut hat das Bild entdeckt, noch mehr vom Geschenkpapier entfernt und fummelt jetzt an seiner Hose herum. Tante Lisa nimmt die Kinder bei Seite und schenkt allen zur Ablenkung einen Prosecco ein.
19:05 Uhr: Eine Prozession vom Musikverein zieht mit Blasinstrumenten durch die Straße, intoniert „Stille Nacht“ und lässt sich in jedem Haus mit Getränken und Gebäck versorgen. Als Polonaise kommt die Kapelle auch durch unsere Wohnung und arbeitet sich grölend und jauchzend durch den Flur mit seinen 14 Weihnachtsbäumen.
19:20 Uhr: Oskar spielt auf Wunsch der Kinder „Stille Nacht“ und übertönt damit die Geräusche, die aus dem Schlafzimmer kommen, in das sich Onkel Helmut mit Marie verzogen haben.
19:30 Uhr: Meine Frau hat in der Küche die Häppchen mit Forelle fertiggemacht, unbemerkt legt sich Harry davon einen Vorrat im Katzenklo an und verteilt das Streu darüber. Ich versuche die nicht benötigten Kisten mit Baumschmuck und die Leiter wegzubringen, kann aber nicht am Sofa vorbei, dessen kurzes Teil nun wieder im Wohnzimmer steht, nachdem Opa Hanns es in zwei Teile zerlegt hat.
19:50 Uhr: Alle versammeln sich zum Familienfoto im Flur, jeder hat eine von den 9 Nordmanntannen im Arm. Oscar versteckt sich hinter seiner Tanne und postet das Foto auf Instagram und WhatsApp mit dem Hinweis auf seine Homo-Weihnacht bei Heteros, worauf ein Shitstorm losgeht, der meine Frau und mich als schwulenfeindliche Spießer brandmarkt.
20:23 Uhr: Der Ortsvorsteher schaltet sich in die Social-Media-Schlacht ein und versucht mit beschwichtigenden Worten unsere Reputation wieder herzustellen. Erst als ich anbiete, dass wir unsere Tannen in das Bürgerhaus bringen und Oscar dort „Stille Nacht“ spielen darf ebbt der verbale Sturm ein wenig ab.
21:04 Uhr: Natalie ist müde und will nun doch keine Bescherung mehr, nachdem sie den Eisbecher mit Tante Lisas Eierlikör aufgegessen hat. Jonathan beginnt seine Schwester abzuknutschen und erzählt lauthals, was Helmut und Marie in unserem Bett gemacht haben.
21:06 Uhr: Ich spüre ein unkontrolliertes Zucken im Gesicht, meine Hände fühlen sich taub an und vorbei am nahezu kugelfreien Baum im Wohnzimmer wanke ich auf Opa Hanns zu, der sich zu einem Cognac eine dicke Havanna angesteckt hat und damit die Luft verpestet.
21:08 Uhr: Tante Lisa macht Onkel Helmut eine Szene und verlangt sofortige Wiedergutmachung, Oscar klatscht Beifall und meine Frau holt hektisch Mantel und Jacke für die beiden Verwandten. Keifend ziehen sie sich an und verlassen wankend das Haus, nicht ohne die Nachbarn noch mal über die zahlreichen Verfehlungen der Vergangenheit aufzuklären.
21:35 Uhr: Die Kinder spielen Verstecken, dabei bricht ein Boden im Vorratsschrank unter Natalies Gewicht zusammen, so dass der darunter stehende Rumtopf umfällt und seinen Inhalt im Raum verteilt. Harry ist sofort zur Stelle und schleckt die alkoholische Flüssigkeit auf, während sich Jonathan über die Kirschen hermacht.
21:55 Uhr: Ruhe legt sich über unsere Wohnung, nachdem Oscar zum Bürgerhaus gezogen ist, Marie einen Nachbarn abgefangen hat und mit in sein Haus schlendert, die Kinder eingeschlafen sind und Opa Hanns leise vor sich hinsummt zur „Stille Nacht“, die aus dem Bürgerhaus zu uns herüberweht.

11 Dezember 2022

Silberhochzeit in vier Strophen

Silberhochzeit in vier Strophen
Morgens, wenn der Wecker geht
Neben mir im Bett die Frau
Meine Träume sind verweht
Draußen wird der Himmel blau.

Ich will dich
kitzeln, kribbeln, kratzen, kraulen, kneifen, küssen, kosen, knutschen, kokettieren, 
Doch erstmal geht’s weiter.

Mittags mach ich eine Pause
Essen steht für mich bereit
Und ich fühl mich wie zuhause
Leckereien jederzeit

Ich will dich
anlachen, anmachen, anfassen, abknutschen, abtasten, anrühren, aufwühlen, 
Doch erstmal geht’s weiter.

Feierabend ist in Sicht
Letzte Mails sind zu verschicken
Gleich beende ich die Pflicht
Und die Kür kann mich beglücken 

Ich will dich
streicheln, schnäbeln, schmusen, spielen, streiten, scherzen, schöntun, schäkern,
Doch erstmal geht’s weiter.

Abend ist es, fast schon Nacht
Arbeit lass ich heute ruh‘n
Tagesarbeit ist gemacht
Lass uns etwas Schönes tun.

Ich will dich
erregen, entfachen, entflammen, entfesseln, ergreifen, erwecken, entzünden, erfreuen,
Jetzt passt es.

Und seit 25 Jahren will ich
Mit dir alt werden


02 Dezember 2022

Adventskalender in Zahlen

Advent
Eins sage ich Dir

Zwei Seiten hat jede Medaille

Drei mal Null ist Null

Vier Wände bilden den Traum vom Eigenheim

Fünf Sinne besitzt jeder Mensch

Sechs in der Schule ist ungenügend.

Sieben Leben wie eine Katze

Acht Brücken führen in Köln über den Rhein

Neun Monate dauert der Krieg in der Ukraine nun schon

Zehn Finger hat der gesunde Mensch

Elf Freunde müsst ihr sein

Zwölf Sternbilder kennt die Astrologie

Dreizehn gilt als Unglückszahl

Vierzehn Stationen hat der Kreuzweg

Fünfzehn Jahre seit der Erfindung von Youtube

Sechzehn ist die Basis des Hexadezimalsystems

Siebzehn finden Mathematiker lustig

Achtzehn und endlich volljährig

Neunzehn Engel bewachen die Hölle (Islam)

Zwanzig Prozent auf alles – außer Tiernahrung

Einundzwanzig ist die halbe Wahrheit (von 42)

Zweiundzwanzig Buchstaben hat das hebräische Alphabet

Dreiundzwanzig Chromosomenpaare hat der Mensch

Vierundzwanzig Stunden machen einen Tag


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25 November 2022

Dichter, Denker, Aktivistin

Sie setzt sich einfach neben mich auf die Parkbank. Ob ich auch dagegen wäre? "Wogegen?" "Na, gegen den Klimawandel, die Erderwärmung, die Energiekosten, dagegen halt." "Ja, nein… also… egal." Ich will eigentlich nur mein Buch weiterlesen, nicht von einer Aktivistin belatschert werden. Doch so einfach ist das nicht.
"Wie kann einem das egal sein? Die Globalisierung geht voran, die Wirtschaft macht einfach weiter und bezahlt, aber es passiert nichts."
Sie ist Mitte zwanzig, mittelgroß, dunkelblonde Haare, sportliche Figur und intelligente Augen. Über der Jeans trägt sie eine robuste Jacke, für Outdoor geeignet. Insgesamt wirkt sie ein bisschen außer Atem, jetzt sehe ich auch die roten Kratzer an ihrem Kopf und auch an der Hand scheint sie sich verletzt zu haben.
"Also gut, ich bin dagegen." "Und da sitzt du hier herum und liest ein Buch?" "Ja." "Wir müssen demonstrieren, zeigen, dass es so nicht weitergehen darf. Die Menschen wachrütteln." "Nein, ich muss nicht demonstrieren." "Wer nichts macht, macht sich mitschuldig."
Langsam finde ich die Sache lästig. Nicht, dass mir die desolate Lage einerlei wäre, aber weder will ich mich unter wildgewordene Menschenmassen mengen oder mich auf die Straße kleben, noch möchte ich in Diskussionen mit Sendungsbewussten verstrickt werden.
"Wissen Sie," (ich wähle bewusst die Sie-Form) "es gibt unbeschreiblich viel Elend, viel Kritikwürdiges, viel Ungerechtigkeit. Und gegen jeden dieser Punkte kann man demonstrieren, aber eben nicht gegen alles." Sie lässt nicht locker: "Was bist du selbstgefällig und träge und überlässt den unangenehmen Teil anderen Leuten. Wenn wir alle so drauf wären, würden wir noch im Mittelalter leben." "Was vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Kann ich jetzt bitte weiterlesen?"
Meine unerwünschte Nachbarin ist noch auf Krawall aus, vermutlich kommt sie gerade von irgendeiner Kundgebung oder Versammlung oder Demo und muss jetzt ihre ganze Energie loswerden. Vorzugsweise an mir. "Du kannst bald nicht mehr weiterlesen, dann gibt es keine Bücher mehr." "Warum das jetzt schon wieder?" "Weil Bücher klimaschädlich sind." "Wer erzählt solchen Blödsinn?" Langsam werde ich sauer, habe weder auf das Gespräch noch auf die Halbwahrheiten Lust. "Habe ich gelesen und es gab einen Bericht dazu im 'Monitor'. Die haben die Ökobilanz von Büchern untersucht. Da staunst du!"

