27 Dezember 2024

Ja, wer gewinnt denn da?

Spieleabend. Sitzkreis und jeder hat einen Würfel in der Hand. Markus hat bisher die meisten Punkte abgeräumt, aber das Blatt kann sich noch wenden. Wir stoßen miteinander an, eine fröhliche Runde und keiner nimmt das Spiel allzu ernst.

Wer gewinnt denn da

Obwohl, das darf man nicht so global behaupten. Nach Sekt und Häppchen ist die Stimmung zwar gelockert, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass wir auch zwanghafte Gewinnertypen unter uns haben. Und zu denen zählt dummerweise noch nicht mal Markus.

Stefan ist ein netter Zeitgenosse, hilfsbereit, liebenswürdig und in den meisten Lebenslagen auch recht humorvoll. Es sei denn, irgendetwas riecht nach Wettkampf. Egal, ob er als letzter immer noch auf dem Crosstrainer steht, als erster die Kassenschlange hinter sich gebracht hat oder beim Tischkicker die meisten Tore erzielt.

Während der restliche Trupp sich auf die nächste Lieferung aus der Küche stürzt, ist er ziemlich unentspannt, knetet seine Handballen, wirft zum dritten Mal einen Blick auf die Karten und den Würfel. Auch dass Wolfgang ihm auf die Schulter schlägt, ihn einen alten Recken nennt und ihn mit irgendeiner lustigen Anekdote aufziehen will, entschärft die Situation nicht.

Nein, relaxen geht so nicht, selbst den etwas unsensiblen Zeitgenossen fällt auf, dass eine merkliche Spannung in der Luft liegt. Wenn es so weitergeht und Markus gewinnt, ist der Abend für alle gelaufen. Aber will man ihm deshalb das Spielfeld überlassen? Hin- und hergerissen zwischen dem Erhalt der guten Laune und dem Gegenhalten gegen die Diktatur eines Einzelkämpfers bilden sich unsichtbar Fraktionen am Tisch.

Doch dann die Rettung: Ulla verkündet, dass wir den Spielmodus ändern. Wir sollen nicht mehr einzeln, sondern als kleine Teams weiterspielen. Zur Gruppenbildung wird abgezählt und wie von Zauberhand landet Stefan in einer Gruppe mit Markus. Uff, gemeinsam haben sie die meisten Punkte und sind auf der Gewinnerstraße.

Alle atmen tief durch, springen auf und tanzen um den Spieltisch herum, auf dem die Karten jetzt durcheinander wirbeln und damit kaschieren, ob sich doch noch ein anderes Ergebnis ergibt.

25 Dezember 2024

Weihnachtsfest (2024)

W
ährend die ersten Schneeflocken sanft auf die Erde fallen, bereite ich mich mental auf Weihnachten vor.

Ein fröhliches Treiben auf der Straße, trotz der Kälte sind viele Herrchen und Frauchen mit ihren Hunden unterwegs.

In der Luft liegt ein Hauch von frisch gebackenen Plätzchen und heißem Glühwein, den mein Nachbar gegenüber spontan zubereitet hat und nun den vorbeigehenden Bewohnern anbietet.

Häuser werden festlich geschmückt, und die Kinder können es kaum erwarten, den Weihnachtsmann zu sehen.

Nachts bei sternenklarem Himmel kommen die Kerbeborsche zusammen, brauen sich heißen Apfelwein und machen im Jugendraum Party.

Adventlich hat der Verkehrs- und Verschönerungsverein den Weihnachtsbaum am alten Rathaus geschmückt.

Chorgesang klingt von der kleinen Kirche herüber und sorgt für ein winterliches Gänsehautfeeling.

Hirtenfiguren stehen stumm und starr in der Krippe der kleinen Kirche und lassen nur erahnen, dass sie jeden Tag ein wenig in Richtung Jesuskind vorbewegt werden.

Tief in der Nacht, wenn alle schlafen, schleicht ein als Weihnachtsmann verkleideter Student durch die Straßen und trägt die Post für den Folgetag aus.

Schon bald in der Morgendämmerung folgt ihm der Paketfahrer, ebenfalls mit einer roten Mütze auf dem Kopf.

Für Weihnachten ist nun alles gerüstet, festlich leuchtet der Christbaum im Wohnzimmer, darunter die in den letzten Wochen gelieferten und gebastelten Geschenke.

Ein Lächeln breitet sich auf den Gesichtern aus, nach dem Trubel der letzten Tage vor Weihnachten kehrt nun Ruhe ein.

Selbst Weihnachtsmuffel halten inne, immerhin versüßt auch ihnen allerlei Gebäck und aufwändige Kochkunst die arbeitsfreien Tage.

Tatsächlich empfinde ich Weihnachten traditionell als Meilenstein im Jahr, der Höhepunkt der Besinnlichkeit und Ausgangspunkt, um langsam Anlauf zu nehmen auf den Jahreswechsel.

20 Dezember 2024

Sechsender (4/4)

Intro

Am Kassenband im Supermarkt. Vor mir steht ein Mann mit Pferdeschwanz, Outdoorjacke und einer leicht verwitterten Mütze auf dem Kopf. Er lädt den Inhalt seines hoch gefüllten Einkaufswagens auf das Band, ohne Zweifel ist es ein Wocheneinkauf mit allerlei Gemüse, Obst, Brot und diversen Backzutaten. Ich male mir aus, was er wohl aus den Zutaten alles bereiten wird, stelle mir vor, ob er kochen und backen kann, oder ob es eine andere Person in seinem Haushalt gibt, die den Einkauf zu Malzeiten verarbeitet.

Ich hole mein Handy heraus, um die Kundenkarte aufzurufen und mich gleich auf das Be- und Entladen des Kassenbandes konzentrieren zu können. Nach dem Starten der App schaue ich wieder hoch und wundere mich darüber, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz verschwunden ist. Oder hat er sich in die Blondine verwandelt, die jetzt vor mir ist? Nein, tatsächlich ist der Outdoor-Man noch vor mir, nur dazwischen ist jetzt eine weitere Person in der Schlange. Ähm, wie konnte das sein?

Sechsender 4

Ende 1 - Ende 2&3 - Ende 4&5

Variation / Ende 6

Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Nein, mir ist nichts entgangen, da hat sich eine Person ziemlich dreist vorgedrängelt. Während ich darüber nachdenke, dass Kommunikation weit überschätzt wird, entschließe ich mich, nonverbal zu reagieren. 

Ich drehe mich zur Seite, konzentriere mich auf das Kassenband und schiebe meinen Einkaufswagen mit leichtem Schwung nach vorne, wo er auf die weiche Rückseite meiner neuen Nachbarin stößt. Sie dreht sich um, schaut mich wütend „können Sie nicht aufpassen“, aber ich setze eine Unschuldsmiene auf. „Verzeihung“, strahle ich sie an, „ich habe gar nicht gemerkt, dass sie sich plötzlich vor mich gestellt haben.“

Einen Moment ist sie sprachlos, ich setze nach: „Gerade war noch der Herr mit der Mütze vor mir, da war noch genügend Platz. Keine Ahnung, woher Sie auf einmal kommen, aber das können Sie mir bestimmt erklären.“

Sie wählt die Flucht nach vorne und erklärt lautstark, dass ich ein Grobian wäre. Ich amüsiere mich innerlich über dieses altmodische Wort und muss grinsen, weil ich mir ausmale, dass sie mich gleich wohl als Wüstling bezeichnen wird. Aber so weit kommt es nicht, denn nun mischt sich der Kunde hinter mir ein. Was mir einfiele, der Frau in die Hacken zu fahren. Was er aber noch nicht fertig ausgesprochen hat, als der Mann mit der Mütze sich ebenfalls einmischt und bestätigt, dass die Frau sich dazwischen gedrängelt hat.

Der Ton wird schärfer, ich halte mich raus, auch wenn es eigentlich meine Angelegenheit war. Auch die Kassiererin schaut betont unbeteiligt auf ihre Kasse und mischt sich nicht in das Scharmützel ein. Denn tatsächlich drückt sich jetzt der Mützenträger an mir vorbei und geht auf meinen Hintermann los und schubst ihn nach hinten.

Jetzt schreit die dahinter stehende Frau los. Sie hat ihren Einkaufswagen durch den rückwärts torkelnden Mann gegen den Bauch bekommen und macht lautstark Theater. Der Filialleiter kommt gelaufen, kann aber die beiden Streithähne nicht schnell genug besänftigen, schon boxt der eine dem anderen in den Magen, die darum stehenden Kunden versuchen entweder sich aus der Szene herauszuhalten, Partei zu ergreifen oder die Kampflustigen zu trennen.

Unbemerkt hat die Blondine den Wagen vom Mützenmann zur Seite geschoben, ihre Artikel kassieren lassen und auch ich kann meine Sachen bezahlen und in den Wagen räumen. Noch während ich aus dem Laden eile, höre ich das Geschrei der beiden Männer, die jetzt aber nur noch mit Worten aufeinander losgehen und vermutlich langsam wieder zur Ruhe kommen.

13 Dezember 2024

Sechsender (3/4)

Intro

Am Kassenband im Supermarkt. Vor mir steht ein Mann mit Pferdeschwanz, Outdoorjacke und einer leicht verwitterten Mütze auf dem Kopf. Er lädt den Inhalt seines hoch gefüllten Einkaufswagens auf das Band, ohne Zweifel ist es ein Wocheneinkauf mit allerlei Gemüse, Obst, Brot und diversen Backzutaten. Ich male mir aus, was er wohl aus den Zutaten alles bereiten wird, stelle mir vor, ob er kochen und backen kann, oder ob es eine andere Person in seinem Haushalt gibt, die den Einkauf zu Malzeiten verarbeitet.

Ich hole mein Handy heraus, um die Kundenkarte aufzurufen und mich gleich auf das Be- und Entladen des Kassenbandes konzentrieren zu können. Nach dem Starten der App schaue ich wieder hoch und wundere mich darüber, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz verschwunden ist. Oder hat er sich in die Blondine verwandelt, die jetzt vor mir ist? Nein, tatsächlich ist der Outdoor-Man noch vor mir, nur dazwischen ist jetzt eine weitere Person in der Schlange. Ähm, wie konnte das sein?

Sechsender 3

Ende 1 - Ende 2&3

Variation / Ende 4

Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Aber das verwerfe ich wieder, schließlich fehlt das Trennholz zwischen unseren Einkäufen auf dem Kassenband. Ich muss schmunzeln, ist es nicht süß, mit welcher Unschuldsmine die Blondine sich ihren Vorteil ergaunert hat? „Huhu“, rufe ich ihr zu, „heute ist ihr Glückstag! Eigentlich würde ich Sie jetzt öffentlich auf dem Marktplatz mit überreifen Tomaten bewerfen, aber Gnade vor Recht… lassen Sie Ihren Einkauf ruhig auf dem Band, wenn Sie mir nachher eine der Chipstüten spendieren.“

Die Frau dreht sich herum, ist irritiert und wartet, ob ich sie hochnehme, anmache, anpöble oder flirte. Sie entscheidet sich für die erste Variante, lächelt mich an und nach kurzem Zögern „Deal!“. Jetzt müssen wir beide lachen, ich schenke ihr die Chipstüte zurück und rate ihr, diesen Trick nicht zu oft zu wiederholen.

