Traumatisches Erlebnis
Der Überfall lag nun schon einige Tage zurück. Ich hatte Glück gehabt, denn ich war nicht nur unverletzt davon gekommen, auch die befürchtete Verurteilung oder gar Inhaftierung war mir erspart geblieben. In der Siedlung hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen versammelt, alt und jung wie ein repräsentativer Querschnitt der Bewohner. Sie hatten sich die Versionen unserer Geschichte angehört, beraten und waren dann zu dem Ergebnis gekommen meine Ausführungen für glaubwürdig zu halten. Zwar wog das bei mir aufgefundene Messer schwer als Beweis meiner Schuld, gleichzeitig wurde aber das fehlende Motiv berücksichtigt.
Da die beiden Räuber hier unbekannt waren wurden sie mit einem glühend heißen Eisen für ihre Tat gebrandmarkt, dann aber auch medizinisch versorgt und mussten eine Woche ohne Bezahlung für die Kommune arbeiten. Die Einwohner waren weniger überrascht als ich, als sie nach Ablauf dieser Zwangswoche darum baten weiter bleiben zu dürfen, sich jetzt auch offiziell zu ihrer Tat bekannten und versprachen, sie nicht zu wiederholen. Keine Ahnung, wie es weiterging, denn jetzt wollte ich doch endlich mein Abenteuer fortsetzen und mich aufmachen zu neuen Erlebnissen.
Die meisten Wege legte ich jetzt zu Fuß zurück, wanderte von Dorf zu Dorf und Siedlung zu Siedlung. Je nach Strecke gab es auch gar keine Straßen, eher Wege, die man mehr oder weniger komfortabel benutzen konnte. Mangels Karte musste ich mich mehr auf den Kompass verlassen, bewegte mich im Laufe der Wochen insgesamt in Richtung Norden, was ich auch an der zumindest ein wenig nachlassenden Temperatur merkte. Kam ich doch mal an einer Häusersammlung vorbei, die die Einwohner als Stadt bezeichneten, dann konnte ich pausieren und mich orientieren. Meistens gab es dann einige Kilometer weit auch echte Straßen, nach und nach in Wege und schließlich in Pfade übergehend.
Auf solch einer Straße war ich unterwegs, die Mittagszeit war schon merklich vorüber und die Sonne stand schon ziemlich tief, so dass sie mich blendete. Vermutlich war das der Grund, warum ich das Auto nicht direkt bemerkte, das neben der Fahrbahn vor einem Baum stand. Es dauerte auch einen Moment, bis ich realisierte, dass das Fahrzeug dort nicht geparkt war, sondern einen Unfall hatte und gegen den Baum gefahren war. Noch einen Moment später begriff ich, dass es Verletzte geben müsste und ich beschleunigte den Schritt, um zu dem Gefährt zu kommen.
Und tatsächlich sah ich jetzt das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Front war komplett eingedrückt, die Windschutzscheibe geborsten und eine Person hing auf dem Fahrersitz mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Auf dem Armaturenbrett war Blut, der Kopf des Fahrers ebenfalls blutig und ein kleines rotes Rinnsal ging von der Stirn über die Wange bis zu den Schultern. Alles sah völlig unwirklich aus, so als ob ich in einem Kinofilm wäre und der Regisseur gleich aus dem Unterholz träte und der Szene ein Ende machte.
Aber es gab keinen Regisseur, alles war echt. Jetzt sah ich, dass der Mann sich ganz leicht bewegte, ich kam näher und überlegte fieberhaft, was ich machen könnte. Ich bin kein Arzt, selbst erste Hilfe hatte ich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr angewendet. Beim Öffnen der Tür kam mir der Oberkörper entgegen, er war nicht angeschnallt gewesen und war beim Zusammenstoß mit dem Baum mit seinem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt. Jetzt lag er mir in den Armen, der ganze Körper völlig schlaff, ich legte meine Arme um seinen Brustkorb und ein leichtes Wimmern machte mir klar, dass auch dort vermutlich einiges kaputt gegangen war.
Trotzdem schleppte ich ihn aus dem Auto, legte ihn auf den Boden und überlegte hektisch, wie ich Hilfe bekommen sollte. Ich rekapitulierte die Verletzungen, Rippenbrüche wären ja erst mal nicht so schlimm, aber da könnten innere Verletzungen hinzukommen, dann aber insbesondere auch der mächtig angeschlagene Kopf. Immer noch tropfte Blut, jetzt sah ich auch, dass es nicht nur eine Platzwunde war, sondern der Schädel selbst verletzt war. In diesem Moment machte der Mann den Mund auf, auch die Augen öffneten sich ein Stückchen. Er rang nach Luft, dann kamen Laute aus seinem Mund, die ich allerdings nicht verstehen konnte.