Dichter, Denker, Aktivistin
Nein, ich staune nicht und auch wenn ich in ihren Augen ein lahmer Spießer und Demo-Verweigerer bin: Meine Mittagspause hatte ich mir anders vorgestellt. "Wissen Sie", fange ich wieder an, komme aber nicht weit, weil jetzt von der Seite eine kleine Menschenmenge gezogen kommt. Sie sehen alle leicht angeschlagen aus, haben wohl eine anstrengende Auseinandersetzung hinter sich. Gerade entdecken sie uns auf der Bank, schwenken zu uns herüber und stehen vor uns. "Mensch Sonja, wir wussten eben nicht, wo du warst, plötzlich weg und die anderen Arschlöcher hinter uns her." "Nein, alles gut. Ich habe versucht, den Mann hier zu bewegen. Mal ein bisschen an unseren ökologischen Fußabdruck zu denken und den Hintern hoch zu kriegen. Irgendwie kapiert er nicht, dass Bücherlesen nicht hilft." Angesichts der Übermacht halte ich mal lieber den Mund, auch wenn ich ganz anderer Meinung bin.
Und dann habe ich Glück, denn "Komm, ist egal jetzt, der Kerl wird es auch noch raffen und wir müssen weiter."

Noch ein wenig in Gedanken lege ich das Buch zur Seite, schaue dem abziehenden Trupp nach und frage mich, ob ich selbstgefällig und träge bin und den unangenehmen Teil anderen Leuten überlasse.

17 November 2022

Bandwurm in XML

An Tagen wie diesen schlängeln sich meine Gedanken wie ein ganz langer Wurm durch wechselnde Themen. Einzige Chance, sie als Extensible Markup Language zu strukturieren. Etwa so:
Bandwurm in XML
<Bandwurm>
So-stand-ich-heute-Morgen-beim-Zähneputzen-vor-dem-Spiegel-und-fragte-mich-,-was-der-Tag-bringen-würde.
<Arbeit>
Zuerst-kam-mir-die-Arbeit-in-den-Sinn-,-die-Mailbox-nach-meiner-Abwesenheit-letzte-Woche-noch-nicht-ganz-abgearbeitet.
Immerhin-(-so-fiel-mir-ein-)-hatte-ich-mich-durch-die-meisten-Nachrichten-durchgearbeitet-und-hatte-gute-Chancen-heute-fertig-zu-werden.
</Arbeit> 
<Privatmail>
Von-der-Mailbox-schweiften-die-Gedanken-weiter-zu-meinen-privaten-Mails-und-neben-den-angenehmen-Kontakten-erinnerte-ich-mich-an-das-Finanzamt.
</Privatmail> 
<Steuer>
Dieses-Jahr-durch-Zensus-und-Grundsteuer-zusätzliche-lästige-Formulare-zum-Teil-in-Papierform-,-zum-Teil-elektronisch.
<Passwort>
Tja-,-seufze-ich-,-wo-mag-nur-das-Passwort-für-Elster-sein-,-und-überhaupt-wo-habe-ich-die-Zugangsdaten?
</Passwort>
<Vergesslichkeit>
Diese-Vergesslichkeit-beschäftigte-mich-wie-gesagt-schon-beim-Zähneputzen-und-verfolgte-mich-noch-während-der-Rasur.
</Vergesslichkeit>
Wenn-ich-schon-die-Unterlagen-für-die-Grundsteuer-heraussuchen-muss-kann-ich-auch-gleich-die-Unterlage-für-die-Steuererklärung-mit-suchen.
</Steuer>
<Kleidung>
Noch-grübelnd-ziehe-ich-mich-an-,-zurück-zum-Arbeitstag-gibt-es-heute-Besprechungen-zu-denen-ich-mich-in-Schale-werfen-muss?
</Kleidung>
<Frühstück>
Treppe-runter-in-die-Küche-an-den-Kühlschrank-lenkt-meine-Gedanken-auf-das-Frühstück-,-ist-noch-Müsli-da-und-Obst?
</Frühstück>
<Einkaufsliste>
Geschwind-die-Einkaufsliste-ergänzen-,-war-da-nicht-gestern-Abend-irgendetwas-zur-Neige-gegangen?
Beim-Anschauen-des-Spielfilms-(-wie-hieß-er-noch?-)-hatten-wir-doch-Salzstangen-und-Nachos-geknabbert.
</Einkaufsliste>
<Arbeit2>
Derweil-haben-mich-meine-Füße-zum-Schreibtisch-gebracht-,-der-PC-ist-gestartet-und-die-Gedankensprünge-werden-kürzer.
</Arbeit2>
Jetzt-konzentrieren-,-Themen-bündeln-und-behutsam-in-der-Arbeitswelt-ankommen.
</Bandwurm>

11 November 2022

Wiedersehen

Mensch, Wolfgang, altes Haus, wie geht es Dir denn so? – Mein Gegenüber schaut mich etwas irritiert an: Sollten wir uns kennen? – Klar, wir waren zusammen in der Ferienfreizeit, als Jugendliche, damals hast Du wie ein Wilder Fußball gespielt und am Ende ist eine Fensterscheibe in der Herberge zu Bruch gegangen. – Daran kann ich mich nicht erinnern, Fußball war auch nie so meine Leidenschaft. Ich glaube, Sie verwechseln mich. – Doch, doch, das musst Du doch noch wissen, wie wir damals im Bus mit Kaugummis Muster auf den Vordersitz geklebt haben. Und dabei erwischt worden sind. – Ähm, wirklich, das hört sich alles recht abenteuerlich an, aber mit mir hat es nichts zu tun. Obendrein heiße ich auch nicht Wolfgang. – Nicht Wolfgang? Dann habe ich den Namen falsch im Gedächtnis, aber Dein Gesicht… die Mädchen waren doch ganz verrückt danach, auf Deinem Schoß zu landen und Dir in den Haaren zu wuscheln. – Also, das kann ich mal bestätigen, mit Mädchen lief es ganz gut. In der Mitte der Jugend war es eine einzige Knutscherei. – Und heute, was machst Du heute? – Reisebranche. Immer unterwegs, Beratung von Geschäftskunden und Organisation von Incentives. – Mensch, wie cool, rumkommen und dafür auch noch bezahlt werden, das muss doch ein Traum sein. Was hast Du denn dafür studiert? – Der Mann, der nicht Wolfgang heißt schaut mich etwas verlegen an, gar nichts.

Ich bin der Chemie treu geblieben, wie damals immer ein Reagenzglas in der Tasche, haha, es gibt noch viel zu erforschen und viel zu erleben. Nicht nur bei Frauen, stimmts? Wir sind inzwischen am Ende vom Bahnhof angekommen, mein Kumpel biegt ab und: War schön, Dich wiedergesehen zu haben. Wir sollten mal ein Bier trinken rufe ich ihm nach, heute Abend suche ich mal die alten Fotos raus und dann fallen mir auch noch ein paar Geschichten ein.
Wiedersehen


03 November 2022

Farbenfroh und geräuschvoll

Farbenfroh und geräuschvoll
Grün die Wiesen
Dunkelgrün der Wald
Blau der Himmel
Weiß die Wolken
Golden die Sonne
Grau das Bauernhaus
Braun die Scheune
Schwarz der Rauch
Rot das Feuer

Zischend die Flammen
Knackend die Balken
Ächzend der Dachstuhl
Schreiend die Bewohner
Grunzend die Schweine
Rufend die Feuerwehrleute
Schluchzend die Kinder
Wiehernd die Pferde
Still die Landschaft

Rauchende Trümmer
Verendete Tiere
Durchnässter Boden
Erschöpfte Menschen
Zerstörtes Gebäude
Verbrannte Ernte
Verheulte Bewohner
Untergehende Sonne
Gott Lob, das Wohnhaus steht noch.

28 Oktober 2022

Der Wanderer

Am Horizont taucht eine Staubwolke auf. Ein Feldweg führt den Blick zu der Wolke, abgefahren, tiefe Reifenspuren. Rechts und links flache Landschaft, Felder, so platt wie Wüste. Und staubig.

Der Punkt wird langsam größer. Wenn man sich von dem Weg nach rechts wendet, kann man hinter dem Flachland ein paar Bergzüge erkennen. Noch weiter rechts nimmt der Bergrücken an Höhe ab. Die Wüste schließt sich nahtlos an. Man sieht keinen Übergang, der Staub verwischt alles. Die Berge, oder besser die Hügelkette bilden die einzige Erhebung von der Wüste, so weit das Auge sehen kann.