Variation / Ende 5

Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Aber das verwerfe ich wieder, schließlich fehlt das Trennholz zwischen unseren Einkäufen auf dem Kassenband. Ganz vorsichtig pirsche ich mich von hinten an die Frau heran, mache mit meinen Händen eine Tüte vor meinem Mund und sage mit der Stimme von Darth Vader: „Ich bin nicht dein Vater. Ich bin dein schlechtes Gewissen.“

Überrascht, um nicht zu sagen entsetzt wirbelt die Frau herum. Ich schaue in aufgerissene Augen, oh Gott, ich habe sie wirklich erschreckt. Im nächsten Moment hat sie sich gefangen, blinzelt mich an und schwankt zwischen Entsetzen und Lachen. Noch einen Augenaufschlag später hat sie die ganze Szene erfasst, jetzt schwankt sie zwischen Entrüstung und Entschuldigung.

Der Spaß ist mir gelungen, ich grinse sie an, erkläre ihr, dass ich gar kein Star Wars Fan bin, aber ihre forsche Überholaktion galaktisch gut fand. Wieder braucht sie einen Moment, um den witzigen Übergang von Star Wars zum Adjektiv "galaktisch" zu kapieren. Langsam scheint ihr zu dämmern, dass sie als Strafe für ihr Vorgehen zwar das Opfer eines Spaßvogels geworden ist, dass sie aber mit keinen weiteren Konsequenzen rechnen muss.

06 Dezember 2024

Sechsender (2/4)

Intro

Am Kassenband im Supermarkt. Vor mir steht ein Mann mit Pferdeschwanz, Outdoorjacke und einer leicht verwitterten Mütze auf dem Kopf. Er lädt den Inhalt seines hoch gefüllten Einkaufswagens auf das Band, ohne Zweifel ist es ein Wocheneinkauf mit allerlei Gemüse, Obst, Brot und diversen Backzutaten. Ich male mir aus, was er wohl aus den Zutaten alles bereiten wird, stelle mir vor, ob er kochen und backen kann, oder ob es eine andere Person in seinem Haushalt gibt, die den Einkauf zu Malzeiten verarbeitet.

Ich hole mein Handy heraus, um die Kundenkarte aufzurufen und mich gleich auf das Be- und Entladen des Kassenbandes konzentrieren zu können. Nach dem Starten der App schaue ich wieder hoch und wundere mich darüber, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz verschwunden ist. Oder hat er sich in die Blondine verwandelt, die jetzt vor mir ist? Nein, tatsächlich ist der Outdoor-Man noch vor mir, nur dazwischen ist jetzt eine weitere Person in der Schlange. Ähm, wie konnte das sein?

Sechsender 2

Ende 1

Variation / Ende 2

Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Aber das verwerfe ich wieder, schließlich fehlt das Trennholz zwischen unseren Einkäufen auf dem Kassenband. Ganz vorsichtig spreche ich den Rücken mit "Entschuldigung, hatte ich Sie vorgelassen?" an, die Frau wirbelt herum und wird rot. "Oh", stammelt sie, "ich war wohl in Gedanken und habe Sie gar nicht gesehen." Mit einem verführerischen Augenaufschlag setzt sie nach "darf ich trotzdem von Ihnen bleiben?"

Wie sollte ich da wiederstehen, es war zwar ein ziemlich plumper Antritt, aber naja, ich verliere nicht viel Zeit und mit dem Abnehmen meiner Verblüffung habe ich jetzt Gelegenheit, mich als großzügiger Mensch zu zeigen. "Das war zwar eigentlich nicht so vorgesehen“, sage ich ganz leise zu ihr, fast flüsternd, „aber wo sie schon mal da stehen und mit den paar Einkaufssachen dürfen Sie vor.“

Tatsächlich schafft sie es, noch einmal rot zu werden, also entweder ist sie eine begnadete Schauspielerin oder es ist ihr wirklich unangenehm. Jedenfalls schaue ich sie noch mal an, freue mich über meine Großherzigkeit, kann jetzt auch ihre hübschen Haare noch mal genießen und bin fast der Meinung, dass sie auch angenehm duftet. So in Gedanken versunken registriere ich nur am Rand, das meine Artikel jetzt vollständig auf dem Band sind, die App gestartet ist und der Kassiervorgang begonnen hat. Meine unfreiwillige Vorkundin dreht sich noch mal um, nickt mir freundlich zu und wünscht einen guten Tag – den ich jetzt bestimmt haben werde.

Variation / Ende 3

Ganz vorsichtig spreche ich den Rücken mit "Entschuldigung, hatte ich Sie vorgelassen?" an, aber keine Reaktion. Ich wiederhole meine Frage noch einmal, wieder keine Reaktion. Das finde ich ja jetzt schon ziemlich ärgerlich, erst vordrängeln und sich dann auch noch blind und taub stellen.

Einen Schritt vor, ich tippe der Frau auf die Schulter. Sie dreht sich zu mir um, Sonnenbrille im Gesicht, aber sie scheint mich nicht zu sehen. Hat sie Drogen genommen oder sonstwie ausgeschossen? In diesem Moment sehe ich die Binde an ihrem Arm, die gelben Punkte signalisieren ihre Augenprobleme. „Ja?“ fragt sie, „Was ist denn?“

Es ist mir ziemlich peinlich, dass ich die Binde nicht vorher wahrgenommen habe, natürlich kann sie gar nicht gesehen haben, dass ich vor ihr am Kassenband stand. Natürlich kann ich sie jetzt nicht wegscheuchen, ihre paar Einkaufsteile soll sie mal vor mir bezahlen. Und ich kann sie auch nicht auf den Fehler hinweisen, vermutlich ist es ihr unangenehm, wenn ich sie darauf hinweise, dass sie durch ihre körperliche Einschränkung etwas falsch gemacht hat.

Ich suche nach einer Ausrede für mein Verhalten und sage: „Ach, ich wollte nur sehen, ob Sie noch mehr Platz für Ihren Einkauf auf dem Kassenband brauchen.“ Nicht ganz überzeugend, ich weiß, aber immerhin ist das Thema damit erledigt. Sie dreht sich wieder nach vorne und rückt ganz langsam in Richtung Kasse vor. Von dort kommt ihr jetzt ein junger Mann entgegen, der sich an dem Mann mit Pferdeschwanz vorbeidrückt und bei ihr stehenbleibt. „Wie bist du denn plötzlich so schnell nach vorne gekommen?“ will er wissen.

„Ich habe mal gefühlt und das Band war leer, da habe ich meine Sachen draufgelegt – wieso fragst du?“ – „Schon ok“, sagt der junge Mann, wendet sich zu mir mit entschuldigendem Gesichtsausdruck und will schon den Mund aufmachen, als ich nicke und eine beschwichtigende Handbewegung mache. „Alles gut“, sage ich. „alles gut.“

29 November 2024

Sechsender (1/4)

Intro

Am Kassenband im Supermarkt. Vor mir steht ein Mann mit Pferdeschwanz, Outdoorjacke und einer leicht verwitterten Mütze auf dem Kopf. Er lädt den Inhalt seines hoch gefüllten Einkaufswagens auf das Band, ohne Zweifel ist es ein Wocheneinkauf mit allerlei Gemüse, Obst, Brot und diversen Backzutaten. Ich male mir aus, was er wohl aus den Zutaten alles bereiten wird, stelle mir vor, ob er kochen und backen kann, oder ob es eine andere Person in seinem Haushalt gibt, die den Einkauf zu Malzeiten verarbeitet.

Ich hole mein Handy heraus, um die Kundenkarte aufzurufen und mich gleich auf das Be- und Entladen des Kassenbandes konzentrieren zu können. Nach dem Starten der App schaue ich wieder hoch und wundere mich darüber, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz verschwunden ist. Oder hat er sich in die Blondine verwandelt, die jetzt vor mir ist? Nein, tatsächlich ist der Outdoor-Man noch vor mir, nur dazwischen ist jetzt eine weitere Person in der Schlange. Ähm, wie konnte das sein?

Sechsender

Ende 1

Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Aber das verwerfe ich wieder, schließlich fehlt das Trennholz zwischen unseren Einkäufen auf dem Kassenband. Ganz vorsichtig spreche ich den Rücken mit "Entschuldigung, hatte ich Sie vorgelassen?" an, aber keine Reaktion. Die Blondine schaut ungerührt nach vorne, legt noch die letzten Artikel aus ihrem Einkaufsbeutel auf das Band und tut so, als ob sie mich nicht gehört hätte.

Mein Blutdruck steigt, ich drücke mich um meinen Einkaufswagen herum und tippe der Frau auf die Schulter. Sie fährt herum, irgendwas zwischen überrascht und entrüstet, fast muss ich froh sein, dass ich keine Ohrfeige bekomme. In ihr wütendes Gesicht wiederhole ich meine Frage; Ohne darauf zu antworten keift sie lautstark herum und beschwert sich über meine Übergriffigkeit. Ohne mich aufzuregen will ich noch mal von ihr wissen, wie sie vor mich gekommen ist. Sie habe mich nicht gesehen, und was die Frage solle.

Ein Blick auf das langsam vorlaufende Kassenband zeigt ihre wenigen Artikel, es lohnt sich nicht, weiter mit ihr herumzustreiten. Da dreht sich der Pferdeschwanz vor ihr in Zeitlupentempo um. Schaut sie an, schaut mich an und sagt dann leise, aber völlig bestimmt "Der Mann war hinter mir, Sie haben sich vorgedrängelt. Stellen Sie sich hinten an." Jetzt ist es an der Blondine, irritiert zu schauen, eine überraschende Wendung der schon sicher geglaubten Mogelei. Maulend über die unrechtmäßige Verbündung der Männer schaut sie mich an, wohl erwartend, dass ich ihr Verhalten nachträglich legitimiere und ihr den Vortritt lasse.

Das hätte vorher vielleicht noch geklappt, aber weder möchte ich den Cowboy enttäuschen, noch ist ihre Art akzeptabel. "Sie haben es gehört, bitte stellen Sie sich hinten an" wiederhole ich die Aufforderung und schaue zu, wie sie schimpfend ihren Einkauf zurück in den Einkaufsbeutel packt. Vor mir entsteht jetzt eine Lücke und die Schlange hinter mir ist recht lang.

Wie zu erwarten bekommt sie jetzt Schützenhilfe von einer älteren Frau, die zwei Wagen hinter mir steht. Selbstverständlich lässt sie sie vor mit ihren paar Teilen und wie können die Männer heutzutage nur so unhöflich sein. Kein Wort davon, dass sie damit den Willen der hinter ihr wartenden Kunden ignoriert (die ja jetzt ungefragt auch die Blondine vorlassen müssen), kein Wort davon, dass meine ehemalige Vorgängerin mit ihrem Vormogeln erst den Ärger ausgelöst hat und damit die eigentlich Unhöflichkeit darstellte.

Wenige Augenblicke später ist der Mann abkassiert, meine Waren wechseln mit flinken Händen vom Band in den Wagen, ich bezahle und verlasse den Laden, ohne mich noch einmal umzuschauen. Im Theater würde man sagen "der Vorhang fällt", Ende der kleinen Szene, die aber in mir auch während der Heimfahrt nachwirkt.