Panik stieg in mir auf. Was konnte ich bloß machen, die Wunde versorgen, aber womit? Oder vielleicht irgendwie bequem lagern und loslaufen, um Hilfe zu holen. Aber selbst wenn ich das nächste Dorf erreichte hieß das ja nicht unbedingt, dass dort so etwas wie ein Arzt war. Der Verbandskasten kam mir in den Sinn und ich legte ganz vorsichtig den Kopf auf dem Boden ab, um zum Auto zu laufen. Der Mann fing jetzt an lauter zu stöhnen, ich war hin- und hergerissen zwischen Dableiben und Verbandszeug holen.
Wieder machte er den Mund auf, flüsterte irgendetwas in fremder Sprache, es war mehr ein Gurgeln als ein Sprechen. Ich lief zum Auto und suchte nach Verbandsmaterial, natürlich ohne Erfolg. Als ich wieder zu dem Mann zurückkam hatte er sich ein kleines Stück gedreht, jetzt lief auch aus seinem Mund Blut heraus, es war ein furchtbarer Anblick. Und diese Hilflosigkeit, die in mir aufstieg, ich schaute ihn an, ganz klar, er lag im Sterben und ich konnte nichts mehr tun, als ihm dabei zuzusehen. Er holte rasselnd Luft, wieder und wieder, die Zeit schien stillzustehen.
Ich setzte mich auf den Boden, nahm ganz vorsichtig seinen Kopf vom Boden und legte ihn auf mein Bein. Vorsichtig streichelte ich ihn und fing an, ein Kinderlied zu singen. Nichts besseres fiel mir ein. Mit schweren Lidern öffnete er nochmals seine Augen, schaute mich an, ich glaube, er wollte wieder etwas sagen, aber diesmal kam kein Laut mehr aus ihm heraus. Er schaute mich an, vielleicht versuchte er in seinen Schmerzen zu lächeln, der Mund verzog sich ein wenig, aber das war schon alles.
Es musste doch irgendetwas geben, was ich tun konnte. Irgendwas. Aber mir fiel nichts ein, obwohl ich krampfhaft in meinem Gedächtnis kramte. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich einfach nicht helfen konnte, bestenfalls noch die letzten Minuten seines Lebens begleiten. Noch einmal zuckte er, versuchte wohl den Kopf zu bewegen, was ihm aber nicht gelang. Seine Beine bewegten sich noch einmal, dann kehrte Ruhe ein. Ich schaute ihn an, legte mein Ohr an seinen Mund, aber da war nichts mehr zu hören. Mit nervösen Fingern griff ich den Arm, doch da war kein Puls mehr, hatte ich vielleicht an der falschen Stelle probiert, nein, der Puls war weg.
Einen Moment blieb ich noch so sitzen, einen leblosen Körper in meinen Armen, ein Toter, wie mir klar wurde. Es lief mir kalt den Rücken herunter, trotz der Hitze fing ich an zu frösteln. Unendliche Minuten später hatte ich mich gefangen, zog den Leichnam vorsichtig wieder zum Auto, zerrte ihn auf den Rücksitz und drückte alle Türen zu. Nochmal hielt ich mein Ohr an seinen Mund, tastete ich nach seinem Puls - er war tot, das konnte auch ein Laie wie ich sicher feststellen.
Was für ein verstörendes Erlebnis. Noch nie hatte ich einen Toten so nah gesehen, noch nie einen Sterbenden in den Armen gehalten. Mich noch nie so hilflos gefühlt. Und alles in der Fremde, alleine. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, es war wohl eher ein Automatismus, der mich zum nächsten Dorf führte. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass mir die Einheimischen sofort ansahen, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Sie rannten auf mich zu, belagerten mich und bestürmten mich mit Fragen. Kaum hatten sie von meinem furchtbaren Erlebnis erfahren machte sich eine Handvoll Männer auf den Weg, um Auto und Fahrer zu holen.
Dann flößten sie mir irgendeinen hochprozentigen Schnaps ein, trösteten mich und versuchten, mich auf andere Gedanken zu bringen. Völlig im Tran von Alkohol und Erschöpfung verlor ich langsam mein Bewusstsein und kam erst am nächsten Morgen wieder zu mir, diesmal selbst in den Armen einer alten Frau, die mir zärtlich durch das Haar strich und auf mich in ihrer Sprache immer wieder mit "mein liebes Kind, mein armes Kind" einredete. Als sie sah, dass ich meine Augen öffnete strahlte sie mich an, sprang auf und verschwand eilig aus dem Zimmer. Um im nächsten Moment mit einer Gruppe junger Leute zurückzukommen, die sich als die deutsche Reisegruppe vom Anfang meiner Reise entpuppte.
Das war eine schöne Überraschung, sofort kam ich auf andere Gedanken, während mir die fünf von ihren Erlebnissen erzählten. Nein, weder einen Überfall noch einen Autounfall hatten sie erlebt, aber am Meer waren sie gewesen, hatten dort relaxt, viele Einheimische kennengelernt und schließlich auch in der Oase gearbeitet. Den Rest des Tages verbrachten wir mit zunehmend mehr Alkohol im Blut, der uns die Hitze vergessen ließ, die zur Mittagszeit zunahm, um zum Abend wieder langsam nachzulassen.
[Episolde 7 -> Ausklang am Meer]
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