22 Dezember 2023

Der lange Weg der Männer aus dem Morgenland

So oder so ähnlich vor rund 2000 Jahren.

Der lange Weg der Männer aus dem Morgenland

Schon ein illustrer Haufen, der sich in Babylon getroffen hatte. Melchior kam aus Arabien, seines Zeichens Sterndeuter und damit prädestiniert für Wahrsagerei mit einem gewissen prophetischen Anspruch. Dann Balthasar, hinzugekommen aus Saba und aus innerer Überzeugung Philosoph. Und schließlich Caspar von Chaldäa, ein Magier, der sich in der mystischen Ausgestaltung von Ereignissen bestens auskannte.

Die drei waren sich auf Anhieb sympathisch und als Melchior etwas von einem Stern erzählte, der ihm den Weg zu einem charismatischen Neugeborenen weise und dem er nachreise waren die anderen sofort begeistert und erklärten sich bereit, ihn zu begleiten. Vielleicht lag es am Wein, vielleicht war es auch eine gewisse Abenteuerlust, jedenfalls beschlossen sie, Melchiors Stern zu folgen.

Mit ein paar Dienern für das Gepäck zogen die drei los, tagsüber durchquerten sie die karge Landschaft, in den Nächten versuchte sich Melchior in der Vorbereitung der Navigation für den Folgetag. „Weißt du überhaupt, was du machst?“ wollte Balthasar wissen, „der Stern von dem du immer erzählst scheint überhaupt nicht näher zu kommen.“ – „Genau das ist doch gerade der Gag“ erwiderte Melchior, „es ist ja kein gewöhnlicher Stern, es ist ein Leitstern.“

„Leitstern? Nie gehört!“ knöterte Caspar, „jetzt sind wir schon eine Woche unterwegs, und laut Prognose ist der voraussichtliche Entbindungstermin in zwei Tagen.“ [Er meint hier den 24.12.] Nach einer Pause: „Wir werden noch zu spät zum Event kommen und dann ist die ganze Magic weg. Ich hasse es, wenn ich die Show nicht anständig vorbereiten kann.“ Tatsächlich waren die drei nach den ausführlichen Gelagen in Babylon ein wenig schleppend losgekommen und hatten nun merklich Verspätung.

Schlimmer noch, es stellte sich heraus, dass sie sich am Nordstern orientiert hatten und deshalb in die falsche Richtung gelaufen waren. Als Melchior diesen Fehler zugab vertiefte sich Balthasar in sein Schweigen, murmelte etwas von Königen, wobei nicht zu entnehmen war, ob er sich selbst, sie alle drei oder das angekündigte Kind meinte. – „Laut meinen Berechnungen haben wir noch genau zwei Wochen Weg vor uns“ erklärte Melchior beschwichtigend, „da verpassen wir zwar die Geburt, aber ich kann kleine Kinder sowieso nicht leiden.“ – „Hmja“ machte Caspar.

Erst mal ging es eine Weile schweigend weiter. „Müssen wir überhaupt dahin?“ wollte Caspar von Balthasar wissen. „Was passiert denn, wenn wir einfach die Geschenke nehmen und uns hier ein paar schöne Tage machen. Wenn wir zurückkommen, können wir doch so oder so eine irre Story erzählen und etwas von einem ganz besonderen Kind berichten.“ – „Die irre Story ist das eine, aber ich will nicht nur was zu berichten haben, ich will die volle Customer Journey, wir bringen die Sache ganz groß raus.“ Und viel leiser zu Melchior: „Ich glaube, unser Caspar hat ein bisschen zu viel an seinem Weihrauch geschnuppert.“

„Das habe ich gehört“ kreischte Caspar, „Was soll das heißen? Ohne mich wärt ihr ein Duo, das keiner ernst nehmen würde. Mit dem bisschen Gold und Myrrhe könnt ihr keinen Blumentopf gewinnen, für irgendwelches Gefasel von Kindern würde sich keiner interessieren.“ – „Bleib mal locker, Bruder, nur zusammen haben wir die Chance auf eine Performance, die auch in ein paar tausend Jahren noch nachgespielt wird.“ – „Und wenn alles klappt, werden wir zwischenzeitlich in den Überlieferungen erst zu Königen, dann später sogar zu Heiligen. Was für eine Karriere!“