22 November 2024

Das Märchen vom Zauberer und seinem Raben

Es war einmal ein Zauberer, der hatte einen großen schwarzen Raben. Eigentlich war der Zauberer überhaupt kein Zauberer, denn er konnte keine Wunder vollbringen, den Menschen keinen Zaubertrank verabreichen oder magische Vorgänge einleiten. Aber es gefiel ihm, einen spitzen schwarzen Hut zu tragen und mit seinem hageren Gesicht und dem langen Bart wirkte er tatsächlich ein wenig unheimlich.

Dazu kam, dass er in einem rustikalen Holzhaus wohnte, das am Waldesrand stand und von Zeit zu Zeit mit dem Rauch aus dem Ofen auf sich aufmerksam machte. Seine Leidenschaft war die Anfertigung von natürlichen Heilgetränken, er mischte Zutaten, zerkleinerte Kräuter und kochte allerlei Essenzen, die äußerlich oder innerlich Linderung bei den verschiedensten Krankheiten brachten. Die Rezepturen bekam er aus seiner über die Jahrzehnte zusammengetragenen Literatur, aber auch aus Experimenten, die er an sich, Tieren und manchmal Dorfbewohnern durchführte.

Wegen seines behutsamen Vorgehens und aufgrund seines enormen Wissensschatzes war er allseits beliebt und wurde gerne konsultiert, wenn es um die Behandlung körperlicher Gebrechen ging. Das war den Ärzten zwar ein Dorn im Auge, aber da es ihm immer gelang zumindest keine Verschlechterung, meist sogar eine deutliche Verbesserung herbeizuführen kamen sie in der Praxis nicht an ihm vorbei.

Eine sehr wichtige Hilfe war ihm sein Rabe. Diesen hatte er vor vielen Jahren schwer verletzt gefunden, weil er sich in einer Schlinge verfangen hatte. Irgendein böser Mensch hatte ihm eine Falle gestellt und er war mit einem seiner Füße in der Schlinge hängengeblieben. Beim Versuch sich zu befreien hatte er dann vor lauter Panik das Beinchen so stark verletzt, dass es sich nicht mehr bewegen ließ. In diesem bedauernswerten Zustand hatte der Zauberer ihn gefunden, aus der Schlinge herausgeschnitten und mit nach Hause genommen, wo er ihn wieder aufpeppelte.

Der Rabe war zunächst voller Groll über die gemeine Tat, die ihm zum Verhängnis geworden war. Noch während er in seinem provisorischen Nest langsam wieder zu Kräften kam, schimpfte er den lieben langen Tag über die Bösartigkeit der Menschen und seine Schmerzen. Sein Leben war zerstört, seine Lebensfreude genommen.

Abgesehen vom permanenten Geschrei des Vogels war der Zauberer über dieses traurige und lebensmüde Jammern sehr betrübt. Er begann, auf den Raben einzureden, auch wenn dieser ihn natürlich nicht verstand. Aber die Botschaft, die fortwährende Beschäftigung mit ihm und die beruhigende Stimme erzielten nach einiger Zeit eine heilende und aufbauende Wirkung. Nach einigen Tagen ließ das Geschrei nach und der Rabe begann, dem Zauberer zuzuhören.

Es dauerte Monate, bis er erste Brocken der menschlichen Sprache verstehen konnte, aber nach und nach kamen immer wieder einige neue Wörter dazu. Was er schon früh verstand, war die Aufforderung, sich nicht weiter in den nun mal unvermeidlichen Schmerz zu steigern. Vielmehr hatte der Zauberer eine neue Aufgabe für ihn ersonnen und wollte ihn als Bote neuer Rezepturen einspannen. Dafür wäre das zweite Bein zwar vielleicht hilfreich gewesen, es war aber nicht unbedingt notwendig.

Erste Flugversuche und halbwegs sanfte Landungen verliefen vielversprechend. Dem Raben wurde klar, dass er mit seiner neuen Aufgabe etwas Einzigartiges für den Zauberer erledigen konnte. Sein Leben bekam wieder einen Sinn, die Trauer über sein früheres Leben verblasste zusehends. Stattdessen übte er in dem kleinen Haus des Zauberers das Aufstehen mit einem Bein, Abflug und Landung. Und saß nun jeden Tag auf der Schulter des alten Mannes und schaute dabei zu, wie er Kräuter häckselte, zum Trocknen aufhängte oder den Mörser befüllte.

Es mag ein ganzes Jahr nach dem tragischen Unfall gewesen sein, als er auf Geheiß des Zauberers vorsichtig durch offene Tür hüpfte und mit ein paar unbeholfenen Sprüngen zum Start ansetzte. Und tatsächlich, er konnte fliegen, sah das kleine Holzhaus unter sich liegen, drehte eine Runde und orientierte sich in der näheren Umgebung. Vorher hatte er sorgfältig die Karten auf dem Küchentisch studiert und konnte so nicht nur den Weg zum Dorf, sondern auch die Häuser, Kirche und Gasthaus erkennen.

Zunächst waren die Menschen überrascht, wenn sie den Raben sahen, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn, nahmen ihm von seinem steifen Bein die Botschaft ab, die der Zauberer ihm mitgegeben hatte und beluden ihn für den Rückweg mit kleinen Päckchen oder Papierrollen. Nach und nach wurde er zu einer Brücke zwischen dem Eigenbrötler in seinem Holzhaus am Waldesrand und der lebhaften Geselligkeit auf dem Dorfplatz. Die Kinder winkten ihm schon von weitem zu und er war sehr beliebt bei allen.

So hatte sich sein Leben komplett gedreht. Einen kurzen Moment lang war er mit jungen Jahren schon dem Tode geweiht, hatte dann aber Glück gehabt und eine Chance erhalten, ein ganz außergewöhnliches Leben zu führen. Ein glückliches Leben, das er ohne sein furchtbares Schicksal nie kennengelernt hätte.

Und so konnte er dem Zauberer noch mehrere Jahrzehnte hilfreich zur Seite stehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

15 November 2024

Herbstspaziergang

Es ist alles nebelfeucht. Die Kälte dringt nach wenigen Schritten hinter der Haustür schon durch meine Jacke, schonungslos kühlt sie meine Hände aus. Auf der Straße die Blätter, an einigen Stellen als dünne Schicht, dann wieder als kleine Haufen. Die Bäume kahl, wie um Gnade bettelnd strecken sie ihre dürren Äste in den Himmel.

Herbstspaziergang
Die Luft ist frisch, scharf spüre ich sie, wenn ich sie durch die Nase einsauge. Vor meinem Gesicht steigt sie beim Ausatmen als dichter Nebel auf, noch schlechter die Sicht dann, fast möchte ich die Augen schließen, sehe ich doch ohnehin kaum etwas. Da vorne ein geparktes Auto, das muss ich noch umrunden, bevor ich in den Wald abbiege.

Ein kleiner ausgetrockneter Bachlauf trennt mich jetzt vom feuchten Waldboden, Pilze hier und da, aber selbst der Geruch scheint sich durch den Nebel zurückgezogen zu haben. Alles ist tot und was nicht tot ist liegt im Sterben. Die Baumgipfel sind nicht zu erkennen, zu nebelig ist es hier, fast kann ich sprichwörtlich die Hand nicht vor den Augen sehen.

Die Gedanken sind träge, auch in meinem Kopf fehlt die sommerliche Bewegungslust, ist es die Kälte oder der Nebel, jedenfalls ein wenig orientierungslos irren die Gedanken umher. Es ist diese Orientierungslosigkeit, die solch einen Nebeltag ausmacht, nur wenige Schritte voraus ist überhaupt ein Weg zu erkennen, und den kann ich auch nur laufen, weil ich ihn schon so oft zurückgelegt habe.

Ich schaue mich um, ebenfalls diese trübe Suppe, immerhin ein paar Lichter zu erkennen, die von der Siedlung wohl bis in den Wald strahlen. Um nicht gegen einen Baum zu laufen schaue ich wieder nach vorne, aber meine Gedanken bleiben zurück, werden ebenso trübe wie die Welt um mich herum. Ich stolpere in Stufen der Melancholie in einen Trauermodus, komme vom Wetter auf das Leben im Allgemeinen und dieses Jahr im Besonderen.

Bin ich am Sommer vorbei, frage ich mich und schon fällt mir auf, wie orientierungslos auch der Lebensherbst sein kann. Nichts Aufblühendes, nichts Sonnenstrahlendes, einfach nur Niedergeschlagenheit wegen der fehlenden Perspektive. Kein Baum, an dem man sich in der Landschaft orientieren könnte, kein Feld, das bestellt werden müsste, kein erkennbares Ziel, das es zu erreichen gilt.

Lohnt es sich, weiterzulaufen, die deutlich stechende Kälte zu ertragen oder den Rückzug anzutreten in das warme Haus. Schwermütig, geradezu depressiv schwanken die Überlegungen weiter zwischen meinem aktuellen Umfeld und der Betrachtung meines Lebens. Ist die Rückkehr ins Haus der Versuch, in den Schoß meiner Mutter zurückzukommen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen jedenfalls? Oder ist es wie mit den Pflanzen der Eintritt in eine neue Phase, in der ich mich von den Strapazen des Sommers erhole, Kraft schöpfe und mit neuer Energie in das Frühjahr starte?

Immer tiefer versinke ich in Selbstmitleid, traurigen Erinnerungen an Sommer, Sonne, Fröhlichkeit. Und in genau diesem Moment kommt mir auf einmal ein wärmender Gedanke in den Sinn. Sonne, das ist Antriebskraft, nicht nur für die Pflanzen, auch für mich, auch für meine Laune. Fast scheint der bloße Gedanke mich jetzt wieder ein wenig zu erwärmen, weicht ein bisschen Kälte aus meinen Knochen. Die Stimmung hellt sich auf, ein wenig scheint sich selbst der Nebel um mich zu lichten.

Sonne also, ein Lichtblick, wörtlich genommen, eine Orientierung wieder in der Gleichförmigkeit der nebelgrauen Landschaft. Brüder, zur Sonne flüstere ich leise vor mich hin, niemand kann mich hier hören, oder vielleicht doch, denn unbemerkt bin ich wieder aus dem Wald herausgetreten, fühle, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breit macht und die Haut spannt in der Kälte.

08 November 2024

Erwachen

Noch ein wenig verschlafen.
Nach den neun Monaten im Bauch meiner Mutter
Blicke ich auf den jungen Morgen meines Lebens.

Ein erster Schrei hallt durch das Zimmer.
Nur kurz erschrecke ich vor dem Klang meiner Stimme
Und schaue mich verträumt um.

Erwachen

Noch erscheint mir alles ein Wunder.
Das kleinste Detail betrachtenswert
Und alles voller Seele.

Ist es nur Nahrung, ist es Liebe.
Eine zarte Berührung führt mich durch den Morgen
Wo alles um meine Aufmerksamkeit buhlt.

Die Sonne steigt, schon wird es Tag.
Am Wegesrand merkwürdige Gewächse
Sie wiegen sich und winken mir zu.

Und alles scheint gut.
Will geliebt werden von der Sehnsucht eines Kindes
Die man durch harte Schule lenkt.

