24 Dezember 2022

Stille Nacht in Engenhahn

Stille Nacht in Engenhahn
7:59 Uhr: Der Wecker springt an. Letzte Werbebotschaft kündet vom bevorstehenden Krippenfest. Die Nachrichten berichten von Energiepreiserhöhung und Weihnachtsgottesdiensten.
8:30 Uhr: Die Dusche bleibt kalt, weil eine Schmelzsicherung den Geist Gottes aufgegeben hat.
9:00 Uhr: Die Kinder Jonathan und Natalie haben aus der Bettwäsche Kostüme für den Weihnachtsmann gemacht. Die Gesichter sind mit Mamas sündhaft teurem Makeup über und über eingeschmiert und hinterlassen beim Toben auf dem hellen Ledersofa hässliche braune Spuren.
9:15 Uhr: WhatsApp von Tante Lisa, sie ist unterwegs und wird uns bei der Vorbereitung helfen. Unsere mehrfachen Ablehnungen ihrer desaströsen Handreichungen hat sie wie gewohnt ignoriert.
9:16 Uhr: Ich antworte Tante Lisa und schreibe ihr noch mal sehr deutlich, sie soll zu Hause bleiben.
9:19 Uhr: Meine Frau muss eingreifen, um den eskalierenden WhatsApp-Wechsel mit Tante Lisa wieder in den Griff zu bekommen.
9:56 Uhr: Ein Speditionslaster fährt auf der Straße vor und will uns 30 Weihnachtsbäume mit Express-Zuschlag liefern. Meine Frau beteuert ihr Unwissen, ich kann mich auch nicht an eine Bestellung erinnern. Inzwischen hat der Fahrer den Kran ausgefahren und lädt die Bäume auf den Bürgersteig. Erste Nachbarn sammeln sich, um das Schauspiel zu bestaunen.
10:03 Uhr: Bei der Zentrale der Speditionsfirma geht niemand ans Telefon, als Wartemusik läuft „Stille Nacht“, die Kinder begleiten die Musik aus der Freisprecheinrichtung mit schrägem Gesang und einer Plastik-Trompete.
10:15 Uhr: Der Laster ist wieder abgefahren, endlich geht eine überforderte Frau bei der Spedition ans Telefon und bestätigt die Lieferung. Rechnung sollte der Fahrer uns übergeben haben. Die Kinder singen immer noch „Stille Nacht“ und denken sich neue Strophen aus.
11:06 Uhr: Die Spedition ruft an, bei der Adresse hat es einen Fehler gegeben, falsche Postleitzahl und wir sollen die Bäume erst mal ins Haus holen, sie werden nach Weihnachten abgeholt.
11:30 Uhr: Tante Lisa trifft ein und bringt Onkel Helmut mit. Gemeinsam plündern sie die Bar und kommentieren wortreich den halbgeschmückten Weihnachtsbaum. Meine Frau versucht verzweifelt, die roten Christbaumkugeln von letztem Jahr zu finden, Kater Harry spielt mit den grünen Kugeln und wird von Jonathan am Schwanz durch die Wohnung gezogen.
11:37 Uhr: Natalie bekommt Hunger, Onkel Helmut sucht mit ihr nach Naschzeug zu seinem zweiten Rotwein. Dabei stolpert er über den Karton mit der Krippe und landet mit seinem Weinglas fluchend auf dem Teppich vor der Terrassentür.
12:00 Uhr: Zwei Nachbarn kommen vorbei und tragen die Weihnachtsbäume in die Diele. Ihr Rüde Hasso verängstigt unseren Harry so sehr, dass er sich mauzend in den Christbaum rettet. Dieser bekommt bedenkliche Schlagseite, erste Kugeln fallen herab und zerschellen auf dem Boden. Meine Frau versucht, den kippenden Baum aufzufangen und hat stattdessen den Kater im Arm. Natalie kommt schreiend ins Zimmer und läuft heulend auf Tante Lisa zu. Diese beruhigt sie mit einem Schluck Ramazotti und steckt ihr zerkrümelnde Salztstangen in den Mund.
12:45 Uhr: Die Szene beruhigt sich, der Baum steht wieder und die Nachbarn sind nach getaner Arbeit abgezogen. Als Dank haben sie sich an den Lebkuchen bedient, die für den Nachmittag aufgebaut waren. Die dunkle Stelle, an der Hasso auf den Läufer im Flur gepinkelt hat beginnt zu trocknen und der mit 28 Weihnachtsbäumen überfüllte Flur ist wieder einigermaßen passierbar.