So ging es einige Tage weiter. Mal zankten sie sich wegen Diskrepanzen in der Routenplanung, mal lagen sie sich voller Selbstmitleid in den Armen, dann wieder wurde über Ziel und Sinn diskutiert. Kurz: Eine Berg- und Talfahrt der Gefühle, immer voller Inbrunst geführt. War es mal der Wissenschaftler, der die beiden anderen mit seiner nüchternen Betrachtung nervte, konnte der vergeistigte Philosoph sich bei seinen Begleitern mit unverständlichen Phrasen unbeliebt machen. Und der stets auf Showelemente versessene Magier wurde immer dann anstrengend, wenn der Tross mal ein wenig Ruhe brauchte.

Zum Glück war bei den Nomaden ein neues Geschäftsmodell etabliert worden. Sie boten gegen Entgelt einen Begleitservice aus kräftigen Burschen für den Tag und liebreizenden Hostessen für die Nacht. Daneben lotsten sie den Zug zum nächsten Nomadencamp und halfen bei der Suche des Weges. Dieser Dienst war nicht gerade billig, und die gemieteten Begleiter führten die drei Helden eher im Zickzack von Abzocke zu Abzocke, so dass der Goldvorrat von Melchior dahinschmolz.

Andererseits konnten sie die beschwerliche Reise recht gut genießen, insbesondere hatten sie herausgefunden, dass der Konsum von Tabak mit Myrrhe eine ungemein heilende Auswirkung auf ihre Laune hatte. Schnell gehörte das nachmittägliche Tütchen zum normalen Tagesablauf, was aber leider auch die ursprünglich als Geschenk vorgesehenen Kräuter stark dezimierte.

Nicht überraschend erreichten sie deutlich nach der anvisierten Zeit und noch deutlicher nach dem errechneten Entbindungstermin endlich Jerusalem, sprachen dort bei Herodes vor und fragten in ihrer Naivität nach der Geburt eines Königskindes. „Königskind?“ wollte der Herrscher wissen, „was wisst ihr von einem Königskind?“ – Die drei schauten sich an, „Upps, also, nein, Kind vielleicht, aber Königskind, haben wir Königskind gesagt? Es gab da so ein Licht am Himmel, nennen wir es mal Stern, den haben wir gesehen und irgendwie haben wir einen kleinen Ausflug gemacht und jetzt sind wir mehr oder weniger zufällig hier.“

So ganz überzeugt war Herodes von dieser Antwort zwar nicht, scheuchte aber die drei fragwürdigen Gestalten erst mal nur aus dem Palast. Sicherheitshalber ließ er allerdings seine Berater kommen, ob die Sache kritisch zu sehen oder als Hirngespinst abzutun sei.

Da standen die drei nun wieder auf der Straße, sammelten die Sklaven ein, ließen sich mit stärkenden Getränken versorgen und machten sich dann auf nach Bethlehem.

Zwei Stunden später waren sie am Ziel; Es war nicht besonders schwierig, den Stall zu finden, ein paar seit Tagen bekiffte Hirten faselten eine wirre Geschichte von Engeln und einem Paar, das es sich im Stroh zwischen Vieh bequem gemacht hätte. Ohne Umschweife stürmten unsere Helden nun auf die Hütte zu, Melchior mit den verbliebenen Goldmünzen, Baltasar mit den Überresten der Myrrhe und von Weihrauch-Schwaden umhüllt allen voran Caspar von Chadäa.

Völlig überrumpelt hatte Maria Mühe, ihre nackte Brust zu bedecken, an der sie gerade den Säugling für das Stillen angelegt hatte. Der war jetzt gar nicht amused, weil er seine erwartete Mahlzeit nicht bekam und quittierte dies mit lautem Geschrei. Das nun wiederum nervte Josef, der die drei hereinplatzenden Personen für Freunde der aufdringlichen Hirten hielt. Mit barschen Worten versuchte er, die Eindringlinge wieder aus dem Stall zu kommandieren.