Die Sonne kommt etwa aus Süden. Sie führt einen erbarmungslosen Kampf gegen das Lebewesen, das langsam in seinen Umrissen erkennbar wird.

Die Sonne wird langsam weiterwandern, Richtung Westen. Dabei muss sie die staubige Landstraße noch überqueren; vielleicht ist der Mann hier, bevor die Sonne über dem Weg steht. Vielleicht auch nicht. Ein Wettlauf.

Der Mann ist in weißes Leinen gekleidet. Der Anzug verschwitzt und dreckig. Auf seinem Rücken trägt er einen Sack, auch Leinen. Er ist noch etwa einen Kilometer entfernt, aber alles ist genau erkennbar.

Wendet man sich nach links, kann man in der Ferne ein Gewässer vermuten, den Cold Lake. Vor vielen Jahren hat einmal einer versucht, dort ein Haus zu bauen. Die Zivilisation hat ihn eingeholt. Hieran erinnern nur noch die Telegraphenmasten, die den Weg begleiten, auf dem der Mann jetzt kommt.

Er ist noch einen halben Kilometer entfernt, die Sonne steht fast über dem Weg, in wenigen Minuten wird sie genau von hinten kommen, die Schatten der Telegraphen bilden dann eine lange Reihe, das Auge verliert den letzten Halt.

Den Weg haben damals die Siedler genommen, weil er eine gute Verbindung zum fruchtbaren Land darstellte. Heute kommen nur noch selten Leute.

Der Mann in dem verschwitzten Anzug ist auf hundert Meter herangekommen. Man kann seine scharfen Gesichtszüge erkennen, die kleine, harte Nase, vom Wetter gegerbt. Er hat Sandalen an, bei jedem Schritt fliegt der Staub aus den Schuhen heraus, beim Abheben der Füße wird er wieder eingesogen. Die Haare liegen strähnig und wirr auf seinem Kopf, Pflege brauchen sie nicht, sie scheinen überflüssig zu sein.

Die Sonne wird es schaffen. Er hat noch fünfzig Meter zu gehen, sie hat ihren Platz fast erreicht. Vielleicht ist er aber doch vor ihr da.

Den Mann und mich trennen zehn Meter, die Schatten bilden eine Reihe. Er schaut auf den Boden und von Zeit zu Zeit in die Ferne, als wolle er den Weg abschätzen. Vor ihm liegt, was hinter ihm liegt, bis auf die Sonne.

Er sieht nicht auf, als er an mir vorübergeht, er schleppt seine Schritte vorwärts. Ich folge ihm mit den Augen. Die Sonne brennt ihm jetzt genau auf den Rücken. Von hinten ist sein Anzug noch dreckiger, ein Schweißfleck läuft über seinen Rücken, nur unterbrochen durch den Riemen des Beutels.

Der Wanderer

Er ist schon wieder einen halben Kilometer entfernt. Er geht seinen Weg ohne schneller oder langsamer zu werden, ohne die Richtung zu ändern, ohne…

Die Schatten lösen sich voneinander. Sie zeigen jetzt einen angedeuteten Sägezahn, an dem der Mann entlanggeht, so, dass er sich nicht schneiden kann. Langsam legt sich der Staub wieder, den der Wanderer aufgewirbelt hat. Er ist schon ziemlich weit entfernt, er wird langsam eins mit dem Horizont, der den kleinen Punkt verschluckt.

Die Straße kennt das. Ihr Staub verklebt jeden, die Telegraphen begleiten jeden, die Sonne versucht ihr Wettrennen mit jedem. Und am Schluss verschluckt der Horizont jeden.

Ich sehe, wie der Wanderer verschwindet, eins wird mit der flimmernden Ebene, aus der nur die Telegraphenmasten herausragen.

21 Oktober 2022

Lebenskünstler

Das war Oli. Er kam einfach rein, setzte sich, guckte vergnügt in die Runde und wartete darauf, was jetzt passierte. Nein, ließ er uns wissen, die Anreise sei gar nicht bequem gewesen. Anzusehen war ihm das allerdings nicht, er strahlte bei dieser Aussage über beide Backen. Wann es losginge, sein Leben ein einziges Erlebnis, dies hier jetzt auch. Wo er denn überhaupt gelandet sei, wir schauten alle aus wie die anonymen Alkoholiker oder vielleicht eher wie Paartherapie.

Letzten Sommer – oder war es das Jahr davor gewesen – erinnere er sich an seine Reise nach Rom, den Heiligen Vater einmal persönlich sehen. Davor in Singapur und Hongkong, Asien sein Favorit, aber auch Deutschland habe viel zu bieten. Ein Haus, das wäre schon schön, aber am Ende doch ein Klotz am Bein. So wie eine feste Beziehung, erläuterte er uns voller Inbrunst.
Das Wichtigste ein gesunder Schlaf, den dürfe man sich nicht nehmen lassen. Ob bei der Rucksacktour oder im Steigenberger. Ob uns klar wäre, dass wir über ein Drittel unseres Lebens verschliefen wollte er wissen und ob wir heute ausgeschlafen wären. Er jedenfalls hatte den Wecker ausgeschaltet, noch mal rumgedreht.

Rausschauen wäre aber auch wichtig. Immer schön aus dem Fenster sehen, die Sonne heute so hell und strahlend. Oh Gott, und dann die Verpflegung: Seine Tasche heranziehend hatte er auch schon eine Wasserflasche in der Hand. Die Stulle für später. Aber nicht für die Arbeit, die macht er auch, gar nicht faul, aber so und dann, wenn es ihm passt. Im Moment mache er ein Sabbatjahr, demnächst gehe es dann weiter.

Ach was, Kinder jetzt nicht, das hat Zeit. Lieber mit seiner Freundin in die Sauna, auch heiß und so entspannend. Das wäre auch was für uns, Stille, zischender Aufguss. Und erst die kalte Schwallbrause danach. Eine Runde schwimmen und ganz schnell ins Bett, wo es weitergeht. Das würde doch jeden Tag abrunden, Rotwein oder doch lieber Weißwein? Er wolle jetzt mal in die Runde fragen.

Aufstehend greift er nach seiner Tasche. Zeit für eine Pause nun, bei dem Wetter wäre Herumsitzen die reinste Verschwendung. Ach, wir wären so ruhig, carpe diem sein Motto wie im Club der toten Dichter. Große Pläne für die Zukunft stehen nur im Weg, jeder Tag ein Erlebnis, das es zu feiern gelte.
Der Tür entgegen, mit wenigen Schritte. Sein Blick noch mal auf uns, neugierig, wie exotische Kreaturen im Zoo.

14 Oktober 2022

Steffen baut ein Haus

Steffen baut ein Haus
Graben und graben und graben.
Schotter rein, Split rein, Beton rein.
Stein auf Stein. Stein auf Stein. Stein auf Stein.
Brüstung und Sturz und Mauer hoch.
Balken, Balken, Balken.
Dämmung unten, Dämmung außen, Dämmung oben.
Fenster vorn, Fenster hinten, Fenster seitlich.
Rohre rein, Rohre kreuz, Rohre quer.
Kabel hier, Kabel dort, Kabel bündeln.
Estrich rein und Putz drauf und Spachteln.
Fliesen grau, Fliesen hell, Fliesen dunkel.
Wasser und Strom, Wasser. Strom.
Wände glatt, Wände schön, Wände streichen
Möbel rein, mehr Möbel, restliche Möbel.

Steffen ist drin.

07 Oktober 2022

Eines Tages war da dieser Kopfschmerz

Eines Tages war da dieser Kopfschmerz
Eines Tages war da dieser Kopfschmerz
plötzlich gekommen. Als er auch nach ein paar Tagen nicht wegging, war ich zum Arzt gegangen, der mich dann untersuchte und nichts fand. Zwei Tage später war der Schmerz weg. Erst nach Wochen dachte ich wieder daran, als er plötzlich wieder da war, ohne Vorwarnung, ohne Anlass. Ich fuhr zu einem Spezialisten, der mir von Freunden empfohlen wurde, und auch dieser untersuchte mich sehr genau, machte ein ernstes Gesicht und erklärte mir, dass ich damit in Zukunft öfter zu rechnen habe. Er sagte auch, dass das am Anfang ganz normal sei und verschrieb mir Tabletten, die furchtbar schmeckten und nur nach Überdosierung den Schmerz linderten.

Ich fand heraus, dass die Wirkung der Tabletten sich mit einem Glas Wein oder Sherry steigern ließ, und so nahm ich bald jeden Abend meine Medizin, was nötig wurde, da der Schmerz nun mein steter Begleiter wurde. Manchmal, wenn es ganz arg war, nach ich auch tagsüber eine von den Tabletten mit einem Schluck Rotwein aus einer Flasche, die ich in meinem Schreibtisch deponiert hatte. Als ein Kollege dahinterkam, dass ich nach der Einnahme meiner Medizin zwar schmerzfrei aber auch arbeitsunfähig war und drohte, meinen Chef zu verständigen, nahm ich sie nur noch heimlich.

