Ich bin die Scheibe vor dem Badezimmer. Ich verbringe schon seit vielen Jahren meine Tage damit mich unsichtbar zu machen und abwechselnd nach draußen und nach drinnen zu schauen. Nachts genieße ich den Ausblick in den Garten und bei Neumond schlafe ich manchmal sogar dabei ein. Aber früh morgens, wenn das Ehepaar aufsteht, dann wird es von innen hell und ich bin sofort wach. Immerhin ist es dann meist noch so dunkel, dass ich nicht besonders durchscheinend sein muss. Von drinnen kann man zu der Uhrzeit ohnehin kaum nach draußen schauen.
Also nutze ich die Gelegenheit und schaue den Menschen zu, die jetzt im Bad herumlaufen. Sie putzen die Zähne, eine der Personen rasiert sich im Gesicht, die andere sucht im Badezimmerschrank herum. Dann ziehen sie ihre Schlafanzüge aus und stellen sich unter die Dusche. Ich schaue zu, wie sie die Haare waschen, sich einschäumen und das Wasser über den Körper laufen lassen.
Es erinnert mich an Regen, der an manchen Tagen gegen mich peitscht und kann die zufriedenen Gesichter der Duschenden gar nicht verstehen. Fast scheint es so, als ob sie freiwillig diese unangenehme Feuchtigkeit an ihren Körper lassen. Und dabei zügig immer wacher und lebhafter werden.
Jetzt gehen die beiden auch noch aufeinander zu, nehmen sich in den Arm und halten sich erst mal fest, bevor sie sich abtrocknen. Das geht nun wirklich zu weit, am liebsten würde ich gegen mich klopfen, damit dieses illustre Spiel ein Ende hat und sie sich zum Frühstück sputen. Aber leider bin ich im Rahmen eingespannt, so dass ich keinen Laut von mir geben kann.
Endlich gehen sie wieder zur gewohnten morgendlichen Eile über, abtrocknen, eincremen, anziehen und noch ein Makeup auftragen. Dann wird es leer im Badezimmer und ich kann wieder einen Blick nach draußen werfen. Ich liebe diese Phasen, wenn Ruhe einkehrt, meditativ kann ich mich endlich wieder mit meinem Leben als Fensterscheibe beschäftigen.
Ja, denke ich, amorph bin ich und glasklar ist nicht nur meine Erscheinung, sondern auch mein Geist. Diese wundervolle Kombination aus scheinbarer Stabilität, die aber doch einen (wenn auch ganz langsamen) Fluss in sich trägt, der ihre Form im Laufe der Jahre nahezu unmerklich verändert. Dazu die Beständigkeit und chemische Reaktionsträgheit in Vereinigung mit der Eigenschaft, bei Einwirkung von Gewalt in tausend Stücke zu zerspringen.
Draußen ist jetzt Tag, es ist hell, der Garten noch ein wenig winterlich kahl. Mein Leben ist viel langfristiger angelegt, wenn ich nicht zwischendurch irgendwelchen Beschädigungen oder Renovierungen zum Opfer falle. Schon so viele Winter habe ich gesehen, so oft das Absterben der Pflanzen im Herbst und das neue Sprießen im Frühjahr erlebt. Und auch das Ehepaar ist nicht das erste, das sich vor mir entblößt und mit seinen Ritualen in den Tag startet oder den Schlaf vorbereitet.
Der schnelle Rhythmus der Tage, der jährliche Zyklus der Natur, die Generationen der Menschen und die langen Leben der Bäume ziehen an mir vorüber, während ich mich noch nicht einmal mehr an meine Entstehung in der Glasschmelze erinnern kann. Ein Leben möglicherweise ohne Anfang, vielleicht war ich vorher schon ein Glas und wurde recycelt.
So hänge ich meinen Gedanken nach und merke gar nicht, wie es langsam Mittag wird. Die Sonne hat schon ein wenig Kraft und es wird draußen wärmer. Die Spannungen zur Innenseite nehmen ab, auch der Rahmen gibt jetzt eine wohltuende Wärme ab. Ich recke mich ein ganz klein wenig, dehne mich unter Einfluss der zunehmenden Temperatur etwas aus und schmiege mich an den Rahmen, der seine Größe deutlich weniger verändert.
Gerade kommt wieder jemand in das Badezimmer, es gab wohl Mittagessen und die Zähne werden noch mal gereinigt. Es ist spannend, diese Aktivität zu verfolgen, eine kleine Abwechslung, über die ich in den nächsten Stunden nachdenken kann. Die längste Zeit ist dann normalerweise bis zur Bettruhe. An manchen Tagen kommt dann mal jemand und holt irgendetwas aus dem Badezimmerschrank, bringt etwas oder nimmt sich Verbandszeug.
Aus meiner Erfahrung ist das am Wahrscheinlichsten, wenn ich vorher im Garten Bewegung sehe. Dann sind da Leute, die an den Pflanzen herumwerkeln, hier Blumen pflanzen und dort Äste abschneiden. Kleine oder mittelgroße Blessuren sind dann geradezu vorprogrammiert und es dauert nicht lange, bis irgendwer mit Blut an den Fingern hereingestürzt kommt. Dann schaue ich abwechselnd nach draußen und drinnen, versuche den weiteren Verlauf zu erraten und frage mich, ob die Gartenarbeit gleich fortgesetzt wird.
Doch jetzt ist Winter, da liegt der Garten brach und die Unfälle sind höchst selten. Insofern sehr geruhsame Nachmittage, an denen ich in Urlaub fahren könnte, wäre da nicht die Kälte auf der Außenseite abzuhalten. Der fortwährende Kampf gegen den Wärmedurchgang kann natürlich nicht einfach pausieren. Es ist mir klar, dass ich sofort ausgetauscht werde, wenn ich diese Funktion nicht mehr vollständig erfülle.
Aber ich bin stolz darauf, dass ich auch in meinem hohen Alter immer noch so klar bin, die Energie der Sonne für die Erwärmung des Innenraumes zu nutzen weiß und die Kälte dort belasse, wo die Menschen sie haben wollen. Ein Blick noch mal zur ruhenden Badewanne, dem spiegelnden Waschbecken und den Parfümflakons. Alles hat seine Ordnung, ich kann mal ein wenig einduseln.