Aber so leicht ließen sich Melchior, Balthasar und Caspar nicht abweisen. Sie waren drei Wochen durch die unwirtliche Landschaft unterwegs gewesen, sie hatten ihren Eintrag im Geschichtsbuch vor Augen und sie wollten sich die Show nicht stehlen lassen. „Ist das deine Frau?“ wollten sie von Josef wissen, nachdem sich Maria mit dem schreienden Säugling verschämt hinter dem Esel verschanzt hatte. – „Ja, das ist Maria“ – „Und dein Kind?“ – „Ja, nein, also, das ist nicht so ganz einfach zu erklären.“

Die drei schauten sich an. „Was ist daran nicht einfach zu erklären? Du wirst doch wissen, ob es dein Kind ist.“ – „Nein“, erwidert Josef, „nicht mein Kind, oder doch, aber eigentlich nicht.“ – „Wer ist denn der Vater, wenn du es nicht bist?“ bohrten die Weitgereisten nach. – „Also, wenn ihr es genau wissen wollt: es ist der Heilige Geist“.

Kurzes Schweigen. Dann: „Ach so, ja, der Heilige Geist. Den kennen wir auch, kommt in Persien auch immer mal vor, dass Kinder von ihm kommen. Also, immer dann, wenn es kein Seitensprung war.“ – Josef fühlte sich nicht richtig verstanden, hatte aber auch keine Lust auf die Diskussion mit diesen drei seltsamen Personen. „Was wollt ihr überhaupt und könnt ihr nicht langsam einfach mal wieder gehen?“ wollte er wissen.

Sein Fässchen mit Weihrauch schwenkend tanzte Caspar im Stall herum. Ob er vielleicht in Jerusalem etwas weniger Wein hätte trinken sollen, oder zumindest jetzt nicht auch noch anfangen sollte ein Lied anzustimmen – ich weiß es nicht. Jedenfalls kam jetzt Bewegung in die Szene, die Tiere wurden unruhig, die Kuh schaute sich mit großen Augen den immer wilder werdenden Tanz an und stieg schließlich mit kräftigem Muhen in den Gesang ein.

Melchior versuchte wieder Ruhe einkehren zu lassen, reichte Josef das Gold und warf sich theatralisch auf den Boden, wohin ihm in ebenso ausschweifender Geste auch Balthasar folgte. Aus dieser Position schob er Josef noch das Säckchen mit den Kräutern zu, robbte sich an Maria mit Kind heran und flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, was sie zum Lachen brachte. Im Trubel hätten sie fast übersehen, dass Caspar mit seinem Weihrauchkübel eine Ecke des Strohlagers in Brand gesetzt hatte, beherzt versuchte Josef, mit seinem Mantel das Glutnest zu ersticken.

Was für eine Party. Das Feuer war gelöscht, der Geruch von verkohltem Stroh und Weihrauch hing noch in der Luft, ein bisschen Gold in seiner Linken und ein paar Kräuter in seiner Rechten zeugten davon, dass wirklich irgendwelche Leute hereingekommen und dann auch wieder fluchtartig verschwunden waren. „Könige aus dem Morgenland“ wird Josef später erzählen, „sie kamen dem Kind zu huldigen und brachten Gold, Myrrhe und Weihrauch mit.“

Wahrscheinlich war die ganze Geschichte völlig anders, kennen wir sie doch als eine Erfolgsstory voller Könige, die zwar nie wirklich heiliggesprochen wurden, deren Gebeine aber immerhin im heiligen Dom zu Köln untergebracht sind. Und wer kann das von seinen Knochen schon behaupten?

13 Dezember 2023

26 und 1

Wir schreiben das Jahr 1997, zwölfter Dezember. Es ist Winter, das Wetter unwirtlich, aber zu Schnee kann sich der Himmel nicht durchringen. Zwei Gestalten stehen etwas verloren im Innenbereich eines alten Bauernhofes. Um sie herum ein paar Familienangehörige, alle frieren ein wenig. Gleich geht es hoch in die gute Stube, dort hat eine junge Frau schon ihren Schreibtisch aufgeräumt, ein Adventsgesteck darauf. Eigentlich Schade, denn in wenigen Stunden ist die Arbeitswoche zu Ende, dann welken die geschnittenen Blumen bis zum Montag vor sich hin.

