17 Juni 2022

Nachts unterwegs (5+6/6)

[Bisherige Folgen: Nachts unterwegs (1-2/6) und (3-4/6)]

Nachmittags waren wir zu unserem Ausflug gestartet, der Aktionsradius ist ja mit unseren Rollatoren nicht mehr so groß wie früher zu Fuß. Aber durch das gute Wetter verführt hatten wir uns für einen Waldweg entschieden, der in einen Trampelpfad überging. Das wollten wir nun wirklich nicht als Hindernis stehenlassen, tapfer schoben und hoben wir die Gehhilfe vor uns her, mal musste ich dir über eine Wurzel helfen, mal steckte einer meiner Reifen in einer Kuhle fest.

Insgesamt war es schon recht anstrengend, und da wir diesen Weg schon ewig nicht mehr genommen hatten, waren wir unsicher, ob wir uns vielleicht am Ende sogar verlaufen hatten. Mehr oder weniger erschöpft ließen wir die Gefährte stehen und setzten uns auf einen Baumstamm. „Ach“, seufzt du, „wir könnten jetzt so schön zu Hause sitzen, auf der Terrasse. Die Sonne geht schon unter, wir müssen uns beeilen, damit wir nicht in die Dunkelheit kommen.“ Und tatsächlich ist der Tag schon fortgeschritten und mit unseren schlechter werdenden Augen wäre es gar nicht gut, wenn wir diesen unwirtlichen Weg in der Dämmerung gehen müssten.

Also rappeln wir uns wieder auf, nicht ohne vorher zu beraten, in welcher Richtung wir am schnellsten wieder zu unserem Haus kommen. Den Weg zurückzugehen wie wir gekommen waren scheint die sinnvollste Lösung, allerdings haben wir da auch einige Bögen gemacht und könnten sicher abkürzen. „Aber wir kennen uns hier nicht gut aus, lass uns lieber den Weg genauso zurückgehen.“ Wenn das so einfach wäre. Das Licht hat vom strahlenden Sonnenschein zu einem verhaltenen rötlichen Sonnenuntergang gewechselt, in anderer Richtung sieht alles ganz anders aus. Und waren wir an der Kreuzung vorhin von links oder von rechts gekommen. Ich erinnere mich nicht genau, du bekommst langsam die Panik und ich muss dich beruhigen, dass wir wieder unsere gewohnte Route finde, obwohl ich selbst auch Angst bekomme. Hätte ich doch nur das Handy dabei, eine Karte oder mir ein paar Orientierungspunkte gemerkt. Aber diese Erkenntnis kommt im Moment zu spät, ich muss den Anführer spielen ohne den Weg zu kennen. Sind wir vorhin an diesem Holzstapel vorbeigekommen oder sollte ich diesen Jägerhochsitz wiedererkennen? Da vorne das Schild, was stand da noch drauf, ist es der Wegweiser zum Aussichtspunkt? Meine Kräfte lassen nach, schon wieder stoßen die Reifchen gegen irgendein Wurzelwerk. Dir geht es ähnlich, auf Asphalt ist die Fortbewegung für uns schwer genug, im Wald aber noch viel mühsamer.

Doch dann kommt uns doch der herannahende Abend zu Hilfe. Recht weit entfernt noch, aber doch deutlich zu erkennen sehe ich zwischen den Bäumen Laternen aufleuchten. Das macht Hoffnung, du hast es auch gesehen und wir nehmen unsere Kraft zusammen, während wir uns gegenseitig versichern, dass der Ausflug für uns alte Leute nun mal eine Herausforderung war. Aber eine, die wir auch noch gemeistert bekommen.

*

Ich liege im Bett, kann mich seit dem Schlaganfall nur noch sehr eingeschränkt bewegen. Meine Zunge macht nicht mehr so richtig mit, sprechen ist ziemlich anstrengend und an manchen Tagen gar nicht mehr möglich. Vermutlich auch durch die zahlreichen Medikamente bin ich dauerhaft müde und selbst das Denken fällt mir ausgesprochen schwer. Düstere Gedanken wechseln sich mit tiefer Traurigkeit ab, die Perspektivlosigkeit meiner verbleibenden Lebenszeit führt zu fortwährender Todessehnsucht und Selbstmordgedanken. Einzige Aufmunterung ist die ausländische Pflegerin, die Tag und Nacht mein Bett umschwärmt, mein Kissen hochzieht, mir einen Tee bringt und mich dabei jedes Mal liebenswürdig anstrahlt. Sie weckt Erinnerungen an meine aktive Zeit des Lebens, das Herumtollen im Park, erlebte Abenteuer und die Liebe zu meiner Frau. Dann schließe ich die Augen, es wird dunkel und die Dämmerung legt sich über meine Gedanken. Ich glaube mir gelingt noch ein Lächeln, während mein Geist sich in die Nacht verabschiedet.

[Andere Blogs: Interdisziplinäre GedankenDienstliche Glossen]

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