14:30 Uhr: Opa Hanns will nun doch kommen und erwartet, dass er gleich abgeholt wird. Die Kinder sind begeistert, meine Frau schreit herum, weil wir keine Zeit für Transportdienste haben.
14:40 Uhr: Ich rufe meinen schwulen Freund Oskar an und bitte ihn, Opa Hanns abzuholen. Oskar windet sich, weil er seine Tage hat und sagt dann zu unter der Bedingung, dass er zum Abendessen bleibt und mit Jonathan und Natalie Weihnachtslieder singt.
15:20 Uhr: Tante Lisa ist übel, der Kaffee ist ihr nicht bekommen oder vielleicht sind es auch die Lebkuchen, jedenfalls krümmt sie sich und verlangt nach einem Arzt.
15:22 Uhr: Jonathan nimmt die Sache in die Hand und ruft beim Notarzt an, bevor ich ihm noch das Telefon aus der Hand reißen kann. Gerade kommt Onkel Helmut wieder in das Wohnzimmer und berichtet von einem Wasserschade auf der Gästetoilette.
15:23 Uhr: Während ich versuche, das Wasser abzudrehen hat meine Frau Tante Lisa so weit beruhigt, dass sie nun doch keinen Arzt braucht.
15:30 Uhr: Der Wasserschaden stellt sich als Verstopfung heraus, nachdem Tante Lisa sich übergeben hat und beim Nachspülen rollenweise Toilettenpapier in die Schüssel geworfen hat.
15:43 Uhr: Der Notarzt fährt vor und klingelt Sturm. Nachbarn schauen aus den Fenstern, einige Helfer von vorhin machen sich wieder auf den Weg zu unserem Haus.
15:50 Uhr: Es ist mir gelungen, den Notarzt und seinen Fahrer zu besänftigen, gegen ein kleines Trinkgeld und je einen Tannenbaum aus unserer Sammlung sind sie bereit, den Fehlalarm auf sich beruhen zu lassen.
16:10 Uhr: Oskar steht im Flur und bewundert die 25 verbliebenen Weihnachtsbäume. Er reserviert sich schon mal den schönsten und zeigt den Kindern, wie wundervoll es duftet, wenn man frische Tannenzweige über eine Kerze hält.
16:50 Uhr: Das Keyboard nebst Verstärker, Tiefbass und Mikrofon hat Oskar im Wohnzimmer aufgebaut, dafür musste er das Sofa auf die Terrasse schieben, er versichert mir, dass der Nieselregen dem Leder nichts ausmacht.
17:15 Uhr: Natalie will mit Tante Lisa die Baumspitze austauschen und bleibt mit dem Kleidchen in einem Zweig hängen, beim Lösen peitscht der Zweig in seine Ursprungslage zurück und schießt den an ihm hängenden Weihnachtsengel in die Glasvitrine, wo er seelig schlummernd zwischen den zerschmetterten Sektgläsern liegen bleibt.
17:58 Uhr: Der Rauchmelder im Kinderzimmer schlägt Alarm, nachdem Jonathan einen Tannenbaum mit dem Heißluftföhn erwärmt hat und der in Flammen steht.
18:01 Uhr: Ich hole einen Feuerlöscher aus dem Keller und stoße im Treppenhaus auf drei Nachbarn, die mir mit Bierflaschen zur Hilfe eilen wollen. Gemeinsam kämpfen wir uns durch die 21 Bäume zum Kinderzimmer vor, das Löschpulver verwandelt Kinderbett und Schreibtisch in eine romantische Schneelandschaft.
18:08 Uhr: Opa Hanns hat sein Hörgerät vergessen und bittet Oskar, die „Stille Nacht“ lauter zu spielen. Die Bässe von Oskars Lautsprecheranlage lassen das Haus erzittern, Harry flüchtet wieder auf den Tannenbaum, der erneut Schlagseite bekommt und Kugeln abwirft.
18:29 Uhr: Ein Vertreter des örtlichen Tierschutzvereins steht vor der Tür und wirft uns Tierquälerei an unserer Hauskatze vor. Nach Spende von 5 Weihnachtsbäumen für den Clubraum scheint ihm der Kater doch in guten Händen und einen Ramazotti mit Tante Lisa später wankt er gut gelaunt aus dem Haus.