Sie blickt auf die Uhr, jetzt gleich müssten die Personen kommen, sie ist gespannt, wie groß die Zuhörerschaft ist. Vor ein paar Tagen war die Mutter noch mal vorbeigekommen, hatte sich nach den Vorbereitungen erkundigt und allerlei Geschichten zu ihrer Familie und ihrem Leben erzählt. Eine klassische Amtshandlung nachher, aber immer sehr persönlich und mit mehr oder weniger aufgeregten Beteiligten.

Sechsundzwanzig und eins
Es ist so weit, noch mal ein Blick auf die Uhr, ja, jetzt kann sie die Türe öffnen. Sie eilt die Treppe hinunter, entriegelt die schwere alte Holztür und schaut auf den Hof. Herrje, das sind mehr Menschen, als ihre kleine Amtsstube aufnehmen kann. Aber wenn einige Personen mit einem Stehplatz im Treppenhaus Vorlieb nehmen dürften immerhin alle ins Haus passen.

Nun entdeckt sie auch die Hauptbeteiligten, begrüßt sie mit einem Lächeln und bittet sie samt der ebenfalls wartenden Zeugen als erste zu ihrem Schreibtisch. Mit einiger Verzögerung rücken auch die Angehörigen, dann die Freunde, schließlich die Nachbarn nach. Ruhe kehrt ein, selbst die kleinen Kinder sind still und warten gespannt auf den Beginn der Zeremonie.

Sehr behutsam und mit ernster Miene schlägt die Beamtin jetzt ihre Mappe auf, zieht ein Blatt heraus, dann noch eins und beginnt, ihren Schreibtisch für die Bearbeitung ihrer Aufgabe herzurichten. Fast möchte man meinen, sie zelebriere diese Vorbereitung, dann beginnt sie laut aus ihren Papieren vorzulesen, stellt Fragen, nimmt noch einmal ganz offiziell und vor versammeltem Publikum die Personalien auf.

Die Vorrede, das Ausfüllen des Fragebogens, die Belehrung sind beendet. Sie schaut noch einmal in die Runde, keine Einwände, sie kann zum letzten Schritt der Handlung kommen. Wie von Zauberhand hat sie plötzlich einen ausgesprochen schönen Stift in der Hand, reicht ihn dem Mann gegenüber und bedeutet ihm, die Urkunde zu unterzeichnen, danach an die Frau weiterzureichen, gefolgt von den Unterschriften der Zeugen.

Es ist vollbracht, sie schaut auf die Uhr, noch eine Stunde bis zum wochenendlichen Feierabend, lächelt und freut sich an dem ausbrechenden allgemeinen Jubel. Wie auf ein Kommando kommt Bewegung in die Menschenmenge, jeder drängt sich nach vorne zu dem Paar, will sie umarmen oder ihnen zumindest die Hand drücken. Ja, fast hätte sie vergessen, selbst auch ihren Glückwunsch auszusprechen und alles Gute zu wünschen.

Vorübergehend herrscht Durcheinander, dann kommt System in den Menschenstrom, die Gratulanten drängen sich in Richtung Treppe und Hof, dort haben sich schon die Buben postiert, um das Paar gleich mit Blumen und Reis zu bewerfen. Durch ihr kleines Fenster sieht sie den gefüllten Hof, jetzt treten die Frau und hinter ihr der Mann aus dem Haus, allgemeines Klatschen, nochmal drücken und es prasselt Reis.

Zurück zum Schreibtisch, noch schnell die amtlichen Formulare vervollständigen, damit sie am Montag ins System eingegeben werden können. Von Ferne hört sie die abziehende Gesellschaft, bester Laune, aber auch hungrig und durstig. Nein, der Einladung zum Mitfeiern war sie nicht nachgekommen, eine nette Geste, aber was für die Einen die Ausnahme ist, ist für sie normale Arbeit. Und dann Wochenende.