Ich ging auf die Toilette und spülte sie mit Schnaps hinunter, den ich im Flachmann stets mit mir führte. Doch die Heimlichkeit stresste mich, die Wirkung der Tablette ließ nach und ich musste zwei nehmen oder sehr viel Alkohol trinken, um einigermaßen schmerzfrei zu sein.

Ja, und irgendwann saß ich dann mit geöffneten Augen aber jeden Gedankens unfähig an meinem Schreibtisch, als mein Chef hereinkam. Es gab keine lange Diskussion, er bedeutete mir nur sehr klar, dass das nie wieder vorkommen dürfte. Natürlich kam er jetzt öfter in mein Büro, was mich wieder stresste und zu einer Erhöhung der notwendigen Dosis führte. Fast war ich froh, als er mich endlich hinauswarf.

Jetzt sitze ich zu Hause, den Spezialisten, bei dem ich in Behandlung war, wollte meine Krankenkasse nicht mehr bezahlen, mein Hausarzt darf mir meine Tabletten nicht verschreiben. Manchmal denke ich, er ist weg, aber er ist nicht weg, er wartet nur diskret im Hintergrund, bis ich wieder nüchtern bin, um sich wieder auf mich zu stürzen und mich zu quälen, bis ich ihn dann nicht mehr fühle, nichts mehr fühle außer der Schwere meiner Beine, die ich hochlege, wenn ich ins Bett gehe. Meine Freunde kommen jetzt seltener zu Besuch, schon mal rufen sie an und sagen, wie entsetzlich leid ich ihnen tue.

Letzten Monat bin ich eines Morgens auf der Toilette aufgewacht, ich hatte wie so oft erbrochen und mechanisch das Fenster geöffnet. In der ganzen Wohnung stank es nach Gas und ich wusste, ich hatte versucht, mich umzubringen und war nur durch einen Zufall meinem eigenen Mordanschlag entgangen. Das war der Tag, an dem ich mit einem Hammer alle Flaschen in der Badewanne zertrümmerte, die ich finden konnte, nur damit ich mich nicht wieder besaufen und doch noch umbringen konnte. Ich setzte meinen ganzen Willen ein und sagte mir, dass mein Körper erfahren müsste, dass ich immer noch Gewalt über ihn hätte. 

Mein Körper hat mir dann gezeigt, dass er stärker ist, meinen Willen in einer wochenlangen Schmerzperiode gebrochen und deshalb werde ich heute Abend das Bad abschließen und den Hahn aufdrehen. Der Hausarzt hat mir gesagt, er lässt nach, bald, sehr bald. Aber der Kopfschmerz ist nur die Vorwarnung, Ausdruck des Kampfes, den mein Körper verzweifelt führt und der doch nicht zu gewinnen ist, weil das Immunsystem zerfällt und sobald es dann zerfallen ist und den Kampf aufgibt gegen meine Schmerzen, dann fühle ich bald nichts mehr, gar nichts mehr.

Ich könnte in ein Krankenhaus, hat der Arzt mir gesagt, aber ich will nicht, solange ich kann, will ich selbst bestimmen und heute Abend feiere ich ein letztes Mal, um dann mein angesammeltes Wissen und meine Erfahrung zu vernichten mit einer Handbewegung.

Hauptsache, diese letzte Sache ist schmerzlos.

30 September 2022

Wie heißt Du noch mal?

Wie heißt Du noch mal
Ich muss mich jetzt konzentrieren, um die Geschichte einigermaßen korrekt zu rekonstruieren. Ganz nüchtern war ich nicht, aber auch nicht so betrunken, dass ich mich nicht mehr an die Szene erinnern könnte.

Aus dienstlichen Gründen musste ich mal wieder einen Vorabend und eine Nacht im Hotel verbringen, der Reiz, den diese Reisen früher für mich gehabt hatten, war längst verflogen. Ein weiteres Hotel, ein anderer Ort, eine austauschbare Fußgängerzone in einer uniformen Stadt – alles schon zu oft gesehen.
Auch die Hotelbar kam mir bekannt vor, obwohl ich sie nie zuvor betreten hatte. Zumindest war mein Cocktail anständig und der Barkeeper spendierte mir freiwillig ein Schälchen Knabberzeug. Es war nicht viel los hier, ein paar Tische besetzt, vorwiegend mit Paaren, die Urlaub verbrachten oder sich auf der Durchreise befanden.

Ebenfalls an der Bar, aber ein paar Stühle von mir entfernt eine Frau Ende vierzig, lange dunkelblonde Haare, schlank, Jeans über Turnschuhen, dazu ein blauer Pulli. Das Gesicht mit blaugrauen Augen ungeschminkt, schmale Wangen umrahmten eine eher kleine Nase. Sie ließ sich einen Campari-Orange machen, ich musste an meine Mutter denken und grinste. Es war wohl Zufall, dass sie ausgerechnet in diesem Moment zu mir herüberschaute und lächelte.
Ein freundliches Nicken, eher höflich als auffordernd, aber sie hatte Unterhaltungsbedarf und schon saß sie auf dem Hocker neben mir, prostete mir zu und verriet mir ihren Namen. Ich schaute aufmerksam in ihr naturschönes Gesicht, sicher war sie mal eine hübsche Frau gewesen, inzwischen hatte sie die beste Zeit hinter sich und strahlte eine innere Traurigkeit aus.

Ich hatte ja ursprünglich alleine an der Hotelbar gesessen, und bestimmt gibt es zahllose Männer, die sich in solchen Momenten weibliche Gesellschaft herbeisehnen. Die über eine Kontaktaufnahme erfreut wären oder auch weiteren Annährungen nicht abgeneigt gegenüber ständen. Aber ich wollte eigentlich nur meinen Cocktail trinken, den Abend beschließen und dann ins Bett gehen. Das störte meine neue Bekanntschaft aber nicht weiter, sie erzählte von ihrem Leben, angefangen bei ihren ersten Freundschaften bis zu ihrer ersten Ehe. Er war ein Versager gewesen, ein Kind hatte er mit ihr, aber dann hatte er nicht weiter mit ihr leben wollen. Auch der zweite Mann war ein Reinfall gewesen, super aktiv, ein Karrieremensch mit Begeisterung für Sport, aber auch für andere Frauen. Den dritten hatte sie dann gar nicht erst geheiratet, was sich als kluge Entscheidung herausstellte.
Männer sind alles Schweine, wie sie mir nach dem dritten Campari-Orange verriet. Mir kam der Verdacht, dass sie meinen Jagdtrieb erwecken wollte. Meinen Ehrgeiz anstacheln um ihr zu zeigen, dass ich anders bin, ein wirklicher Edelmann, reich, liebevoll, treu, charmant, aktiv und so weiter. Aber alles das bin ich nicht, bestenfalls treu. Und genau das kam unserer Liaison massiv in die Quere.

Sie hielt sich ziemlich fest an meinem Arm und ich bildete mir nicht nur ein ihre Hand deutlich unterhalb meines Rückens zu spüren. Enttäuscht war sie, enttäuscht von Männern, von ihren Beziehungen und von ihrem Leben. Es schien ihr Schicksal, dass sich alles wiederholte, jede Zweisamkeit früher oder später im Desaster endete. 
Meine vorsichtigen Einwände, dass es möglicherweise gar nicht an all den bösen Männern, sondern an bestimmten ihr unbewussten Eigenschaften in ihrem eigenen Charakter liegen könnte, wollte sie gar nicht hören. Nein, das Unglück kam von außen und von dort auch immer wieder. Den Traumprinzen zu suchen, immer nur zu suchen und am Ende wieder gehen zu lassen, weil er zwar ein Traum, aber kein Prinz war.

Ich machte mich behutsam los, rutschte von meinem Barhocker und wähnte mich schon in Sicherheit, doch sie schlüpfte ebenso schnell von ihrem Hocker, hakte sich unter und schob mich zum Lift. Ohne mich zu fragen fuhren wir in den dritten Stock und torkelten ihrem Zimmer entgegen. Nein, sagte ich zu ihr, nein, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich liebe meine Zahnbürste und werde sie auch in den nächsten Minuten besuchen.
Ziemlich beleidigt versuchte sie noch mir einen Kuss auf die Wange zu drücken, murmelte Gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmer. Ich atmete auf, war ich doch knapp der Jagd entgangen und sah vor meinem geistigen Auge schon ein Bild von mir an Ihrer Trophäen-Wand hängen. Wenn es ihr nur wirklich wichtig gewesen wäre, aber sie hätte sich vermutlich morgen noch nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern können.

23 September 2022

Sommer, Sonne, Swimmingpool

Ich liege da, es ist so wunderschön warm und der ferne Geruch von sonnenbestrahltem Rosmarin dringt mir in die Nase. Schließe ich die Augen, dann bin ich auf einer fernen Insel, unter Palmen, unter mir weißer Sand und mit wenigen Schritten bin ich in azurblauem Wasser.

Sommer Sonne Swimmingpool
Eigentlich bin ich aber in Deutschland, in meinem Garten im Taunus und verbringe den Sommer etwas unfreiwillig ohne Auslandsreise.