Verwickelt in den Anzug der Träume.
Durch geschlossene Augen zu sehen
Wie die dunkle Seite wächst.

Es muss das Ende sein der Kindheit.
Mit aller Macht ergreift es mich
Nur dass ich mich dagegen wehre.

Ein Wort nur, geht mir durch den Kopf,
Ein Wort nur und ich bleibe dir
Für immer treu bis in den Tod.

01 November 2024

Gell, du verstehst mich

"Ennndlich....", nuschelst du zu mir herüber, "ennndlich maaal einer, der zuhööörd." Nüchtern sind wir beide nicht, aber mein Geist ist noch halbwegs da und ich kann dich betrachten, während du dein Glas mit beiden Händen festhältst, nicht nur die Zunge ein wenig schwer geworden, auch der Kopf scheint recht wackelig über deinen Schultern zu thronen.

Es ist nicht einfach, dir auf deinem wilden Ritt durch die Themen zu folgen. Vorhin hast du mir von deiner Mutter erzählt, bist dann recht unvermittelt auf irgendeinen Klaus, wohl ein Schulkamerad aus der Grundschule, gekommen und nimmst gerade die Kurve, um etwas über die Ungerechtigkeit des Lebens in Ausbildung und Beruf zu erzählen.

Gell, du verstehst mich
Entsprechend mische ich mich nur wenig in dein Gespräch ein, höre zu und grüble über den einen oder anderen Gedanken nach, den du in weinseliger Stimmung auf dem Tisch ausbreitest. Im Griff des Rieslings frage ich nach, wie du denn Gerechtigkeit definieren würdest, warum du das Leben so empfindest und überhaupt, was für dich der Kern des Lebens ist.

Hoppa, macht das Thema, und du berichtest von den Tagen in der weiterführenden Schule, den Schulgottesdiensten und dem Geruch nach Weihrauch, von dem du immer Kopfschmerzen bekommen hast. Der Pfarrer und die Klosterbrüder waren nach deiner Erinnerung sexuell nicht gerade gefestigt, ob sie sich für Buben oder Mädchen interessierten oder es bei feuchten Träumen und Masturbation bewenden ließen.

Einen Schluck später kommst du dann doch noch auf meine Frage nach der Gerechtigkeit zurück und spielst den Ball weiter in Richtung Wirt. Gerecht wäre es, wenn er die Gäste reihum bedienen würde und ihr Glas wie beim Round-Robin füllen würde. Ob ich Round-Robin kenne, ein Begriff aus der IT, den du mal bei deinem Partner aufgeschnappt hast.

Jetzt ist es an meinen Gedanken, ein bisschen weiterzuhüpfen. Warum sprechen die Menschen nur immer von ihrem Partner, so emotionslos als wäre es ein Baustein, ein mehr oder weniger technisches Element im Leben. Meine Arbeitskollegen sind Partner, einige mag ich persönlich sehr gerne und treffe mich auch außerhalb der Dienstzeit mal mit ihnen. Aber die Menschen, die mir so richtig nahestehen, die würde ich als Freunde bezeichnen und die Person, mit der ich mein Leben teile als Geliebte.

Oh weh, in meinen Gedanken versunken ist meine Trinkgenossin schon wieder in ihrer komplexen Themenwelt abgebogen. Hektisch versuche ich, den Anschluss wieder zu finden, höre von ihren Brüdern und der Wohnung, in der sie ein Gästebett hat, um auch mal überraschenden Besuch beherbergen zu können. Es wird nicht klar, ob das eine Anspielung auf mich sein soll oder ob sie mir nur die Ausstattung ihrer Bleibe darstellen möchte.

Der Wirt kommt, aber anstelle einer Bestellung bitte ich ihn um die Rechnung. Während er zur Theke zurückschlurft versuche ich, den Abend zu resümieren. Die Vielzahl der kaum zusammenhängenden Themen macht es mir schwer, ein Gesamtbild zu bekommen. Wir haben uns lebhaft unterhalten, ein paar Monologe dazwischen, Berichte von Szenen, vereinzelt mehr oder weniger intime Details aus dem persönlichen Schatzkistchen.

Und doch ist es vorwiegend eine Beschreibung des Umfeldes, nur an wenigen Stellen habe ich einen kurzen Blick hinter die Fassade werfen können. Merkwürdig neutral und ohne Tiefgang habe ich mir nicht wirklich ein Bild von dir machen können. Ja, denke ich zurück, ja, ich habe dir zugehört, aber verstanden habe ich dich nicht.

18 Oktober 2024

Somewhere before the rainbow

"Schau mal", schreit die Frau neben mir, "toll sieht er aus, dieser Regenbogen." Ich glaube nicht, dass sie mit mir spricht, sie will sich nur einfach mal Luft machen, ihre Freude herauslassen. "Schön ist das, so lange hatten wir Regen und jetzt endlich mal Sonne und gleich dieser Regenbogen", geht es weiter. Ich schwanke spontan zwischen genervter Reaktion über die unerbetene Beschallung und Mitfreude an diesem Ausbruch guter Laune.
Somewhere before the rainbow
Kurzerhand entscheide ich mich, mich auf ihre Stimmung einzulassen. "Ein Traum", sage ich zu ihr, lächele sie freundlich an und bin irritiert, weil sie mich jetzt völlig überrascht anschaut. Kurze Pause ihrer Begeisterung, dann scheint sie erst zu realisieren, dass irgendeine Person ihr überhaupt bei ihrem Selbstgespräch zugehört hat. "Ja, ein Traum! Kaum scheint die Sonne, schon fühlt man sich besser, Ende der Depression, ein Traum wie man sich da fühlt. Allmählich konnte ich den Dauerregen nicht mehr sehen, immer Wassertropfen am Fenster, Regenschirm, Flüchten vom Haus ins Auto und platschen in Pfützen."

Und so weiter. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass sie wieder mehr mit sich als mit mir oder irgendjemand anders redet. Halbwegs zusammenhängend fließen die Gedanken aus ihrem Mund, bahnen sich ihren Weg in die Umwelt und versickern im Rappeln der S-Bahn. Strahlend schaut sie mich dabei an, im ersten Moment bin ich geneigt, ihr wieder zuzulächeln oder sogar etwas zu erwidern. Aber weder lässt sie mir in ihrem Redestrom Zeit für eine Antwort, noch scheint sie auf einen Dialog aus zu sein.

"Der Regen hat natürlich auch sein Gutes, nicht allein wegen der Natur - die kann es ja nach dem trockenen Sommer wirklich gut gebrauchen. Aber ohne Regen könnten wir die Sonnenstunden gar nicht so genießen und vor allem könnte es gar keinen Regenbogen geben. Ohne Regen kein Regenbogen, das ist doch logisch", plappert sie weiter. Ich frage mich, ob sie mich überhaupt wahrnimmt, ob sie sich nachher überhaupt an mich erinnern kann. Hatte da jemand neben ihr gesessen?

Weniger aus Interesse an einer Konversation als viel mehr aus Neugierde widerspreche ich ihr "Ist es denn wirklich die Sache wert, mal ein Regenbogen und dafür tagelanges Gepläster und dauernasse Kleidung?" Wie erwartet nimmt sie nur sehr am Rande Notiz von meiner Äußerung. Als wäre sie genau meiner Meinung strahlt sie mich an, oh Gott, gleich knutscht sie mich ab. Aber so weit kommt es nicht, denn schon fällt ihr wieder ein, wo sie stehengeblieben ist und setzte ihre Betrachtung über Sonne, Regen, Laune und so weiter unvermindert fort.

Ist das lustig oder aufdringlich, frage ich mich, und ob sie wohl im Alltag bei anderen Themen, in der Firma oder der Partnerschaft genauso agiert? Oder hatte ich sie nur in einem euphorischen Moment erwischt? Gerade springt sie auf, rudert mit den Armen, breitet sie aus, als wollte sie Segen spenden oder Huldigungen entgegennehmen und schiebt sich in Richtung Tür.

Im Vorbeigehen winkt sie noch einer mittelalten Frau in Businesskostüm zu, weist auch diese lächelnd auf den langsam aus dem Blickfeld verschwindenden Regenbogen hin und ist im nächsten Moment durch die sich öffnende Ausgangstür verschwunden.

Sicher, ich war ein wenig überrumpelt, aber tatsächlich wirkte die merkwürdige Szene noch in mir nach und ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Hals verrenkte, um doch noch mal einen Blick auf den farbenfrohen Bogen werfen zu können.

11 Oktober 2024

Foto gemacht

Hohe Tannen weisen die Sterne. Vorsichtig öffne ich meine Augen, Dunkelheit um mich, ganz entfernt meine ich ein paar Lichter entdecken zu können. Es sind Sterne, denn ich liege auf dem Rücken, mein Kopf ruht schwerelos, vermutlich auf weichem Moos.

Langsam komme ich zu mir, die Sterne verblassen und auch die Dunkelheit nimmt ab, vielmehr scheint es eher Tag zu sein. Und auch mein Kopf ist gar nicht so schwerelos. Nur bewegen kann ich ihn nicht. Auch Arme und Beine gehorchen nicht meinem Willen, im Moment kann ich nur liegen und abwarten, wie es weitergeht.

Was mag passiert sein, immerhin kann ich noch denken, wenn auch meine Erinnerung eine Lücke zu haben scheint. Das letzte was ich noch abrufen kann, ist ein heftiger Schlag. Was war davor, ich muss ja unterwegs gewesen sein, wenn ich irgendwo draußen liege.

Ich martere mein Gehirn, versuche die Zeit vor meiner Bewusstlosigkeit zu rekonstruieren. Gleichzeitig der tapfere Antritt, irgendwelche körperlichen Bewegungen auszuführen. Und tatsächlich, jetzt gelingt es mir, die Finger der rechten Hand zu einer Faust zu ballen, noch mal Anstrengung und ich kann sogar die ganze Hand ein wenig anheben.

Also nochmal: Was könnte vorher abgelaufen sein. War da nicht irgendein Ausflug geplant, heute Sonntag wenn ich es richtig vermute, ein Ausflug erst mit dem Auto. Aber hatte ich einen Autounfall oder war das Unglück vorher oder nachher passiert?

Während ich auch andere Muskeln langsam wieder in Gang setze wird mir klar, dass ich trotz meiner merkwürdigen Lage überhaupt keine Schmerzen empfinde. Bin ich schon tot oder ist auch mein Schmerzzentrum so stark geschädigt, dass es nicht mitmacht? Geht das überhaupt?

Es fällt mir schwer, aber ich kann mich jetzt sogar auf die Seite drehen, zum ersten Mal sehe ich meinen Liegeplatz, lauter Steine um mich herum, ein paar Gräser dazwischen. Mit schwerem Arm ertaste ich meinen Kopf, die Haare fühlen sich feucht an, meine Hand ist rot, als ich sie wieder zurückziehe.

Im nächsten Moment tauchen wieder die Sterne auf, es wird noch heller, die wenigen Geräusche wie von Insekten werden überscharf, bis sie verstummen. Meine Augen fallen zu, alles fühlt sich wieder ganz leicht an und ich versinke mit entspanntem Gesicht wieder in der Ohnmacht.