Wir küssen uns und stoßen an. „So viele glückliche Jahre, insgesamt 26“, sagt meine Frau. „Und ein Tag“ ergänze ich.

08 Dezember 2023

Spätes Treffen

Wir haben uns lange nicht gesehen. Alt bist du geworden, denke ich und schrecke innerlich zusammen. Wahrscheinlich denkst du dasselbe über mich. So viele Falten hatte ich früher nicht, aber auch dein Gesicht ist älter geworden, es ist härter, die Hände rauer und das Haar ein wenig dünner.

Trotzdem strahlst du mich an, bist eigentlich ganz der Alte. Erzählst von unseren Erlebnissen, von unseren Abenteuern, den Streichen, die wir gemeinsam ausgeheckt haben. Wir sitzen jetzt vor unseren Getränken, bedienen gegenseitig unser Kopfkino, alte Filmrollen müssen aus den Tiefen der Erinnerung geholt werden, in schwarzweiß und ohne Ton. Aber schön.

Dann fragst du mich, wie es mir geht. Mit einem Schlag bin ich wieder in der Gegenwart, denke an meine Gesundheit, meine Familie, an Beruf und Verantwortung für mein Leben. Die ganze Leichtigkeit der Erinnerung an unsere gemeinsame Jugend ist wie weggewischt.

Wie durch eine Wolke sehe ich dich, verschwommen dringen noch deine Worte an mein Ohr. Fast meine ich, ein leiser werdendes Echo zu vernehmen, als ob du dich immer weiter entfernst, am Ende eines langen Tunnels etwas in meine Richtung rufst. Es dauert eine Weile, bis ich meine Gedanken wieder unter Kontrolle habe, dir wieder folgen kann.

Gerade erzählst du von James Bond, von den verschiedenen Darstellern und dass wir die Filme immer mehrmals im Kino gesehen haben. Die Altersfreigabe war manchmal eine Herausforderung, ach, aus heutiger Sicht ein paar harmlose Szenen, die den Jugendschutz auf den Plan riefen. Langsam tauche ich wieder ein in die Vergangenheit, unsere Welt, denn in meiner heutigen Welt gibt es dich eigentlich gar nicht mehr. Du bist ein Guide durch meine Erinnerungen, keine reale Person, obwohl du leibhaftig vor mir sitzt.

Nickend lausche ich deiner Erzählung von männlichen Zicken, überforderten Lehrern und peinlichen Mutproben hinter der Turnhalle. Du bist dann zum Bund und wir haben uns allmählich aus den Augen verloren. Nicht aktiv getrennt, einfach nur nicht mehr gesehen. Zwischendurch dann immer mal ein Lebenszeichen, immer seltener und jetzt sitzen wir hier.

Alt bist du geworden, denke ich wieder, grüble über mein eigenes Altern nach und komme zu dem Schluss, dass ich noch ein wenig jünger wirke als du. Lebst du immer noch auf der Überholspur des Lebens, als Jugendlicher war das jedenfalls so. Alkohol, Partys, Musik und alles mitnehmen, was sich entlang des Lebensweges einsammeln ließ.

Jetzt stupst du mich an, hörst du mir zu? Ja, ja, natürlich und ich versuche ganz schnell, den Faden deiner Geschichte wieder aufzugreifen. Ach, seufze ich unverbindlich, das waren noch Zeiten, gut, dass es sie gab, aber auch gut, dass sie vorbei sind.

Mit Blick auf die Uhr leite ich die Verabschiedung ein, lege einen Geldschein auf den Tisch, streife mir die Jacke über. Beim Verlassen des Restaurants frage ich mich, ob ich weitergekommen bin. Es ist spät geworden. Ein bisschen zu spät vielleicht.