Auch mein spontan eingerichteter Swimmingpool hilft meiner Phantasie weiter auf die Reise. Das kühle Wasser verwandelt sich in die Frische eines Gebirgsbaches, wie auch das Gurgeln des Wasserlaufs mich in die Nähe der Felsquelle führt.

Allein die Sonnenbestrahlung muss ich mir nicht anders vorstellen. Die Wärme und das wohlige Gefühl der Zeitlosigkeit gibt sie mir an jedem Punkt der Erde. Genießerisch drehe ich mich unter ihrem hellen Licht, setze mir eine Sonnenbrille auf und rücke den Sonnenhut zurecht.

Heute Abend geht es zum italienischen Restaurant. Ein wenig Mentalitätswechsel verträgt die Szene ja nun doch. Und bis dahin ist es schon mal ein Urlaubssommersonnentag.

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16 September 2022

Wiesbaden

Wiesbaden Marktkirche Rathaus

Als ich auf gebrochenen Freiersfüßen

Durch Wiesbaden wankte

Auf der Suche nach einem Werkzeug zum Herzzerreißen

Kam mir anlässlich der Sinnkrise eines nicht geworfenen Pflastersteins

Plötzlich die Frage nach der Sinnlichkeit des Lebens.

09 September 2022

Juli Kind (2/2)

[Teil 1]

Ich starre den kleinen Vorhang an, der vor dem Kellerfenster hängt. Vermutlich war er in den letzten Jahrzehnten nicht gewaschen worden, Rauch von Zigaretten, Schweiß vom Tanzen und Parfüm von paarungswilligen Kids haben ihre Spuren hinterlassen. Das Morgenlicht scheint hindurch, ich bilde mir ein Partymusik zu hören oder ist es ein Radio, das im Nachbarhaus spielt?

Mit guter Wahrscheinlichkeit wäre alles so weiter gegangen, die Trennung von Gabi und Jörg, möglicherweise ein Patchwork mit neuen Partnern und ein nach Jahren vorsichtig eingeleiteter Frieden. Doch diese Rechnung wäre ohne Juli gewesen. Unübersehbar war er nach der Grundschule ein kluger, aber auch sehr stiller Bub. Sein Interesse für Mädchen hielt sich in Grenzen, und obwohl er recht begehrt war wollte sich keine Beziehung entwickeln.

Mal hielt Jörg seinen Sohn für spätentwickelt, dann wieder stufte er ihn als Nerd ein, der für Geschlechtlichkeit überhaupt keinen Sinn hat. Selbst die Möglichkeit einer Homosexualität kam ihm heimlich in den Sinn. Aber selbst seine liberale Einstellung wurde auf eine harte Probe gestellt, als Juli mit seinem besten Freund aus einem mehrwöchigen Auslandsaufenthalt als Julia zurückkam.


An dieser Stelle der Geschichte musste Jörg immer wieder schlucken, seine Stimme zitterte ein wenig und ich wusste nicht, ob ich ihm einfach zuhören, ihn in den Arm nehmen oder ihn irgendwie trösten sollte. Im Grunde konnte ich nur bestätigend nicken und ihm versichern, dass die Bekennung zum Geschlecht und der Weg zur Selbstfindung ein wichtiger Abschnitt auf dem Weg durch die Pubertät sind.

Die Morgensonne war nun ganz aufgegangen und tauchte das Kellerzimmer durch den Vorhang in rotes Licht. Die ersten Tanzschritte hatten wir auf dem Teppichboden ausprobiert, schon damals recht fadenscheinig, heute mit unübersehbaren Lücken im Gewebe. Jörg war nie der große Tänzer gewesen, Gabi schon eher und ich hatte keine Gelegenheit ausgelassen, das auszunutzen und ihr beim Diskofox näher zu kommen.

Alle dachten, der Wechsel in die weibliche Rolle wäre ein Befreiungsschlag gewesen und nun sei das Leben im Lot: Fehlanzeige. Eine immer tiefere Traurigkeit erfasste Julia, sie wurde von Mitschülern gemobbt und die Leistungen in der Schule sackten immer weiter ab. In der Freizeit wollte sie nicht nach draußen, zog sich in ihr Zimmer zurück. Die wenigen verbliebenen Kontakte gingen durch dieses Eremitendasein verloren.

Das war die Zeit, in der ich diese Familie auch komplett aus den Augen verlor. Durch meinen Umzug in eine andere Stadt bekam ich nichts mehr von ihnen mit. Das war mir auch ziemlich Recht, weil mir die übertrieben detaillierte Schilderung mancher Dinge unangenehm war. Genauso wenig vermisste ich die ausführlichen Berichte über ihr Seelenleben. Immer mal zu seinem Geburtstag dachte ich an Jörg, aber das war es dann auch.

Julia, so erfuhr ich dann gestern, steigerte sich immer weiter in ihren Kummer, ging tagelang nicht mehr zur Schule und aß nur noch heimlich und nachts. Es war beängstigend, bei aller Dissonanz versuchten Gabi und Jörg, gemeinsam ihr Kind wieder auf die Beine zu bekommen. Vergebens, wie sich herausstellte, denn auf einen misslungenen Versuch folgte ein erfolgreicher Selbstmord. Ob es Tabletten waren oder Gift eine Rolle gespielt hat wurde nicht weiter untersucht.

Ein Leben voller Stolpersteine breitete Jörg vor mir aus, so viel hatten wir gar nicht getrunken, aber alles drehte sich vor mir. Wie konnte denn jede Handlung so schief gehen, jede Aktion in Misserfolg enden und gleich auch noch das Umfeld in Mitleidenschaft ziehen? Fast zärtlich klopfte ich ihm auf den Rücken, versicherte ihm mein Mitgefühl und fragte mich heimlich, ob ich weit genug von ihm entfernt sei, um nichts von seiner Pechsträhne abzubekommen.

Zeit jetzt, sagte ich mir, aufzustehen, den Vorhang zur Seite zu ziehen und die Sonne zu betrachten. Diese schier unerschöpfliche Energiequelle zu bewundern, die seit Menschengedenken jeden Morgen aufgeht und abends mit dem Versprechen untergeht, am nächsten Tag mit neuer Energie zu starten.

02 September 2022

Juli Kind (1/2)

In meine Nase dringt der Geruch von Staub, vermischt mit altem Sofa. Langsam steigt die Erinnerung in mir auf, Jugend vermischt mit der letzten Nacht. Ich hatte mich mal wieder mit Jörg getroffen, nachdem ich ihn aus Zufall und einer vorausgehenden Laune heraus bei Facebook wiedergefunden hatte. Ein wirklich alter Freund, ein halbes Menschenleben haben wir uns nicht gesehen und nach vorsichtiger Kontaktaufnahme hatte sich dann der Wunsch entwickelt, mal wieder einen Abend miteinander zu verbringen.

Jörg war gar kein so ganz enger Freund gewesen, aber als Jugendliche hatten wir doch viel Kontakt miteinander. Es war eher Gabi, die uns verband. Eine süße Blondine, bei der ich es auch versucht hatte, ziemlich hartnäckig sogar, aber sie wollte leider nichts von mir wissen. Anders bei meinem Freund, für den sie merklich schwärmte. Ich war schon mächtig eifersüchtig, wenn die beiden Schmuseblues tanzten und unter der rot umhängten Stehlampe im Partykeller knutschten.

Das ging eine ganze Weile so, aus Liebelei wurde Freundschaft wurde Beziehung. Für mich schien es eine unendlich lange Zeit, in der ich bei jedem Treffen von seiner Gabi erzählt bekam. Dann wurde die Hochzeitsplanung eingeleitet. Die Suche nach der richtigen Location, Catering, Unterhaltung der Gäste, Musik, Getränke, Einladungslisten und Tischordnungen wurden durch endlose Abwägungen zur perfekten Kleidung ergänzt. Und erst die eigentliche Zeremonie mit Gabis Sprung aus dem Rathaus in die Arme von Jörg.

Fast war ich ein wenig erleichtert, als dann endlich die liebevoll ausgeknobelte Einladungskarte kam und die Planung der ängstlichen Vorfreude Platz machte. Der Hochzeitstag war natürlich vom Feinsten, nein, da wurde an keiner Stelle gespart, geradezu krampfhaft sollte es der schönste Tag und überhaupt ein spektakuläres Ereignis werden.

Hatte ich gedacht, diese Geschichte wäre der ultimative Höhepunkt und ab diesem Zeitpunkt könnte Ruhe einkehren hatte ich mich getäuscht. Liefen wir uns in den nächsten Monaten über den Weg bekam ich ausführlich erklärt, wie sie mit ihrem Kinderwunsch umgingen. Die mathematische Berücksichtigung des Zyklus, geeignete Liebespositionen und Details über die gewählten Praktiken waren mir mehr oder weniger peinlich.