Das junge Paar, das mich schließlich fand berichtete, dass ich dort schon eine Weile gelegen haben musste. Die Platzwunde an meinem Kopf war zur Ruhe gekommen, mein ganzer Körper wie ein lebloser Sack und nur kurze Zuckungen hätten darauf hingedeutet, dass ich noch am Leben war.

Sie hatten mich so gut sie konnten zu zweit hochgehoben und zum nahegelegenen Parkplatz getragen. Dort hatten sie einen Krankenwagen gerufen und die Sanitäter hatten mich dann zum Transport in das nächste Hospital eingeladen.

Foto gemacht
Aus den wenigen Informationen und Fakten kristallisierte sich nach allmählich zurückkehrender Erinnerung heraus, dass ich wohl angehalten hatte um ein Foto zu machen. Auf der Suche nach einem guten Standort musste ich wohl abgerutscht und ein paar Meter den Hang heruntergestürzt sein.

Jedenfalls hatte ich Glück im Unglück gehabt, trotz sorgfältiger Untersuchung stellten die Ärzte nur eine massive Gehirnerschütterung, ein paar Abschürfungen und natürlich die Platzwunde an meinem Hinterkopf fest.

Und es war nochmal ein Stück schöner, als mich Claudia und Thorsten auch in den folgenden Tagen im Krankenhaus besuchen kamen und mich nach Wiederkehr meiner Kräfte einluden, den Urlaub mit ihnen gemeinsam fortzusetzen. Wie wir nämlich feststellten, teilten wir die Liebe zu den Bergen und die Freude an den weiten Ausblicken. Die ich allerdings nicht mehr auf gerölligem Fels mit meiner Kamera festhalten sollte, wie mir Thorsten mit Augenzwinkern empfahl.

04 Oktober 2024

Schwimmen im Strom der Zeit

Schwimmen im Strom der Zeit
Ich schwimme seit ich auf der Welt bin. Die erste große Welle direkt bei der Geburt, durch den Kanal hindurch ans Tageslicht.

Das erste Ziel der Entwicklung erreicht. Ich bin von meiner Mutter dazu gebracht worden, etwas zu beginnen, was man Leben nennt.

Es beginnt mit künstlichem Auf und Ab. Stunden zwischen Mutterbrust, Schlaf und Beobachtung der Welt.

Krabbeln und die Umgebung erkunden, nur unterbrochen vom sorgsam vorbereiteten Bad in der Wanne.

Ein wenig unsicher auf den wackeligen Beinen, vom Menschstrom höflich umrundet.

Plantschen im Bach mit den Spielkameraden, Bau von Dämmen und stolzieren in viel zu großen Gummistiefeln.

Schule. Umgeben von Anderen in meinem Alter, umringt von Lehrern, umsorgt von den Eltern.

Die seichten Wogen der ersten Liebelei. Ein undefinierbares Prickeln, gelegentlich ein paar bislang ungekannte Gedanken.

Steigerung des Wellengangs zwischen euphorischer Begeisterung und tieftrauriger Enttäuschung. Pubertät eben.

Untiefen im Gewässer, immer wieder Gelegenheiten auf Grund zu laufen, in die Loreley vernarrt auf die falsche Bahn zu geraten. Drogen, Alkohol und allerlei illegale Gelegenheiten.

Rollen und Stampfen im Seegang der ersten festen Beziehung, der ersten Stelle, des ersten Ortswechsels.

Mal kurze Beruhigung, ablandiger Rückenwind mit zügiger Fahrt auf das offene Meer hinaus mit all seinen Herausforderungen, Verlockungen, fremden Ländern und Geschichten.

Seitenwind, Gegenwind, Umzug, Beziehungswechsel, neue Stelle, Kind und Kegel.

Böiger Wind aus wechselnden Richtungen, große Fahrt auf freiem Wasser, mal mit stolz in See stechendem Bug, mal mit beängstigender Schlagseite.

Vor Anker gegangen, Taucheranzug an, rein ins Wasser und ein Blick durch die dicke Schwimmbrille auf die Unterwelt.

Nach Verbrauch von reichlich Sauerstoff und umringt von bunten Fischen, giftigen Meeresbewohnern und stacheligen Pflanzen wieder zurück an Deck.

Sanftes Schaukeln, sanfte Brise ohne merklichen Wellengang. Pause, Midlife-Crisis.

Doch dort hinten am Horizont wieder ein Ziel, Anker gelichtet, das Fernglas vor den Augen und wieder Fahrt aufgenommen.

Die Tage kommen, sie gehen, unzählige Nächte mit immer seltsameren Träumen.

Das letzte Stück kann ich auch schwimmen, ich springe wieder mal über Bord, vielleicht habe ich mich bei diesem letzten Ausflug ein wenig verschätzt. Denn gegen den Strom der Zeit kann auch ich nicht schwimmen.

27 September 2024

Flüchtling

Flüchtling
Ich bin geflüchtet
Jetzt bin ich hier.

Kein Land des Geistes
Kann mich ausweisen.

Hier darf ich denken
Was ich will.

Meine Gedanken sind
Nicht nur frei.

Große Überlegungen
Gehören nur großen Geistern.

Ideen und neue Welten
Wollen durchdacht und erobert werden

Neues Denkland
Gilt es zu besetzen.

Innovatoren und Vermarkter
Lauern überall

Diebstahl und Missbrauch
Sind an der Tagesordnung

Da hilft nur die Flucht
In die tiefsten Gedanken


20 September 2024

Rendezvous mit dem Mond

Es ist kurz nach acht Uhr, ich schaue aus dem großen Fenster der Panorama-Sauna in die Dämmerung. Am Horizont sehe ich einen ganz leichten Rotton, der sich im abnehmenden Tageslicht recht deutlich abzeichnet. Leise zischt das Wasser des Aufguss auf den heißen Lavasteinen, ein Duft von Lavendel und Minze dringt mir in die Nase.

Wenige Minuten später schaue ich wieder zur Scheibe, diesmal schon deutlicher hat sich der rote Fleck zu einem Halbkreis über dem Horizont entwickelt. Es ist der Mond, im Moment noch nicht vollständig zu sehen, aber demnächst wird er sich als Vollmond zeigen, rot noch.

Wieder ein leises Zischen, ein Luftzug vom großen Fächer, den der Saunameister nutzt, um die Luft über dem Ofen zu verteilen. Und mit der Luft das in Aroma vom Mittelmeer in den Raum bringt.

Rendezvous mit dem Mond

Der Mond zeigt sich jetzt komplett, wenige Zentimeter über der Horizontlinie ist er in voller Größe und rund wie ein Ball in zartem Rot zu erkennen. Ein Mondaufgang mit theatralischer Note, weniger eine Andeutung von Romantik als von Dramatik, wie er da wie das Hintergrundbild einer Hexenshow heller und größer wird.

Zisch! höre ich aus der Richtung des Saunaofens, aber ich kann meinen Blick nicht von diesem Himmelskörper abwenden, der durch die untergehende Sonne und die immer dunkler werdende Landschaft immer deutlicher hervortritt.

Bist du das, frage ich mich, ist das mein Vater, der mir ja symbolhaft als Mond beim Leben zuschaut. Warum ist er heute so rot, ist das ein gutes Zeichen oder habe ich ihn verletzt oder mit meinem aktuellen Lebensweg unzufrieden gemacht?

Ich wende mich ab, schaue in der Schwitzkabine herum, all die nackten Menschen hier, auf einmal fühle auch ich mich nackt, nackt und beobachtet, aber nicht von den anderen Saunagästen, sondern von diesem merkwürdigen roten Fleck am inzwischen nächtlichen Himmel.

Ich weiß, dass ich mir kein Handtuch überwerfen kann, dass es mir auch gar nichts nützen würde, weil du mich trotzdem sehen könntest. So wie ich bin, nicht wie Gott mich geschaffen hat, sondern wie ich mich im Laufe der Jahre entwickelt habe.

Bin ich so klein, wie ich mich jetzt fühle oder ist es überbordende Demut, die mich in eine geradezu depressive Stimmung versetzt? Ich wage doch wieder einen Blick zum Mond und siehe da: jetzt scheint er mich anzulächeln, doch, doch, da sehe ich ein zart angedeutetes Schmunzeln in seinem runden Gesicht und auch das Rot scheint zu verblassen und einem fahlen Weiß zu weichen.

Mut erfasst mich wieder, die innere Prüfung scheine ich bestanden zu haben, fühle mich jetzt wieder stärker und wie aus einer anderen Sphäre höre ich auch wieder die Saunageräusche und die Frage des Saunameisters nach einer weiteren Aufgussrunde. Die anderen Gäste müssen wohl zugestimmt haben, denn Salbei und Orange übernehmen den Duftraum und eine tiefe Entspannung überkommt mich.

13 September 2024

Wochenendlich

"Hallo!"
Etwas missmutig schaue ich auf. Wer stört mich da in meiner Arbeit, lenkt mich von den konzentriert zusammengetragenen Unterlagen ab?
Es ist nichts zu sehen, keine Ahnung, woher die Stimme kam.
Da nochmal: "Hallo!"
Mein Blick wandert durch das Zimmer, aber ich kann die Quelle der Ansprache einfach nicht ausmachen.

"Hallo!... Hallo!... Hallo!"
Langsam wird es lästig, penetrant geradezu. Da meine Konzentration jetzt ohnehin gestört ist, beginne ich darüber nachzudenken, wer oder was mir diesen Streich spielt. Natürlich, jetzt wird es mir klar: Es ist das Headset von meinem Telefon, das habe ich vermutlich nicht richtig auf seine Ladestation zurückgehängt und nun versucht irgendein Kollege mich zu erreichen. Schnell setze ich mir den Kopfhörer auf. Aber da ist nichts zu vernehmen. Nur ein leises Rauschen kündet davon, dass das Gerät im Prinzip funktioniert.

Fast warte ich auf ein erneutes Hallo!, aber ein paar Augenblicke lang herrscht Ruhe. Ich wende mich wieder der Arbeit zu, wo war ich noch stehengeblieben? Kaum habe ich den roten Faden wieder gefunden, den abgebrochenen Vorgang wieder aufgenommen, ist das Geräusch wieder da, diesmal:

Wochenendlich
"Huhu!"
Ich schließe die Augen im Versuch, besser hören und den Ursprung lokalisieren zu können. Und da plötzlich klärt sich die Situation. Mit meinen geschlossenen Augen sehe ich nun ein kleines Männchen, es winkt freundlich mit beiden Armen, holt hinter seinem Rücken eine rote Pappnase hervor und setzt sie sich auf. Wie als Antwort auf meine noch nicht ausgesprochene Frage erklärt es mir "Erkennst du mich nicht? Ich bin es, der Bote des Wochenendes."

Ich öffne wieder meine Augen, schaue auf die Uhr. Tatsächlich, schon nach 17 Uhr und damit Zeit, die Arbeit an diesem Freitag langsam auslaufen zu lassen. Augen zu, wieder das Männchen. Die Pappnase ist verschwunden, dafür hat es jetzt einen absurd großen Ghettoblaster auf den Schultern. Ich bekomme Angst, wenn dieses Monstrum losgeht fliegen mir bestimmt die Ohren weg. Aber zu meiner Überraschung ist es kein Getöse, sondern mitreißende Beats, die mich zum Tanzen animieren sollen.