18:45 Uhr: Unbemerkt ist meine Cousine Marie gekommen und verteilt aufgetakelte Weihnachtsgeschenke unter dem Christbaum, der nach seinem Kugelverlust inzwischen ein wenig schütter wirkt. Wie durch Zufall reißt ihr die Verpackung eines monströsen Bildes ein, auf dem sie nackt in erotischer Pose zu sehen ist.
18:53 Uhr: Onkel Helmut hat das Bild entdeckt, noch mehr vom Geschenkpapier entfernt und fummelt jetzt an seiner Hose herum. Tante Lisa nimmt die Kinder bei Seite und schenkt allen zur Ablenkung einen Prosecco ein.
19:05 Uhr: Eine Prozession vom Musikverein zieht mit Blasinstrumenten durch die Straße, intoniert „Stille Nacht“ und lässt sich in jedem Haus mit Getränken und Gebäck versorgen. Als Polonaise kommt die Kapelle auch durch unsere Wohnung und arbeitet sich grölend und jauchzend durch den Flur mit seinen 14 Weihnachtsbäumen.
19:20 Uhr: Oskar spielt auf Wunsch der Kinder „Stille Nacht“ und übertönt damit die Geräusche, die aus dem Schlafzimmer kommen, in das sich Onkel Helmut mit Marie verzogen haben.
19:30 Uhr: Meine Frau hat in der Küche die Häppchen mit Forelle fertiggemacht, unbemerkt legt sich Harry davon einen Vorrat im Katzenklo an und verteilt das Streu darüber. Ich versuche die nicht benötigten Kisten mit Baumschmuck und die Leiter wegzubringen, kann aber nicht am Sofa vorbei, dessen kurzes Teil nun wieder im Wohnzimmer steht, nachdem Opa Hanns es in zwei Teile zerlegt hat.
19:50 Uhr: Alle versammeln sich zum Familienfoto im Flur, jeder hat eine von den 9 Nordmanntannen im Arm. Oscar versteckt sich hinter seiner Tanne und postet das Foto auf Instagram und WhatsApp mit dem Hinweis auf seine Homo-Weihnacht bei Heteros, worauf ein Shitstorm losgeht, der meine Frau und mich als schwulenfeindliche Spießer brandmarkt.
20:23 Uhr: Der Ortsvorsteher schaltet sich in die Social-Media-Schlacht ein und versucht mit beschwichtigenden Worten unsere Reputation wieder herzustellen. Erst als ich anbiete, dass wir unsere Tannen in das Bürgerhaus bringen und Oscar dort „Stille Nacht“ spielen darf ebbt der verbale Sturm ein wenig ab.
21:04 Uhr: Natalie ist müde und will nun doch keine Bescherung mehr, nachdem sie den Eisbecher mit Tante Lisas Eierlikör aufgegessen hat. Jonathan beginnt seine Schwester abzuknutschen und erzählt lauthals, was Helmut und Marie in unserem Bett gemacht haben.
21:06 Uhr: Ich spüre ein unkontrolliertes Zucken im Gesicht, meine Hände fühlen sich taub an und vorbei am nahezu kugelfreien Baum im Wohnzimmer wanke ich auf Opa Hanns zu, der sich zu einem Cognac eine dicke Havanna angesteckt hat und damit die Luft verpestet.
21:08 Uhr: Tante Lisa macht Onkel Helmut eine Szene und verlangt sofortige Wiedergutmachung, Oscar klatscht Beifall und meine Frau holt hektisch Mantel und Jacke für die beiden Verwandten. Keifend ziehen sie sich an und verlassen wankend das Haus, nicht ohne die Nachbarn noch mal über die zahlreichen Verfehlungen der Vergangenheit aufzuklären.
21:35 Uhr: Die Kinder spielen Verstecken, dabei bricht ein Boden im Vorratsschrank unter Natalies Gewicht zusammen, so dass der darunter stehende Rumtopf umfällt und seinen Inhalt im Raum verteilt. Harry ist sofort zur Stelle und schleckt die alkoholische Flüssigkeit auf, während sich Jonathan über die Kirschen hermacht.
21:55 Uhr: Ruhe legt sich über unsere Wohnung, nachdem Oscar zum Bürgerhaus gezogen ist, Marie einen Nachbarn abgefangen hat und mit in sein Haus schlendert, die Kinder eingeschlafen sind und Opa Hanns leise vor sich hinsummt zur „Stille Nacht“, die aus dem Bürgerhaus zu uns herüberweht.

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