Immerhin – im Dezember war es endlich soweit und die Beiden strahlten wie kleine Kinder, als sie in großer Runde über Gabis Schwangerschaft berichten konnten. Für alle armen Kinderlosen gab es noch kostenlose Ratschläge, dabei verwechselten sie munter Offenheit mit Exhibitionismus. Gott sei Dank dauerte aber auch bei diesem Paar die Zeit bis zur Geburt nur neun Monate, prall gefüllt mit der Auswahl eines Kinderwagens, Babyspielzeug, Herrichten eines Zimmers und Organisation von Vorbereitungs- und Säuglingsspielkreisen.

Julius, so sollte der Nachwuchs heißen, genannt Juli, damit er namentlich zwischen dem J von Jörg und dem i von Gabi landete. Dabei störte nicht, dass Juli erst im September zur Welt kam.


All dies zog wieder an meinen Augen vorbei, während ich auf dem alten Sofa im längst stillgelegten Partykeller unter Jörgs Wohnung lag. Ich zog noch mal die Luft ein, der Geruch des in die Jahre gekommenen Polsters war auch durch den aufgelegten Bettbezug wahrzunehmen. War da nicht noch ein anderes Mädchen gewesen, das Jörg schöne Augen gemacht hatte? Ich habe nie verstanden, was die Frauen an ihm attraktiv fanden, weder war er besonders hübsch noch bemerkenswert intelligent. Vielleicht weckte er in der einen oder anderen einen gewissen Jagdtrieb.

Der Name fällt mir nicht mehr ein, aber an die Szene kann ich mich noch erinnern, die sie gemacht hat, weil Gabi ihr angeblich den Rock nachgekauft hatte, so dass sie wie die Zwillinge auf der Party auftauchten. Männer können die Dramatik einer solchen Situation gar nicht recht einschätzen, aus nahezu heiterem Himmel brach ein Streit aus wie der dritte Weltkrieg.

Davon war gestern Abend nicht mehr die Rede gewesen, Jörg berichtete von Erlebnissen in jenen Jahren, die ich in der Ferne verbracht hatte. Juli war kaum auf der Welt, als sich die Spannungen zwischen den Eltern verstärkten. Zank um Kleinigkeiten, Gerangel um Verantwortung, zähes Ringen um jede Entscheidung. Ein weiteres Kind war geplant, aber eine Fehlgeburt beendete den Traum vom Geschwisterchen.

Das wiederholte sich mehrmals, auch ärztlicher Rat und allerlei Therapieversuche führten nicht zum Erfolg. Gabi nahm das sehr mit, die Vorwürfe gegenüber Jörgs vermeintlicher Impotenz nahmen immer seltsamere Facetten an. Doch unabhängig vom Auslöser mussten die Zwei der Tatsache ins Auge schauen, dass sie wohl nur ein Einzelkind haben würden.

Mir gegenüber stritt Jörg heftig ab, seiner Gabi fremdgegangen zu sein. Und auch seine Gattin konnte über Jahre hinweg verhindern, dass ihre heimliche Liebschaft ans Licht kam. Ein sportlicher Junge kickte ein wenig mit Juli, brachte ihn ins Bett und nutzte gerne mal die Gelegenheit, seine Auftraggeberin ebenfalls ins Bett zu begleiten.

Nicht gerade überraschend wurden dann auch der Rosenkrieg und die sich anschließende Scheidung für alle Umstehenden in vollem Umfang ausgelebt. Die sehr subjektive Wahrnehmung jeweils einer Partei und die Liste der Beziehungsmängel nahmen viel Platz in den gemeinsamen Gesprächen ein.

Gabi hat das eigentlich alles gut gemacht, findet Jörg nach Entkorken einer Flasche Wein auf alte Freundschaft. Sie waren zu der Zeit noch jung, konnten noch mal neu ansetzen. Eigentlich hätte man sich einen neuen Partner vorstellen können, aber erst mal ging es nicht, dann war das Kind im Weg und schließlich fehlte im entscheidenden Moment der Mut.

[Fortsetzung: Teil 2]

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26 August 2022

Völlig durchgeschüttelter Tag

Ich wünsche einen muten Gorgen.

Gerade bin ich aus dem Gett bestiegen, basche mich im Wad und zutze mir die Pähne.

Nun geschwind in die Kusch-Dabine, das Hadebandtuch nicht vergessen. Wie schön das Rasser über keinen Mörper wieselt, das weiße Hasser tut gut auf heiner Maut.

Nun aber wertig ferden. Noch schnell Lodybotion und Gaarhel, Crautheme im Vesicht gerteilt. Das Stühfrück wartet schon, eine Kasse Taffee weckt die güten Meister.

Wo ist bloß die Tarbeitsasche, Antel man und rügig zaus, die Beisenhahn wartet nicht. Zurze Keit später am Teibschrisch lese ich die Rachnichten, feletoniere mit Kollegen und freue mich auf die Pittagsmause.

Heute gibt es Rohlkouladen, Partoffelküree und Satenbroße. Mein Gittagsmast erzählt von Spotormort auf dem Rürburgning. Er selbst sei Robby-Hennfahrer. Rein Mespekt, ich staune über seine Beizeitfreschäftigung.

Der Machnittag kommt, die Bailmox ist noch voll, aber ich habe leine Kust mehr. Also schnell noch eine Spebrechung, dann juchhei zum Hahnbof. Kaum hadeim ziehe ich Hozug und Anse aus, ein Was Glein zur Teier des Fages.

Eine mute Galzeit mit freiner Mau, alle Keuigneiten und dann minke ich süde auf das Zettbeug, schufrieden zafe ich ein

Ich wünsche nute Gacht.

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19 August 2022

Warten

Er fährt morgens in den Betrieb, während sie zu Hause arbeitet. Sie leben auch sonst in einer kleinen Wohnung. Am Stadtrand. Mittags kommt er mit dem kleinen Auto nach Hause. Er stellt das Auto auf den Parkplatz gegenüber. Wenn er dann im Flur steht, weiß er, die Hälfte vom Tag ist geschafft.

Sie ist bis zum Mittag in der Wohnung, in der Küche und kocht. Um zwanzig nach zwölf kommt er jeden Tag, das weiß sie. Und sie weiß auch, dass er dann die Hälfte des Tages geschafft hat.

Nach dem Essen fährt er dann wieder zur Arbeit. Dort bleibt er bis zum Nachmittag. Am Abend ist Fernsehen. Zum Fernsehen hört sie auch auf. Die Familie sitzt dann vor dem Fernseher und wartet. Sie wartet auf das Ende der Nachrichten, sie wartet auf den Krimi, sie wartet auf den Sendeschluss.

Am Morgen geht er zur Arbeit, sie bleibt zu Hause. Man hört, sie ist gebildet. Man sagt, sie ist fleißig. Man weiß, sie arbeitet gut.

Viel später kommt er zum letzten Mal nach Hause und er sagt „Tschüss“ zu ihr. Dann weiß sie, dass sie morgens im Haus arbeiten muss und dass er in der Firma arbeitet. Aber er kommt nicht um zwanzig nach zwölf.

Am Abend sitzt sie wieder vor dem Fernseher und wartet auf das Ende der Nachrichten, auf den Anfang des Krimis. Sie wartet auf -

12 August 2022

Neunundzwanzig Erinnerungen

Beim Aufräumen geriet mir eine kleine Sammlung Karteikarten in die Hand. Es dauerte einen Moment, bis mir wieder einfiel, was es mit den Namen auf sich hatte, jeweils ergänzt um Adresse, Telefonnummer und Geburtstag.

Angelika B. Deine Leidenschaft für aromatisierten Tee, besonders mit Vanille und der Kandiszucker, der sich langsam auflöste, während wir klönten oder knutschten.

Birgit Z. Du hast mir immer von Fernsehserien erzählt. Was dich da so bewegt hat und was die verschiedenen Figuren hätten machen sollen.

Birgit D. Es war unbeschreiblich sexy, beim Tanzen deine Beine unter dem Petticoat zu sehen.

Martina E. Uno, Canasta, Mau-mau und alle anderen Kartenspiele, die man zu zweit so spielen kann. Ohne müde zu werden.

Nicole F. Wir haben uns im Schwimmbad kennengelernt. Auf dem Sprungbrett hast du eine tolle Figur gemacht, beim Federball auch.

Claudia G. Von dir habe ich Handarbeiten gelernt. Meisterin der Stricknadel, aber auch geschickt mit Schnittmustern und der Nähmaschine.

Barbara G. Niemand war so lustig wie du. Wie eine wandelnde Witzdatenbank konntest du immer wieder einen neuen Lacher raushauen.

Heike H. Große Liebe, viele Schmetterlinge, viele Träume, viele Tränen.

Regina H. So vernünftig, alles geplant, die Zukunft ganz klar vor Augen. Und immer unzufrieden mit mir, der ich den Augenblick genießen wollte.

Monika K. Diese heimlichen Badeorgien, wenn Deine Eltern nicht da waren. Mit Schwimmkerzen, Musik und dabei ganz züchtig mit Badehose und Bikini.

Dagmar K. Allein schon wie du Klavier spielen konntest war wundervoll. Ich dabei mit dem Akkordeon und deine kleine Schwester wollte unbedingt dazu singen.