Ohne die Augen zu öffnen schiebe ich meinen Schreibtischstuhl nach hinten, springe auf und hüpfe auf einem Bein zum Takt der Musik. Um mich tauchen immer mehr Leute auf, meine ganzen Freunde scheinen auch auf der Tanzfläche zu sein und oben am Mischpult kann ich wieder das Männchen entdecken.

Ein Auge riskiere ich. Vor mir der Computer, das Bild zeigt immer noch den vorhin liegengelassenen Arbeitsteil. Die Bildschirmkamera scheint mich kritisch anzuschauen, ich klappe ihr den Deckel herunter. Mit wenigen Mausklicks habe ich alle geöffneten Dateien gespeichert und die Anwendungen geschlossen. Schnell zurück zum Kopfkino, alle Freunde sind noch da, aber wir stehen in einer Schlange vor dem Kino und müssen noch schnell Popcorn und Cola holen.

"Also gut", denke ich, da will ich nicht kneifen. Schließlich habe ich keine Lust, auf einem schlechten Platz zu sitzen. Ich reihe mich in die Warteschlange ein. Mit der notwendigen Konzentration bekomme ich trotz der inneren Unterhaltung mit meiner Nebenfrau den Dienstcomputer ausgeschaltet und muss noch nicht einmal auf die Tastatur schauen. Am verstummenden Geräusch der Festplatte erkenne ich, dass es erfolgreich war und das ist auch gut, denn die Kinokasse rückt näher.

Doch jetzt muss ich doch noch mal einen Blick auf die Szene werfen. Ich sitze in meinem Homeoffice, der Bildschirm vor mir ist schwarz, niemand im Raum, aber die Arbeit scheint für heute abgeschlossen. Sicherheitshalber schaue ich mich noch mal um, alles gut, ich laufe zur Toilette, werfe einen Blick in den Spiegel, ich sehe ganz normal aus, ein bisschen müde vielleicht.

Ich mache noch mal die Augen zu, aber die Bühne ist leer. Kein Männchen, keine Party, kein Kino. Aber Wochenende. Endlich.

06 September 2024

Was es alles nicht war

Es war nicht der kranke Bahnmitarbeiter.
Es war nicht der Stellwerksausfall.
Es war nicht der entfallene Regionalexpress.
Es war nicht der überfüllte Bahnhof.
Es war nicht die verspätete S-Bahn.
Es war nicht die unverständliche Lautsprecherdurchsage.
Es war nicht die drangvolle Enge im Ersatzzug.
Es war nicht die rücksichtslos telefonierende Mitreisende.
Es war nicht der verschwitzte Handwerker neben mir.
Es war nicht die angespannte Stimmung im Zug.
Es war nicht der ungeplante Zwischenhalt.
Es war nicht die zunehmende Hitze im Wagon.
Es war nicht das Gedränge am Endbahnhof.
Es war nicht mein zugeparktes Auto.
Was es alles nicht war

Es war die Summe aus diesen Erlebnissen, die mich völlig genervt und erschöpft zu Hause ankommen ließ.

23 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (8/Ende)

Zurück in der Hauptstadt

Langsam wollten wir uns wieder in Richtung Hauptstadt treiben lassen, die letzten Tage unseres Auslandsaufenthaltes im Trubel verbringen und gemeinsam wieder allmählich in unserer gewohnten Form der Zivilisation ankommen.

Symmetrisch zum Eintauchen in die Lebenswelt dieser fremden Zivilisation steigerte sich jetzt wieder langsam der Komfort, den wir in den Dörfern und bei den Unterkünften fanden. Elektrischer Strom war wieder eine Selbstverständlichkeit, Waschmöglichkeiten steigerten sich stufenweise von tuchumhangenen Wasserwannen im Hof über ein Hausbadezimmer bis zu einem Etagenbad mit Dusche. Einerseits war das eine schöne Sache, andererseits entfielen sukzessive unsere gemeinsamen Duschorgien und die improvisierten Chillout-Ecken ohne Beleuchtung.

Zunehmend wurden wir aber auch eher wie Touristen und weniger als Gäste behandelt. Die Wirte waren freundlich, aber das Vermieten der Zimmer, der Verkauf irgendwelcher Souvenirs und mehr oder weniger sinnloser Gimmicks standen für sie im Vordergrund. Schon eine Tagesreise vor der Hauptstadt erreichten die Speise- und Getränkepreise ein ungewohnt hohes Niveau. Es war unübersehbar, dass wir als reiche Goldesel angesehen wurden und entsprechend viel mehr zu zahlen hatten als die Einheimischen um uns herum.

Natürlich war auch das für uns immer noch bezahlbar, die Preise deutlich niedriger als in Deutschland, aber diese Differenzierung und die Erkenntnis, dass der Mehrpreis nicht bei denen ankam, die wirklich bedürftig waren, führte in unserer Gruppe zu lebhaften Diskussionen. Während die Mädchen sich mit dieser Ungleichheit arrangieren wollten erwachte in den Jungs ein gewisser Kampfgeist. Dieses ungerechte System wollten sie nicht einfach hinnehmen. Die Dispute wurden immer feuriger, angeregt von diversen Schnäpsen wurden die wildesten Aktivitäten erwogen, selbst Demonstrationen und Anschläge waren vorübergehend im Gespräch.

Hinter dem Horizont ging es weiter
So weit kam es Gott sei Dank nicht, denn mit Erreichen der Hauptstadt waren wir selbstverständlicher Teil der Touristen, die Einheimischen waren nicht mehr als konkurrierende Kunden, sondern als Gegenseite hinter den Verkaufsständen zu sehen. Irgendwie blieb zwar die Ungleichheit bestehen, wurde vielleicht noch viel größer, für uns aber nicht mehr so deutlich wahrnehmbar.

Wir zogen in ein recht schäbiges Hotel in der Stadtmitte ein und bekamen von einem ziemlich mürrischen Wirt ein paar heruntergekommene Zimmer. Abgesehen vom obligatorischen Deckenventilator, einem Waschbecken und einem pritschenartigen Bett, waren nur ein wackliger Tisch und ein ebenso wackliger Stuhl vorhanden.

Wir ließen uns nicht aufhalten und zogen in den Gassen umher, schauten uns um und tranken Kaffee oder wechselnde alkoholische Getränke. Auch hier gab es wieder viele Kontakte mit den Einwohnern, aber es war ganz anders als auf dem Land. Die beiden Mädchen wurden mehr oder weniger aggressiv angegraben und nur die Gegenwart von uns Jungs schien dafür zu sorgen, dass sie nicht in irgendeine dunkle Gasse gezerrt wurden.

Andererseits wurden wir Jungs von den einheimischen Mädchen umschwärmt. Sie flirteten was das Zeug hielt, wobei wir uns zunehmend fragten, ob unser Aussehen und unsere Art oder eher unser Geldbeutel etwas mit diesen Annäherungen zu tun hatte. Sie ließen sich von den anderen Mädchen unserer Reisegruppe nicht stören, setzten sich ungeniert auf den Schoß und erwarteten eingeladen zu werden.

Allmählich wurde uns klar, was der Gastwirt mit der Zimmerbelegung gemeint hatte. Ohne Zweifel wären die Mädchen gegen ein paar Euro bereit gewesen, uns ins Hotel zu begleiten. Dem hätte höchstens der Wirt im Weg gestanden, der sich aber sicherlich auch mit einem kleinen Geldschein hätte umstimmen lassen.

Wir zogen es vor, unsere Party alleine zu feiern, durchkreuzten die letzten Tage die Stadt, trauten uns aber nicht, uns aufzuteilen. Die weniger aufdringlichen Lokale waren zum Teil recht atmosphärisch und die anderen Gäste amüsierten sich schon darüber, dass wir immer nur als kleine Truppe auftauchten. So kamen wir dann doch noch zu lustigen Gesprächen und langsam verfestigte sich der Eindruck, dass es auch in der Stadt zahlreiche nette Menschen gab.

16 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (7)

Ausklang am Meer

Nach den Wochen der Alleingänge schloss ich mich den anderen Trampern an. Es war eine lustige Truppe, ein bisschen weniger abenteuerlustig als ich, aber immer für eine Party gut. Mit ihrer fröhlichen Art und einer gewissen Spendierfreude waren sie überall willkommen und bildeten nach meiner Phase der einsamen Wanderungen und dem spartanischen Leben bei den Landesbewohnern eine willkommene Abwechslung.

Ganz allmählich neigte sich unser Aufenthalt im fremden Land dem Ende zu. Wir unterhielten uns über die bisherigen Erlebnisse und beratschlagten, was wir mit den verbleibenden Tagen machen wollten. Allzu aktiv sollte es nicht werden, in schöner Umgebung und natürlich irgendetwas Besonderes. Die fünf schwärmten mir von ihrem Aufenthalt am Meer vor, einsam, schön und natürlich in der Hitze auch immer wieder erfrischend. Ein guter Vorschlag, wie ich fand und so machten wir uns im Wechsel von Fußmarsch und Busfahrt auf den Weg. Ein glücklicher Zufall, dass wir schon nach zwei Tagen am Strand waren, ein wunderschöner Abschnitt mit ein paar Bäumen und ziemlich vielen Felsen .

Die ganze Gegend war menschenleer, aber das war uns nur recht, denn wir hatten Vorräte dabei und mit unseren Zelten konnten wir zwischen den riesigen Steinen sogar ein kleines sonnengeschütztes Eckchen aufbauen. Für die Nacht waren wir einigermaßen geschützt und hatten neben den Felsbrocken die Möglichkeit, ein Feuer anzufachen.

Und das taten wir auch, die Sonne war fast untergegangen, ein paar Holzstücke gaben Hitze für das Abendessen und danach schummriges Licht für den Ausklang. Einer der Jungs hatte tatsächlich eine kleine Ukulele in seinem Rucksack und eines der Mädchen ein Liederbuch dabei. Wir amüsierten uns darüber, wie altmodisch das war, aber am Ende ging die Stimmung hoch und wir grölten irgendwelche Lieder aus der Mundorgel.

Hinter dem Horizont ging es weiter 7

Die Tage verbrachten wir mit Schlafen, Schwimmen und dem Ausbau unserer Wohnecke. In der Hitze hatten wir nur das Nötigste an, im Schatten der Felsen und beim Baden ließen wir auch die letzten Hüllen fallen. Es war einfach traumhaft, irgendeiner von der Truppe hatte immer eine Idee für die nächste Aktion, zwar scheiterte unser Versuch, ein Surfboard herzustellen, aber immerhin gelang es uns nach zig Anläufen, einen fünfstöckigen Menschenturm zu bauen.

Unser Gesang an den Abenden wurde immer musikalischer. Recht anspruchsvolle Interpretationen mit mehreren Stimmen hatten das lautstarke Singen der ersten Tage abgelöst. Mit selbstgebasteltem Schlagzeug, einer Art Flöte aus einem Zweig und Geräuschen, die man mit dem Mund erzeugen kann, kam eine durchaus hörenswerte Musik zu Stande.

