01 November 2024

Gell, du verstehst mich

"Ennndlich....", nuschelst du zu mir herüber, "ennndlich maaal einer, der zuhööörd." Nüchtern sind wir beide nicht, aber mein Geist ist noch halbwegs da und ich kann dich betrachten, während du dein Glas mit beiden Händen festhältst, nicht nur die Zunge ein wenig schwer geworden, auch der Kopf scheint recht wackelig über deinen Schultern zu thronen.

Es ist nicht einfach, dir auf deinem wilden Ritt durch die Themen zu folgen. Vorhin hast du mir von deiner Mutter erzählt, bist dann recht unvermittelt auf irgendeinen Klaus, wohl ein Schulkamerad aus der Grundschule, gekommen und nimmst gerade die Kurve, um etwas über die Ungerechtigkeit des Lebens in Ausbildung und Beruf zu erzählen.

Gell, du verstehst mich
Entsprechend mische ich mich nur wenig in dein Gespräch ein, höre zu und grüble über den einen oder anderen Gedanken nach, den du in weinseliger Stimmung auf dem Tisch ausbreitest. Im Griff des Rieslings frage ich nach, wie du denn Gerechtigkeit definieren würdest, warum du das Leben so empfindest und überhaupt, was für dich der Kern des Lebens ist.

Hoppa, macht das Thema, und du berichtest von den Tagen in der weiterführenden Schule, den Schulgottesdiensten und dem Geruch nach Weihrauch, von dem du immer Kopfschmerzen bekommen hast. Der Pfarrer und die Klosterbrüder waren nach deiner Erinnerung sexuell nicht gerade gefestigt, ob sie sich für Buben oder Mädchen interessierten oder es bei feuchten Träumen und Masturbation bewenden ließen.

Einen Schluck später kommst du dann doch noch auf meine Frage nach der Gerechtigkeit zurück und spielst den Ball weiter in Richtung Wirt. Gerecht wäre es, wenn er die Gäste reihum bedienen würde und ihr Glas wie beim Round-Robin füllen würde. Ob ich Round-Robin kenne, ein Begriff aus der IT, den du mal bei deinem Partner aufgeschnappt hast.

Jetzt ist es an meinen Gedanken, ein bisschen weiterzuhüpfen. Warum sprechen die Menschen nur immer von ihrem Partner, so emotionslos als wäre es ein Baustein, ein mehr oder weniger technisches Element im Leben. Meine Arbeitskollegen sind Partner, einige mag ich persönlich sehr gerne und treffe mich auch außerhalb der Dienstzeit mal mit ihnen. Aber die Menschen, die mir so richtig nahestehen, die würde ich als Freunde bezeichnen und die Person, mit der ich mein Leben teile als Geliebte.

Oh weh, in meinen Gedanken versunken ist meine Trinkgenossin schon wieder in ihrer komplexen Themenwelt abgebogen. Hektisch versuche ich, den Anschluss wieder zu finden, höre von ihren Brüdern und der Wohnung, in der sie ein Gästebett hat, um auch mal überraschenden Besuch beherbergen zu können. Es wird nicht klar, ob das eine Anspielung auf mich sein soll oder ob sie mir nur die Ausstattung ihrer Bleibe darstellen möchte.

Der Wirt kommt, aber anstelle einer Bestellung bitte ich ihn um die Rechnung. Während er zur Theke zurückschlurft versuche ich, den Abend zu resümieren. Die Vielzahl der kaum zusammenhängenden Themen macht es mir schwer, ein Gesamtbild zu bekommen. Wir haben uns lebhaft unterhalten, ein paar Monologe dazwischen, Berichte von Szenen, vereinzelt mehr oder weniger intime Details aus dem persönlichen Schatzkistchen.

Und doch ist es vorwiegend eine Beschreibung des Umfeldes, nur an wenigen Stellen habe ich einen kurzen Blick hinter die Fassade werfen können. Merkwürdig neutral und ohne Tiefgang habe ich mir nicht wirklich ein Bild von dir machen können. Ja, denke ich zurück, ja, ich habe dir zugehört, aber verstanden habe ich dich nicht.

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