[Teil 1]
Ich starre den kleinen Vorhang an, der vor dem Kellerfenster
hängt. Vermutlich war er in den letzten Jahrzehnten nicht gewaschen worden,
Rauch von Zigaretten, Schweiß vom Tanzen und Parfüm von paarungswilligen Kids
haben ihre Spuren hinterlassen. Das Morgenlicht scheint hindurch, ich bilde mir
ein Partymusik zu hören oder ist es ein Radio, das im Nachbarhaus spielt?
Mit guter Wahrscheinlichkeit wäre alles so weiter gegangen, die Trennung von Gabi und Jörg, möglicherweise ein Patchwork mit neuen Partnern und ein nach Jahren vorsichtig eingeleiteter Frieden. Doch diese Rechnung wäre ohne Juli gewesen. Unübersehbar war er nach der Grundschule ein kluger, aber auch sehr stiller Bub. Sein Interesse für Mädchen hielt sich in Grenzen, und obwohl er recht begehrt war wollte sich keine Beziehung entwickeln.
Mal hielt Jörg seinen Sohn für spätentwickelt, dann wieder stufte er ihn als Nerd ein, der für Geschlechtlichkeit überhaupt keinen Sinn hat. Selbst die Möglichkeit einer Homosexualität kam ihm heimlich in den Sinn. Aber selbst seine liberale Einstellung wurde auf eine harte Probe gestellt, als Juli mit seinem besten Freund aus einem mehrwöchigen Auslandsaufenthalt als Julia zurückkam.
An dieser Stelle der Geschichte musste Jörg immer wieder schlucken, seine Stimme zitterte ein wenig und ich wusste nicht, ob ich ihm einfach zuhören, ihn in den Arm nehmen oder ihn irgendwie trösten sollte. Im Grunde konnte ich nur bestätigend nicken und ihm versichern, dass die Bekennung zum Geschlecht und der Weg zur Selbstfindung ein wichtiger Abschnitt auf dem Weg durch die Pubertät sind.
Die Morgensonne war nun ganz aufgegangen und tauchte das Kellerzimmer durch den Vorhang in rotes Licht. Die ersten Tanzschritte hatten wir auf dem Teppichboden ausprobiert, schon damals recht fadenscheinig, heute mit unübersehbaren Lücken im Gewebe. Jörg war nie der große Tänzer gewesen, Gabi schon eher und ich hatte keine Gelegenheit ausgelassen, das auszunutzen und ihr beim Diskofox näher zu kommen.
Alle dachten, der Wechsel in die weibliche Rolle wäre ein Befreiungsschlag gewesen und nun sei das Leben im Lot: Fehlanzeige. Eine immer tiefere Traurigkeit erfasste Julia, sie wurde von Mitschülern gemobbt und die Leistungen in der Schule sackten immer weiter ab. In der Freizeit wollte sie nicht nach draußen, zog sich in ihr Zimmer zurück. Die wenigen verbliebenen Kontakte gingen durch dieses Eremitendasein verloren.
Das war die Zeit, in der ich diese Familie auch komplett aus den Augen verlor. Durch meinen Umzug in eine andere Stadt bekam ich nichts mehr von ihnen mit. Das war mir auch ziemlich Recht, weil mir die übertrieben detaillierte Schilderung mancher Dinge unangenehm war. Genauso wenig vermisste ich die ausführlichen Berichte über ihr Seelenleben. Immer mal zu seinem Geburtstag dachte ich an Jörg, aber das war es dann auch.
Julia, so erfuhr ich dann gestern, steigerte sich immer weiter in ihren Kummer, ging tagelang nicht mehr zur Schule und aß nur noch heimlich und nachts. Es war beängstigend, bei aller Dissonanz versuchten Gabi und Jörg, gemeinsam ihr Kind wieder auf die Beine zu bekommen. Vergebens, wie sich herausstellte, denn auf einen misslungenen Versuch folgte ein erfolgreicher Selbstmord. Ob es Tabletten waren oder Gift eine Rolle gespielt hat wurde nicht weiter untersucht.
Ein Leben voller Stolpersteine breitete Jörg vor mir aus, so viel hatten wir gar nicht getrunken, aber alles drehte sich vor mir. Wie konnte denn jede Handlung so schief gehen, jede Aktion in Misserfolg enden und gleich auch noch das Umfeld in Mitleidenschaft ziehen? Fast zärtlich klopfte ich ihm auf den Rücken, versicherte ihm mein Mitgefühl und fragte mich heimlich, ob ich weit genug von ihm entfernt sei, um nichts von seiner Pechsträhne abzubekommen.
Zeit jetzt, sagte ich mir, aufzustehen, den Vorhang zur Seite zu ziehen und die Sonne zu betrachten. Diese schier unerschöpfliche Energiequelle zu bewundern, die seit Menschengedenken jeden Morgen aufgeht und abends mit dem Versprechen untergeht, am nächsten Tag mit neuer Energie zu starten.
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