Die Nächte schauten wir in den Sternenhimmel, erzählten uns mehr oder weniger gruselige Geschichten, kuschelten uns aneinander und schlummerten dann irgendwann ein, um recht früh von der Sonne und der sofort einsetzenden Hitze geweckt zu werden. Wir redeten über alles, von den persönlichen Problemen im Alltag über die Nachhaltigkeit der Gesellschaft, Konsum, Kriege und den deutschen Kapitalismus. Und auch Gespräche über Liebe und Intimität waren im Schutze der Anonymität dieser Gemeinschaft auf Zeit Teil der Unterhaltung.

In der ganzen Zeit kamen nur ein einziges Mal irgendwelche anderen Menschen vorbei, sie waren vielleicht mehr oder weniger überrascht, an dieser einsamen Stelle andere Personen zu treffen, aber sie winkten uns zu und waren kurz danach wieder verschwunden. Anders als befürchtet kamen uns auch keine möglicherweise giftigen oder sonst wie gefährlichen Tiere besuchen.

Ich denke, es war eine gute Woche, die wir meist nackt und unbekümmert herumgetollt hatten. Wir wollten uns vor dem Abflug nicht mehr trennen und entschieden, dass wir uns gemeinsam auf den Weg zur Hauptstadt machen wollten. In aller Gemütlichkeit packten wir unsere Sachen zusammen, verbuddelten unseren wenigen Müll und setzten uns in Richtung Piste und damit der Hoffnung auf einen Bus in Bewegung.

09 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (6)

Traumatisches Erlebnis

Der Überfall lag nun schon einige Tage zurück. Ich hatte Glück gehabt, denn ich war nicht nur unverletzt davon gekommen, auch die befürchtete Verurteilung oder gar Inhaftierung war mir erspart geblieben. In der Siedlung hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen versammelt, alt und jung wie ein repräsentativer Querschnitt der Bewohner. Sie hatten sich die Versionen unserer Geschichte angehört, beraten und waren dann zu dem Ergebnis gekommen meine Ausführungen für glaubwürdig zu halten. Zwar wog das bei mir aufgefundene Messer schwer als Beweis meiner Schuld, gleichzeitig wurde aber das fehlende Motiv berücksichtigt.

Da die beiden Räuber hier unbekannt waren wurden sie mit einem glühend heißen Eisen für ihre Tat gebrandmarkt, dann aber auch medizinisch versorgt und mussten eine Woche ohne Bezahlung für die Kommune arbeiten. Die Einwohner waren weniger überrascht als ich, als sie nach Ablauf dieser Zwangswoche darum baten weiter bleiben zu dürfen, sich jetzt auch offiziell zu ihrer Tat bekannten und versprachen, sie nicht zu wiederholen. Keine Ahnung, wie es weiterging, denn jetzt wollte ich doch endlich mein Abenteuer fortsetzen und mich aufmachen zu neuen Erlebnissen.

Die meisten Wege legte ich jetzt zu Fuß zurück, wanderte von Dorf zu Dorf und Siedlung zu Siedlung. Je nach Strecke gab es auch gar keine Straßen, eher Wege, die man mehr oder weniger komfortabel benutzen konnte. Mangels Karte musste ich mich mehr auf den Kompass verlassen, bewegte mich im Laufe der Wochen insgesamt in Richtung Norden, was ich auch an der zumindest ein wenig nachlassenden Temperatur merkte. Kam ich doch mal an einer Häusersammlung vorbei, die die Einwohner als Stadt bezeichneten, dann konnte ich pausieren und mich orientieren. Meistens gab es dann einige Kilometer weit auch echte Straßen, nach und nach in Wege und schließlich in Pfade übergehend.

Hinter dem Horizont ging es weiter (6)
Auf solch einer Straße war ich unterwegs, die Mittagszeit war schon merklich vorüber und die Sonne stand schon ziemlich tief, so dass sie mich blendete. Vermutlich war das der Grund, warum ich das Auto nicht direkt bemerkte, das neben der Fahrbahn vor einem Baum stand. Es dauerte auch einen Moment, bis ich realisierte, dass das Fahrzeug dort nicht geparkt war, sondern einen Unfall hatte und gegen den Baum gefahren war. Noch einen Moment später begriff ich, dass es Verletzte geben müsste und ich beschleunigte den Schritt, um zu dem Gefährt zu kommen.

Und tatsächlich sah ich jetzt das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Front war komplett eingedrückt, die Windschutzscheibe geborsten und eine Person hing auf dem Fahrersitz mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Auf dem Armaturenbrett war Blut, der Kopf des Fahrers ebenfalls blutig und ein kleines rotes Rinnsal ging von der Stirn über die Wange bis zu den Schultern. Alles sah völlig unwirklich aus, so als ob ich in einem Kinofilm wäre und der Regisseur gleich aus dem Unterholz träte und der Szene ein Ende machte.

Aber es gab keinen Regisseur, alles war echt. Jetzt sah ich, dass der Mann sich ganz leicht bewegte, ich kam näher und überlegte fieberhaft, was ich machen könnte. Ich bin kein Arzt, selbst erste Hilfe hatte ich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr angewendet. Beim Öffnen der Tür kam mir der Oberkörper entgegen, er war nicht angeschnallt gewesen und war beim Zusammenstoß mit dem Baum mit seinem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt. Jetzt lag er mir in den Armen, der ganze Körper völlig schlaff, ich legte meine Arme um seinen Brustkorb und ein leichtes Wimmern machte mir klar, dass auch dort vermutlich einiges kaputt gegangen war.

Trotzdem schleppte ich ihn aus dem Auto, legte ihn auf den Boden und überlegte hektisch, wie ich Hilfe bekommen sollte. Ich rekapitulierte die Verletzungen, Rippenbrüche wären ja erst mal nicht so schlimm, aber da könnten innere Verletzungen hinzukommen, dann aber insbesondere auch der mächtig angeschlagene Kopf. Immer noch tropfte Blut, jetzt sah ich auch, dass es nicht nur eine Platzwunde war, sondern der Schädel selbst verletzt war. In diesem Moment machte der Mann den Mund auf, auch die Augen öffneten sich ein Stückchen. Er rang nach Luft, dann kamen Laute aus seinem Mund, die ich allerdings nicht verstehen konnte.

Panik stieg in mir auf. Was konnte ich bloß machen, die Wunde versorgen, aber womit? Oder vielleicht irgendwie bequem lagern und loslaufen, um Hilfe zu holen. Aber selbst wenn ich das nächste Dorf erreichte hieß das ja nicht unbedingt, dass dort so etwas wie ein Arzt war. Der Verbandskasten kam mir in den Sinn und ich legte ganz vorsichtig den Kopf auf dem Boden ab, um zum Auto zu laufen. Der Mann fing jetzt an lauter zu stöhnen, ich war hin- und hergerissen zwischen Dableiben und Verbandszeug holen.

Wieder machte er den Mund auf, flüsterte irgendetwas in fremder Sprache, es war mehr ein Gurgeln als ein Sprechen. Ich lief zum Auto und suchte nach Verbandsmaterial, natürlich ohne Erfolg. Als ich wieder zu dem Mann zurückkam hatte er sich ein kleines Stück gedreht, jetzt lief auch aus seinem Mund Blut heraus, es war ein furchtbarer Anblick. Und diese Hilflosigkeit, die in mir aufstieg, ich schaute ihn an, ganz klar, er lag im Sterben und ich konnte nichts mehr tun, als ihm dabei zuzusehen. Er holte rasselnd Luft, wieder und wieder, die Zeit schien stillzustehen.

Ich setzte mich auf den Boden, nahm ganz vorsichtig seinen Kopf vom Boden und legte ihn auf mein Bein. Vorsichtig streichelte ich ihn und fing an, ein Kinderlied zu singen. Nichts besseres fiel mir ein. Mit schweren Lidern öffnete er nochmals seine Augen, schaute mich an, ich glaube, er wollte wieder etwas sagen, aber diesmal kam kein Laut mehr aus ihm heraus. Er schaute mich an, vielleicht versuchte er in seinen Schmerzen zu lächeln, der Mund verzog sich ein wenig, aber das war schon alles.

Es musste doch irgendetwas geben, was ich tun konnte. Irgendwas. Aber mir fiel nichts ein, obwohl ich krampfhaft in meinem Gedächtnis kramte. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich einfach nicht helfen konnte, bestenfalls noch die letzten Minuten seines Lebens begleiten. Noch einmal zuckte er, versuchte wohl den Kopf zu bewegen, was ihm aber nicht gelang. Seine Beine bewegten sich noch einmal, dann kehrte Ruhe ein. Ich schaute ihn an, legte mein Ohr an seinen Mund, aber da war nichts mehr zu hören. Mit nervösen Fingern griff ich den Arm, doch da war kein Puls mehr, hatte ich vielleicht an der falschen Stelle probiert, nein, der Puls war weg.

Einen Moment blieb ich noch so sitzen, einen leblosen Körper in meinen Armen, ein Toter, wie mir klar wurde. Es lief mir kalt den Rücken herunter, trotz der Hitze fing ich an zu frösteln. Unendliche Minuten später hatte ich mich gefangen, zog den Leichnam vorsichtig wieder zum Auto, zerrte ihn auf den Rücksitz und drückte alle Türen zu. Nochmal hielt ich mein Ohr an seinen Mund, tastete ich nach seinem Puls - er war tot, das konnte auch ein Laie wie ich sicher feststellen.

Was für ein verstörendes Erlebnis. Noch nie hatte ich einen Toten so nah gesehen, noch nie einen Sterbenden in den Armen gehalten. Mich noch nie so hilflos gefühlt. Und alles in der Fremde, alleine. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, es war wohl eher ein Automatismus, der mich zum nächsten Dorf führte. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass mir die Einheimischen sofort ansahen, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Sie rannten auf mich zu, belagerten mich und bestürmten mich mit Fragen. Kaum hatten sie von meinem furchtbaren Erlebnis erfahren machte sich eine Handvoll Männer auf den Weg, um Auto und Fahrer zu holen.

Dann flößten sie mir irgendeinen hochprozentigen Schnaps ein, trösteten mich und versuchten, mich auf andere Gedanken zu bringen. Völlig im Tran von Alkohol und Erschöpfung verlor ich langsam mein Bewusstsein und kam erst am nächsten Morgen wieder zu mir, diesmal selbst in den Armen einer alten Frau, die mir zärtlich durch das Haar strich und auf mich in ihrer Sprache immer wieder mit "mein liebes Kind, mein armes Kind" einredete. Als sie sah, dass ich meine Augen öffnete strahlte sie mich an, sprang auf und verschwand eilig aus dem Zimmer. Um im nächsten Moment mit einer Gruppe junger Leute zurückzukommen, die sich als die deutsche Reisegruppe vom Anfang meiner Reise entpuppte.

Das war eine schöne Überraschung, sofort kam ich auf andere Gedanken, während mir die fünf von ihren Erlebnissen erzählten. Nein, weder einen Überfall noch einen Autounfall hatten sie erlebt, aber am Meer waren sie gewesen, hatten dort relaxt, viele Einheimische kennengelernt und schließlich auch in der Oase gearbeitet. Den Rest des Tages verbrachten wir mit zunehmend mehr Alkohol im Blut, der uns die Hitze vergessen ließ, die zur Mittagszeit zunahm, um zum Abend wieder langsam nachzulassen.