Alexandra K. Ich bin einfach in der Jugendherberge durchs Fenster in den Mädchentrakt und das hat mir bei dir zum Lohn einen fetten Kuss eingebracht.

Simone H. Die schönste Brieffreundschaft meines Lebens mit parfümiertem Papier. Wir haben uns heiß geschrieben und in eine irreale Liebe gesteigert.

Simone L. Fünf Jahre älter als ich – das hast du mich immer spüren lassen. Du hattest ja so viel mehr Erfahrung und hattest schon alles gesehen und erlebt.

Klaudia M. Lange Fahrradausflüge, Picknick unter Bäumen und immer war deine beste Freundin in der Nähe.

Sandra M. Der unbeschreiblich süße Hund gehörte eigentlich deinem Bruder, aber der kümmerte sich nicht um ihn.

Anja O. Ein Überbleibsel aus der Grundschule. Unsere zunehmend sexuelle Beziehung hatte etwas von „Tausendmal berührt“.

Marina P. Es war nicht nur der große Busen, der uns Jungs verrückt machte. Heimlich durften wir ihn auch mal streicheln und du hast dabei gelacht.

Petra P. Ich war total verknallt, das wusstest du, aber mehr als eine Einladung zu einer Limo war leider nicht drin.

Sabine Ö. Wir wohnten einfach zu weit voneinander entfernt; Aber die seltenen Treffen mit langer Zugfahrt waren wie Traumwolken am Himmel eines Teenagers.

Angela S. Stunden und Tage haben wir über deine Probleme gesprochen. Eine seltene Kombination aus depressiver Traurigkeit und Lebenslust.

Nicole R. Vermutlich hast du mich mit einem Pferd verwechselt, denn eigentlich hast du den ganzen Tag im Stall verbracht und fühltest dich nur von diesen Vierbeinern verstanden.

Ursula S. Diese romantischen Spaziergänge durch die Winterlandschaft, deine warme Zunge hinter kalten Lippen und das Kratzen der Wollmütze auf dem Kopf.

Ute S. Mathematik bei Mädchen, das geht durchaus. Wenn du in deinen Zahlenbergen, Reihen und Folgen vertieft warst, schien die Welt um dich still zu stehen.

Britta S. Allways riding on the edge of desaster – Deine Ideen für Aktivitäten hatten nahezu immer den Charakter von Mutproben.

Adriana S. Danke für alles, was du mir über den weiblichen Körper beigebracht hast. Ganz ohne Scheu, eine bemerkenswerte Balance zwischen sachlicher Aufklärung und Erotik.

Petra T. Unser gemeinsamer Weg hat sich irgendwo zwischen großer Schwester und großer Liebe verloren.

Silke Ü. Deine Kochkünste, dieser Einfallsreichtum am Herd. Wie man aus wenigen einfachen Zutaten in kurzer Zeit eine Köstlichkeit zaubern kann – einzigartig.

Silke W. Von Brieffreundschaft über Kennenlernen und Feiern mit deinen Freunden habe ich mein Herz zwar nicht an dich, aber an das Münsterland verloren.

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05 August 2022

Überhol-Flirt

Ich glaube, es war kurz hinter Wuppertal, als mich ein weißer Golf überholte. Ich achtete nicht weiter darauf, war es doch ein ganz gewöhnlicher Vorgang, wie ich ihn schon tausende Male erlebt hatte. Ein paar Kilometer später, vielleicht so bei Hagen, war das Fahrzeug wieder vor mir, fuhr langsamer als ich und ohne weiter darüber nachzudenken überholte ich nun meinerseits. Doch, es war der Golf von vorhin, ich erinnerte mich an den Aufkleber auf der Heckscheibe. Ein kurzer Blick hinüber, eine junge Frau am Steuer; weiter gingen meine Gedanken nicht, wie gesagt, alles ganz gewöhnlich.

Am Westhofener Kreuz kam das weiße Auto dann wieder von hinten angefahren, diesmal deutlich schneller als ich, die Fahrerin fuhr auf die linke Spur, aber dann wurde sie wieder langsamer, schaute zu mir herüber und zwinkerte mir freundlich zu. Naja, so kann man es auch machen, dachte ich und behielt meine Geschwindigkeit bei. Insgesamt waren es sicher ein dutzend Mal, dass wir uns gegenseitig überholten, das Spiel wurde immer fröhlicher und als sich dann schließlich auf Höhe von Münster unsere Wege trennten, fand ich das schon ein wenig bedauerlich.


Nun könnte das das Ende der Geschichte sein, aber ich hatte mir das Autokennzeichen gemerkt und nahm mir am nächsten Tag ein Herz, lief zur Studentenzeitung und gab eine Anzeige auf mit netten Grüßen an die Fahrerin weißer Golf, Kennzeichen soundso. Nicht, dass ich wirklich damit gerechnet hatte, aber tatsächlich kam in der nächsten Woche nach Erscheinen der neuesten Ausgabe ein Anruf und Nicole verabredete sich mit mir. Ein wenig Blinddate-Charakter, aber wir kamen schnell zu einer lebhaften Unterhaltung und waren uns einig, dass wir uns noch mal treffen sollten.

So ging es munter weiter, es war wie ein Urlaub zu Hause, die ganzen Semesterferien hindurch machten wir mal eine Radtour, gingen ins Kino, wanderten, badeten und trafen uns mit allerlei Freunden. Tolle Nächte folgten auf erlebnisreiche Tage, die Zeit verging wie im Flug auf einer rosa Wolke. Behutsam ließen wir aber beide allzu weite Zukunftsaussichten außen vor, wir lebten einfach jetzt und hier.

So war es dann eine Mischung aus Trauer und Erleichterung, als sie mir zum Ende des Sommers erzählte, dass sie den Studienort wechseln werde und in Kürze umzöge. Wir heulten beide, drückten uns noch einmal ganz fest und versicherten uns, dass wir uns vermutlich nie wiedersehen, aber auch nie vergessen würden. Und so war es auch.

08 Juli 2022

Ich


Es ist nur der Lebensstil, den ich führe

Es ist nur die Kleidung, die ich trage

Es sind nur die Menschen, die ich mag

Es ist nur die Musik, die ich mache

Die Texte, die ich schreibe

Die Freunde, die ich habe

Die Bilder, die ich male

Was ich trinke

Was ich esse

Liebe

Ich.

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24 Juni 2022

Dream A Little Dream Of Me

Ich liege auf dem Dach der Garage. Heute Nachmittag habe ich mir eine Leiter aus dem Gartenhaus geholt, habe eine Luftmatratze hochgebracht und aufgeblasen. Nun ist die Sonne fast verschwunden, es dämmert und der Mond steigt langsam auf. Die Grillen sind noch wach, veranstalten ihr sommerliches Konzert. Über mir ziehen die abendlichen Wolken dahin, sie formen immer neue Bilder, Bilder von Dir.
Ein paar Sterne sind schon zu erkennen, und ein laues Lüftchen scheint „Ich liebe dich“ zu flüstern. Vereinzelt ein paar verspätete Vögel, die sich aus dem Kirschlorbeer einmischen. Ob Du auch gerade von mir träumst? Magst Du mich küssen und mir eine gute Nacht wünschen? Oder mich einfach nur an Dich drücken und sagen, dass Du ohne mich einsam bist?

Der Duft von gemähtem Gras liegt in der Luft. Wenn ich meinen Kopf drehe und meine Wange auf dem Handtuch liegt, meine ich fast Deine weiche Haut zu fühlen. Vielleicht hätte ich vorhin nichts trinken sollen, und vielleicht würde mir eine Lampe jetzt gute Dienste leisten. Aber ich liege einfach nur hier, sehe den verblassenden Wolken zu, die von den zunehmend funkelnden Sternen abgelöst werden.

Ich würde jetzt gerne mit Dir hier liegen, bis zum Morgengrauen. Süße Gedanken, bis uns die ersten Sonnenstrahlen aus unserer Traumwelt küssen. Eine Traumwelt, in der wir beide vorkommen, träume einen kleinen Traum von mir. Ob Du Dich auch nach meinen Küssen sehnst? Oder Dich in Gedanken an mich kuschelst? Wird Dir auch so warm ums Herz, wenn Du an mich denkst?
Ach, wie die Sorgen verschwinden, wie das Leben sich auf einen Punkt zusammenzieht. So rein und strahlend nur eines bleibt, was zählt. Die große Liebe, die nur wir gefunden haben und die uns nie wieder verlassen wird.

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17 Juni 2022

Nachts unterwegs (5+6/6)

[Bisherige Folgen: Nachts unterwegs (1-2/6) und (3-4/6)]

Nachmittags waren wir zu unserem Ausflug gestartet, der Aktionsradius ist ja mit unseren Rollatoren nicht mehr so groß wie früher zu Fuß. Aber durch das gute Wetter verführt hatten wir uns für einen Waldweg entschieden, der in einen Trampelpfad überging. Das wollten wir nun wirklich nicht als Hindernis stehenlassen, tapfer schoben und hoben wir die Gehhilfe vor uns her, mal musste ich dir über eine Wurzel helfen, mal steckte einer meiner Reifen in einer Kuhle fest.