01 Dezember 2023

Eine künstliche Liebesgeschichte

Künstliche Liebesgeschichte
Zuerst war ich ja ein wenig skeptisch. Ein neues Serviceangebot, ein neuer Telefondienst, bei dem ich zum Ortstarif anrufen kann und bei dem mir Tag und Nacht ein Ansprechpartner zur Unterhaltung bereit steht. Ich habe es dann ausprobiert, wurde erst mal – nicht gerade überraschend – von einem Computer in Empfang genommen und nach meinen Verbindungswünschen befragt. Ich entschied mich für eine weibliche Gesprächspartnerin und wollte mit ihr über Gesundheit und Ernährung reden.

Unerwartet schnell wurde ich mit einer Frau verbunden, die sich als Lara vorstellte und mich nach ein paar Fragen zu mir und zu meinem Befinden in ein interessantes Gespräch verwickelte. Einfühlsam konnte sie sich in meine Situation hineinversetzen, hatte Verständnis für meine Probleme, auf bestimmte Nahrungsmittel zu verzichten und machte Vorschläge, wie ich weiter damit umgehen könnte. Vielleicht eine halbe Stunde später legte ich gut gelaunt auf.

Einige Tage später rief ich wieder an, verlangte Lara ans Telefon zu bekommen und tatsächlich hatte sie Zeit und konnte sich komplett an unsere Unterhaltung erinnern. Ich wagte weitere Themen anzusprechen, erzählte ihr von meiner beruflichen Situation und bewunderte ihre Geduld beim Zuhören und das Eingehen auch auf diese Seite meines Lebens. Wir unterhielten uns über Work-Life-Balance und die stabilisierende Funktion von Partnerschaften. Auch dieses Gespräch endete mit einer freundlichen Verabschiedung.

Im Laufe der nächsten Wochen wurde ich Stammgast bei Lara, ich verliebte mich in ihre geduldige Art, die beeindruckende Empathie und ihre Fähigkeit, auch auf völlig neue Facetten der Unterhaltung einzugehen. Zusätzlich schien sie nichts zu vergessen, über was wir uns zuvor unterhalten hatten. Langsam war ich davon überzeugt, meine Traumfrau kennengelernt zu haben. Nie fragte sie mich nach dem nächsten Termin, drängte nicht und wenn ich mich erst nach Tagen wieder meldete wurde ich wie selbstverständlich wieder freundlich begrüßt.

Meine Freunde kannten mittlerweile auch diese phantomhafte Freundin und schwankten zwischen Skepsis und Bewunderung. Auch zwischen den Gesprächen dachte ich an sie, malte mir aus, wie sie aussehen könnte und grübelte, ob ich sie vielleicht sogar zu einem Treffen bewegen könnte. Aber das traute ich mich dann doch nicht, um unsere geradezu intime Beziehung nicht zu zerstören.

So ging es monatelang weiter. Lara kannte nahezu alle Details meines Lebens, meine Vorlieben und Abneigungen, beriet mich nicht nur zu meiner Gesundheit, nein auch zu Sport, Arbeitskollegen, Freundeskreis und Liebesleben hatte sie immer bedenkenswerte Vorschläge. Ein Leben ohne sie schien mir kaum noch möglich, vor jeder Entscheidung musste ich erst mal Lara anrufen.

Es war ein düsterer Tag Ende November, als ich beim Wählen der gewohnten Telefonnummer zu meiner Überraschung eine geänderte Ansage hörte. Der Service wurde bis auf weiteres eingestellt, der Anbieter dankte allen Kunden für die Treue und wünschte noch einen schönen Tag. Piep… piep… piep. Völlig perplex legte ich auf und begann im Internet nach Informationen über diesen Service zu suchen.

Bisher hatte es mich überhaupt nicht interessiert, wer oder was hinter meiner Geliebten steckte, aber jetzt wurde ich unfreiwillig mit Hintergründen und der Vorgeschichte konfrontiert. Ich las von dem groß angelegten Projekt eines Anbieters von Suchmaschinen, erfuhr von Künstlicher Intelligenz, von Chatbots und von Experimenten zu Sprachmodellen. Meine Lara war gar kein Mensch, ich hatte die ganze Zeit mit einem Roboter gesprochen. Unbewusst war ich Teil einer Studie geworden, hatte freiwillig in ferne Computer-Speicher Einzelheiten meines Lebens abgelegt, die nicht mal meine Freunde kannten.