[Episolde 7 -> Ausklang am Meer]

02 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (5)

Überfall

Die grüne Lunge der Gegend war eine bemerkenswerte Ausnahme, weder breitete sich die hier anzutreffende Fauna weiter aus, noch hatten die Einwohner den Antritt, diese fruchtbare Parzelle zu verlassen. Ich empfand die Gegend wie eine eigene Welt, mehr noch als irgendwo anders hatte ich das Gefühl, mich vorübergehend in einem Traumland zu befinden.

Nach einer Woche hatte sich nichts an meiner Faszination geändert, bewunderte ich die real gelebte Gemeinschaft, die eine bemerkenswerte Balance zwischen Freiheit und Gleichtakt anbot. Doch trotz dieser arbeitsamen Geselligkeit zog es mich weiter, denn ich wollte auch noch andere Ecken des Landes kennenlernen. Dazu kam, dass hier die Moskitos ziemlich aggressiv waren und die Hitze einer Schwüle wich, was den Aufenthalt geradezu unerträglich machte.

Ein Bus war in den nächsten Tagen nicht zu erwarten, obwohl natürlich das Kommen genauso wenig abzusehen war wie das Nicht-kommen. Aber es war mir egal, ich organisierte mir ein paar Lebensmittel, füllte meine Flasche und wuchtete mir den Rucksack auf den Rücken. Nicht zurück Richtung Meer, sondern wieder ins Landesinnere, was allerdings auch bedeutete, dass es wieder trockener und heißer werden dürfte. Egal, mit dem Tuch, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte konnte ich einem Hitzschlag schon entgehen und wenn ich mich an der Piste orientierte musste früher oder später wieder irgendeine Siedlung oder ähnliches kommen.

Langsam stieg die Sonne am Himmel auf, wie erwartet wurde es heißer und heißer, mein Shirt war gewohnt verschwitzt, der Rucksack auf dem Rücken war der einzige Schutz vor den glühenden Sonnenstrahlen. Ich schaute meinem Schatten zu, der mich auf der Seite des Weges begleitete und dachte über diese merkwürdige Kommune nach, in der ich einige Tage verbracht hatte. Alle waren gleich, aber doch individuell, als zentrales Ziel schien sie die gemeinsame Suche nach einem zufriedenen Leben zu verbinden.

Auf der ständigen Suche nach Verbesserung, nach Karriere und Weiterkommen wäre solch ein Modell in Deutschland gar nicht denkbar. Wie unterschiedlich die Grundeinstellung der Menschen ist, wie sich Kultur und Führungsform gegenseitig beeinflussen. Und wie naiv man sein muss, wenn man einen bestimmten Umgang miteinander mit einer nicht dazu passenden Regierung verbinden will. Missionarisch und selbstherrlich kommen mir diese Ansätze vor.

Noch tief in diese Gedanken vertieft stand auf einmal ein junger Mann vor mir. Ich hatte ihn gar nicht gesehen, vielleicht weil ich gerade durch eine kleine Buschansammlung unterwegs war. Er musste im Verborgenen hinter einem der kargen Sträucher gehockt haben, jedenfalls war ich ein wenig überrascht, dass er plötzlich auf dem Weg vor mir auftauchte. Er hatte etwa meine Größe und Statur, ein ehemals weißes durchgeschwitztes T-Shirt an, sandalenartige Latschen und eine abgeschnittene Jeans.

Er schaute mir ins Gesicht, nicht unfreundlich begrüßte er mich. Wie es mir ginge, woher ich käme und ob wir uns nicht im Schatten ein wenig unterhalten wollten. Ich hatte alle Zeit der Welt, warum nicht mit einem Einheimischen klönen, zumal ich ohnehin eine Mittagspause einlegen wollte. Ich nahm meinen Rucksack ab und folgte ihm zu dem Gebüsch, das sich als recht dicht und damit schattenspendend herausstellte.

Eine Weile unterhielten wir uns, wir sprachen über Heimat, Hitze und Arbeit. Während wir uns mehr oder weniger intensiv austauschten und immer mal wieder an unseren Wasserflaschen zogen, gab es auf einmal eine Bewegung im Gebüsch hinter mir, und bevor ich mich versah drückte sich eine Person an meinen Rücken und drückte mir einen kalten Gegenstand an den Hals, ein Messer, wie mir schlagartig klar wurde. Ich war wie versteinert. Offensichtlich war ich einer Bande von Dieben in die Hände gefallen. Was tun?

Jetzt fühlte ich feuchten Atem in meinem Nacken, "Bitte, dein Geld." - Es war eine höfliche Bitte, gar kein wild ausgestoßener Befehl. Einen Moment nichts, dann wieder dieses "Bitte, dein Geld!", wobei das Wort Bitte mit einem Druck auf das Messer betont wurde. Ich saß auf meinem Rucksack, so dass ich erst aufstehen musste, um irgendetwas herauszugeben. Das erkannte auch der Mensch hinter mir und ließ es zu, dass ich ganz langsam aufstand. Dabei merkte ich, dass er sich recken musste, um mit dem Messer immer noch an meinen Hals zu kommen. Er musste als kleiner sein als ich. Im Zeitlupentempo richtete ich mich auf, drehte mich ein wenig zur Seite und konnte jetzt den Widersacher erkennen. Es war nur eine Person, nicht sonderlich muskulös, aber immerhin bewaffnet. Zudem sein Kumpan, der mich in das Gespräch verwickelt hatte. Zwei Gegner, resümierte ich und überlegte, ob ich das Geld herausgeben musste.

In Voraussicht solcher Erlebnisse hatte ich in meinem Rucksack zwei Geldbörsen, eine davon war tief in einer zugenähten Innentasche verborgen. In der anderen war nur ein wenig Tagesgeld, das hätte ich notfalls entbehren können. Andererseits wollte ich auch das nicht gerne hergeben und es war auch nicht klar, ob sie mich nach dem Raub einfach weiterziehen lassen würden. Da ich ansonsten ehrliche Menschen erlebt hatte und wir mitten auf dem Land waren, würden sie es vermutlich nicht riskieren, dass ich in der nächsten Siedlung von ihnen erzählte und sie dabei auch noch beschreiben konnte.

Während ich mich ganz langsam zu meinem Rucksack herunterbeugte musste ich aufpassen, dass das scharfe Messer nicht mehr als die bisher schon entstandene Schnittwunde an meinem Hals hinterließ. Jetzt keine ruckartigen Bewegungen, dachte ich und überlegte gleichzeitig, was ich dem Angriff entgegnen könnte. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass mein Gesprächspartner immer noch auf dem Boden hockte und keine Anstalten machte, sich in den Überfall einzumischen. Und zumindest im Gebüsch neben mir konnte ich keine weiteren Personen wahrnehmen. Also im ersten Moment nur ein Gegner, direkt danach dürften es dann zwei sein.

Ein paar Jahre lang hatte ich Jujutsu gemacht, aber das war schon eine Weile her. Weder war ich trainiert noch hatte ich die Techniken gut in Erinnerung. Sollte ich es wagen, mich aus dem Gedächtnis heraus auf eine Messerabwehr einzulassen, die ich seinerzeit mal im Training geübt hatte? Konnte ich mich mit den eingerosteten Bewegungen und halbvergessenen Schlägen und Tritten gegen zwei Personen wehren? Lief es schief, war ich mindestens verletzt, vielleicht schwer, schlimmstenfalls sogar tot. Lief es gut hatte ich da zwei Personen liegen, mit denen ich nichts anfangen konnte.

War es der Sportsgeist, eine gewisse Verzweiflung oder schlicht der Impuls des erneut gegen meinen Hals gedrückten Messers? Jedenfalls lief ab diesem Moment irgendein wahrscheinlich aus lange vergangenen Trainingszeiten programmierter Ablauf an. Ein beherzter Tritt auf seinen Fuß zur Ablenkung, das drehende Durchtauchen unter dem Messer und der Hebel, mit dem ich ihm den rechten Arm auf den Rücken drehte waren wie eine Bewegung.

Schon lag mein Gegner auf dem Boden, ich über ihm, fixierte seinen Arm und hatte sein Messer in der Hand. Er war völlig überrumpelt, hatte nicht mit meiner Gegenwehr gerechnet und versuchte nun, sich aus meinem Griff zu befreien. Auch in seinen Kumpel kam jetzt Bewegung, er sprang auf, wich aber zurück als ich mit dem Messer auf den unter mir liegenden Körper zielte und ihn anfauchte, dass er sich auf den Boden werfen solle.

Für ein paar Sekunden schien ich die Situation unter Kontrolle zu haben, aber dann wurde mir klar, dass ich das Problem nur verschoben hatte. Wie sollte ich mich alleine gegen zwei Personen wehren, ich konnte ja nicht unbegrenzt auf dem einen hocken und den anderen in Schach halten. Vielleicht konnte ich die beiden mit Verbandsmaterial aus meinem Rucksack fesseln, aber wie sollte das gehen?

An dieser Stelle kam mir der Zufall zur Hilfe. In weiter Entfernung in der Richtung aus der ich gekommen war, war eine Staubwolke zu sehen, die zügig näher kam. Es musste der Bus sein, der von der Grünsiedlung kommend diese Piste entlanggefahren kam. Tatsächlich, es war Bus, wie sich beim Näherkommen herausstellte, auf die Unzuverlässigkeit des Fahrplans war Verlass.

Die spontane Erleichterung wich schnell einer neuen Furcht, denn wie musste man eine Szene interpretieren, in der ein Ausländer mit einem Messer in der Hand auf einem Einheimischen sitzt und dessen Freund bedroht. Natürlich würden die zwei eine ganz andere Geschichte erzählen, sich gegenseitig bezeugen und mich als Täter darstellen.

Wenige Meter vor uns kam der Bus zum Stehen, ein paar kräftige Männer sprangen heraus, entrissen mir das Messer und hielten uns drei fest. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir von einer Menschentraube umringt, alle redeten durcheinander und riefen sich gegenseitig Befehle zu, wie es weitergehen sollte.

In dem Durcheinander wurde auch ich zu Boden gedrückt, Dreck in Mund und Nase ließen mich schwer atmen, dazu die Hitze, vielleicht auch zu wenig Flüssigkeit und ein Anflug von Sonnenstich führten zu Sternchen vor meinen Augen. Meine Kraft ließ nach, ich wollte einfach raus aus diesen wechselnden Todesängsten.

Möglicherweise hatte ich einen kurzen Filmriss. Denn gefühlt im nächsten Moment saß ich im Bus, vor mir ein bemerkenswert hässlicher junger Mann mit übergroßer Nase und schiefen Zähnen, die er mir jetzt in einer Art Lächeln zeigte. „Guter Mann!“ sagte er zu mir und jetzt konnte ich mich auch wieder erinnern, dass wir vor ein paar Tagen zusammen in der Grünsiedlung gearbeitet hatten. Wir hatten Handwerkstipps ausgetauscht und ich hatte ihm ein paar Brocken deutsch beigebracht.

Von meinen beiden Widersachern sah ich nichts, aber ich bekam mit, dass der Bus langsam und umständlich wendete, während die Fahrgäste nach und nach wieder einstiegen. Offensichtlich war das Ziel geändert worden und wir schienen wieder zurück zu der Siedlung zu fahren, in der ich die vergangenen Tage verbracht hatte.

[Episode 6 -> Traumatisches Erlebnis]