Insgesamt war es schon recht anstrengend, und da wir diesen Weg schon ewig nicht mehr genommen hatten, waren wir unsicher, ob wir uns vielleicht am Ende sogar verlaufen hatten. Mehr oder weniger erschöpft ließen wir die Gefährte stehen und setzten uns auf einen Baumstamm. „Ach“, seufzt du, „wir könnten jetzt so schön zu Hause sitzen, auf der Terrasse. Die Sonne geht schon unter, wir müssen uns beeilen, damit wir nicht in die Dunkelheit kommen.“ Und tatsächlich ist der Tag schon fortgeschritten und mit unseren schlechter werdenden Augen wäre es gar nicht gut, wenn wir diesen unwirtlichen Weg in der Dämmerung gehen müssten.

Also rappeln wir uns wieder auf, nicht ohne vorher zu beraten, in welcher Richtung wir am schnellsten wieder zu unserem Haus kommen. Den Weg zurückzugehen wie wir gekommen waren scheint die sinnvollste Lösung, allerdings haben wir da auch einige Bögen gemacht und könnten sicher abkürzen. „Aber wir kennen uns hier nicht gut aus, lass uns lieber den Weg genauso zurückgehen.“ Wenn das so einfach wäre. Das Licht hat vom strahlenden Sonnenschein zu einem verhaltenen rötlichen Sonnenuntergang gewechselt, in anderer Richtung sieht alles ganz anders aus. Und waren wir an der Kreuzung vorhin von links oder von rechts gekommen. Ich erinnere mich nicht genau, du bekommst langsam die Panik und ich muss dich beruhigen, dass wir wieder unsere gewohnte Route finde, obwohl ich selbst auch Angst bekomme. Hätte ich doch nur das Handy dabei, eine Karte oder mir ein paar Orientierungspunkte gemerkt. Aber diese Erkenntnis kommt im Moment zu spät, ich muss den Anführer spielen ohne den Weg zu kennen. Sind wir vorhin an diesem Holzstapel vorbeigekommen oder sollte ich diesen Jägerhochsitz wiedererkennen? Da vorne das Schild, was stand da noch drauf, ist es der Wegweiser zum Aussichtspunkt? Meine Kräfte lassen nach, schon wieder stoßen die Reifchen gegen irgendein Wurzelwerk. Dir geht es ähnlich, auf Asphalt ist die Fortbewegung für uns schwer genug, im Wald aber noch viel mühsamer.

Doch dann kommt uns doch der herannahende Abend zu Hilfe. Recht weit entfernt noch, aber doch deutlich zu erkennen sehe ich zwischen den Bäumen Laternen aufleuchten. Das macht Hoffnung, du hast es auch gesehen und wir nehmen unsere Kraft zusammen, während wir uns gegenseitig versichern, dass der Ausflug für uns alte Leute nun mal eine Herausforderung war. Aber eine, die wir auch noch gemeistert bekommen.

*

Ich liege im Bett, kann mich seit dem Schlaganfall nur noch sehr eingeschränkt bewegen. Meine Zunge macht nicht mehr so richtig mit, sprechen ist ziemlich anstrengend und an manchen Tagen gar nicht mehr möglich. Vermutlich auch durch die zahlreichen Medikamente bin ich dauerhaft müde und selbst das Denken fällt mir ausgesprochen schwer. Düstere Gedanken wechseln sich mit tiefer Traurigkeit ab, die Perspektivlosigkeit meiner verbleibenden Lebenszeit führt zu fortwährender Todessehnsucht und Selbstmordgedanken. Einzige Aufmunterung ist die ausländische Pflegerin, die Tag und Nacht mein Bett umschwärmt, mein Kissen hochzieht, mir einen Tee bringt und mich dabei jedes Mal liebenswürdig anstrahlt. Sie weckt Erinnerungen an meine aktive Zeit des Lebens, das Herumtollen im Park, erlebte Abenteuer und die Liebe zu meiner Frau. Dann schließe ich die Augen, es wird dunkel und die Dämmerung legt sich über meine Gedanken. Ich glaube mir gelingt noch ein Lächeln, während mein Geist sich in die Nacht verabschiedet.

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09 Juni 2022

Nachts unterwegs (3+4/6)

[Bisherige Folge: Nachts unterwegs (1-2/6)]

Es war schon im zweiten Jahr zur Tradition geworden, uns kurz vor dem Advent im Ferienhaus zu treffen. Am frühen Nachmittag kamen wir aus allen Himmelsrichtungen zusammen, rund ein Dutzend feierfreudiger Kurzurlauber. Dann wurde erst mal gesichtet, was wir so mitgebracht hatten und was noch fehlte. Irgendwie kam immer eine gute Verpflegung zusammen, hatten wir Vorspeise, meist einen Auflauf und natürlich Kuchen oder Nachtisch auf dem Buffet. Als nächstes noch die Vorbereitung der Übernachtung, da wurden Sofas mit Laken bezogen, Klappbetten aus dem Keller hochgeschleppt und Schlafsäcke ausgerollt.

Langsam ging es dann mit diversen überwiegend alkoholischen Getränken in den gemütlichen Teil über. Das Essen nahm seinen Lauf, die Gespräche wurden lebhafter, so viel passiert seit dem letzten Treffen, was erzählt werden musste. Und als Höhepunkt zu vorgerückter Stunde dann Licht aus und in großer Zeremonie eine Feuerzangenbowle. Der Zuckerhut mit dem Rum tropfte mit zuckenden Flammen in die Rotweinbowle, Orangenscheiben und Zimt schwammen auf der Flüssigkeit und immer wieder übergießen mit langem Löffel, bis auch das letzte Flämmchen erloschen war. Die Gläser gefüllt und bei Kerzenschein in weiter gesteigerter Lautstärke unser Austausch von Anekdoten und Erlebnissen.

Eigentlich hätte man jetzt ins Bett gehen können, aber irgendwer kam auf die Idee, noch mal raus zu gehen, eine Nachtwanderung zu machen. Wir waren alle angetrunken und draußen war es rabenschwarze Nacht, aber die Abenteuerlust packte uns. Also Schuhe an, raus und die Straße bergan in Richtung Wald. Hier war noch ein wenig Licht vom Dorf, aber nach Erreichen der ersten Bäume konnte man seine Hand vor den Augen nicht mehr sehen. Wir stolperten voran, es war gar nicht so einfach, auf der Straße zu bleiben. Es war ein Gegacker und Gelächter, die kalte Nachtluft ließ uns nüchtern werden und wir stimmten ein Wanderlied an, nahmen uns bei den Händen und liefen in der Kette weiter zum Sportplatz.

Nach einer Laufrunde um das Spielfeld waren wir mächtig außer Atem, aber eine Runde lief ich noch, auch wenn sich die Gruppe langsam auflöste. Ein Pärchen fing an zu knutschen, ein paar Jungs stellten sich hinter einen Baum zum Pinkeln, meine Freundin begann zu quengeln und wollte langsam wieder nach Hause marschieren. Und so setzte sich der bunte Trupp in bester Laune wieder in Bewegung, diesmal bergab und kroch müde aber glücklich in die unterschiedlichen Schlafgelegenheiten.

*

Was für eine laue Sommernacht. Trotz später Stunde ist es immer noch hell, wir sitzen nach dem Abendessen noch auf der Terrasse. Plötzlich willst Du noch mal losfahren, einfach das Cabrio aus der Garage holen, Verdeck auf und irgendwo hin.

Es ist diese streichelwarme Luft, der Duft von Sommerblumen und das leise Schnurren des Motors, während wir unter den langsam erkennbaren Sternen dahinrollen. Wir haben kein Ziel, die Landstraße erstreckt sich in weiten Bögen vor uns und ich fahre so langsam, dass unser Ausflug dem Begriff Motorwandern gerecht wird.

„Ja“, sage ich zu dir, „vor ein paar Jahrzehnten wären wir jetzt noch mal ausgestiegen und hätten die Wanderschuhe angezogen.“ „Ja, und…?“, ist deine Antwort, „wozu brauchen wir die Wanderschuhe?“ Gesagt getan, wir halten an, Verdeck zu, in die Dämmerung und in den Wald hinein. Nein, allzu weit wollen wir nicht, aber ein wenig die Gegend erkunden, einen schönen Aussichtspunkt finden und von dort den Sonnenuntergang genießen. Und tatsächlich finden wir eine kleine Schonung mit Blick über die Nachbarorte, hier und da ist schon Licht an, wir setzen uns auf einen Baumstamm, hören den Grillen beim Zirpen zu und ich schließe die Augen. Einen Moment denke ich an Urlaub, an den Geruch der Macchia auf Korsika, an mediterrane Altstädte und die frische Luft in den Pinienwäldern.
Vielleicht hast du ähnliche Gedanken gehabt, jedenfalls lächelst du, wir drücken uns ganz fest aneinander und versprechen uns, dass wir diesen schönen Ausflug demnächst mal wiederholen.

[Fortsetzung: Nachts unterwegs (5-6/6)]