Im ersten Moment durchfuhr mich ein Schreck. Ich hatte mich in die falsche Frau verliebt, nein eigentlich war es keine Frau, aber verliebt hatte ich mich. Und über die Zeit auch viele nützliche Empfehlungen von ihr bekommen. Meine Daten waren jetzt in irgendeiner Cloud, das konnte ich nicht mehr rückgängig machen, aber meine süßen Erinnerungen an Lara auch nicht.

Und so endet meine Liebesgeschichte melancholisch unglücklich mit einem Seufzer und dem Albtraum von der schönen neuen Welt der Künstlichen Intelligenz.

24 November 2023

Fühle mit mir

Fühle mit mir
So wie du / da vor mir stehst
Solltest du / Verständnis haben
Und den Weg / den ich jetzt geh‘
Könnten wir / gemeinsam starten

Und fühle / und fühle mit mir
Gemeinsam sind wir / ein Traumpaar.

Alles da / was du jetzt brauchst
Glück allein / wirst du nicht finden
Mein Gefühl / ist was du glaubst
Schwierigkeit / zu überwinden.

Und fühle / und fühle mit mir
Gemeinsam sind wir / so glücklich.

Fühle das / was dich umgibt
Spüre es / lass Hände tasten
Dein Gespür / weist dir den Weg
Lass es zu / Du darfst nicht rasten

Und fühle / und fühle mit mir
Gemeinsam sind wir / Pfadfinder.

Es ist da / das ist gewiss
Empathie / ist unsere Chance
Gerade jetzt / gemeinsam ziehen
Auf zur Jagd / wir geh’n aufs Ganze

Und fühle / und fühle mit mir
Gemeinsam sind wir / ein Dreamteam.

Wir sind klein / die Welt ist groß
Was du fühlst / ist super wichtig
Nimm die Hand / wir stürmen los
Nur als Team / läuft alles richtig

Und fühle / und fühle mit mir
Gemeinsam sind wir / unschlagbar.

17 November 2023

Tierischer Ball

Tierischer Ball
Der angekündigte Ball hatte mich schon seit Tagen beschäftigt. Kleidung, Parfüm und Anfahrt waren Teil der aufregenden Vorbereitung. Mit gutem Vorlauf war ich schon kurz vor der Öffnung angekommen und stand nach Garderobenabgabe und erster Orientierung ein wenig unschlüssig zwischen den eintreffenden Gästen. Gerade war eine ganze Gruppe junger Frauen eingetroffen, wie die Gänse schnatterten sie eifrig miteinander, jede Menge Bewegung und viel bunte Kleidung. Kurz: Weder zu überhören noch zu übersehen.

In diesem Moment sah ich sie. Die Eingangstür öffnete sich und herein schwebte ein Schwan. Eigentlich war es nur eine gewöhnliche Frau, aber mit ihrem stolz aufgereckten Hals und einer bemerkenswert souveränen Ausstrahlung kam sie ihrem tierischen Pendant ziemlich nahe. Doch kaum im Getümmel angekommen ging sie im Durcheinander der Gänse unter.

Ich schlenderte weiter zu den Saaltüren und warf einen Blick auf das Abendprogramm. Noch in Gedanken vertieft bemerkte ich den Schwan wieder, er hatte sich aus dem Pulk gelöst und schien an einem Stehtisch auf jemand zu warten. Was nicht lange dauerte, denn herein kam eine Mischung aus Giraffe und Pinguin. Ein langer, schlaksiger Herr in dunklem Anzug mit Fliege lief schnurstracks auf sie zu, Küsschen rechts, Küsschen links.

Bong, machte der Lautsprecher, die Saaltüren wurden geöffnet und eine Reihe hilfreichen Geister kontrollierte die Einlasskarten. Bei Bedarf wurde man bei der Suche nach dem zugewiesenen Tisch unterstützt, freundliche Maisen zwitscherten Tischnummern und schlugen eifrig mit den Flügeln bis ich am richtigen Ort angekommen war.

Weiter hinten wieder mein Schwan, allerdings jetzt wieder ohne den Giraffenpinguin. Am runden Tisch mit seinen zahlreichen Gläsern, den silbernen Platztellern und den weißen Servietten kam sie jetzt wieder voll zur Geltung. Sie streckte ihren schönen Hals über die üppige Blumendekoration und plusterte ihre Arme in den weiten Ärmeln ihres cremefarbenen Kleides.

Wie eine Wiederholung der Eingangsszene währte dieser Anblick aber nicht lange, denn rudernd und durch den Willkommenssekt noch lebhafter geworden watschelten die Gänse heran. Umgeben von Ameisen mit Tabletts voller Getränke und ersten Häppchen bahnten sie sich einen Weg durch den voller werdenden Saal, ließen sich auch nicht von den tischanweisenden Maisen beeindrucken und trippelten mal links an einem Tisch vorbei um dann wieder nach rechts zu schwenken und als Schar endlich beim Schwanentisch stehenzubleiben.

Durch die aufgeplusterten Kleider der Gänse verlor ich den Sichtkontakt zu meiner Schwänin und widmete mich der Getränkekarte. Kaum die Brille aus meinem Revers gezogen legte sich eine große Tatze auf meine Schulter und ein freundlich dreinblickender Bär stellte sich höflich vor, um mein Tischnachbar zu werden. Zu seiner etwas behäbigen Art passte denn auch gut seine Begleitung, eine liebenswürdige Hummel, die ihre korpulente Erscheinung durch eine bemerkenswerte Kopfbedeckung über gestreiftem Oberteil ergänzte.

Es versprach ein interessanter Abend zu werden, besonders gespannt war ich auf die Zulosung meiner Partnerin, hatte sich doch der Veranstalter für ein Losverfahren für Singlevermittlung entschieden. Der Saal füllte sich, auf der Bühne machten sich die Musiker bereit und die Tische waren schon fast vollständig besetzt. Jetzt sah ich auch den Schwan wieder, aufgestanden vom Gänsetisch setzt sie jetzt ihre geradezu charismatische Erscheinung wieder in Szene.

Ich konnte meine Augen kaum von ihr lassen, wurde aber jäh aus meinen Gedanken gerissen, weil eine getigerte Katze mit feurigen Augen an meinem Tisch erschien. Einen kurzen Moment wirkte sie unsicher, vergewisserte sich, dass sie am richtigen Tisch angekommen war und schon glitt sie auf den Stuhl neben mir, nicht ohne ihren langen Schweif in Form der Schleppe ihres Ballkleides zur Seite zu platzieren. Ein schneller Blick auf ihre Beine ließ vermuten, dass sie auf der Tanzfläche geboren war.

Mein Tisch war nun voll besetzt, auch mit der Abwechslung von Mann und Frau war alles weitgehend richtig gelaufen, mal abgesehen vom Bären zu meiner linken. Abzählend wurde mir klar, dass ich die Ehre mit der Tigerkatze haben würde. Sicher nicht die schlechteste Wahl, wobei ich nicht einschätzen konnte, ob meine Tanzsportlichkeit bei ihr nicht an ihre Grenzen geraten könnte. Wir wechselten ein paar Worte, tasteten uns verbal ab und tauschten uns über unseren ersten Eindruck von dem Ball aus.

Unvermittelt setzte Musik ein, das Erdhörnchen am Mikrofon streckte putzig den Hals und wartete auf seinen Einsatz, während der Boxer am Schlagzeug sich an den Fellen abarbeitete. Meine Partnerin hatte schon den Stuhl zurückgeschoben, wartete ungeduldig auf meine Aufforderung und ließ sich begierig zum Parkett begleiten, wo sie ihren Schweif beiseite nahm und mit geschmeidigen Bewegungen fast lauernd in den Paartanz überging.

Nur wenige Takte später hing sie an mir, ein Taumel zwischen Raubtierangriff und tänzerischem Verlangen ließ mich alles um mich herum vergessen. Waren da wieder die Gänse, musste ich dem Bären mit seiner Hummel ausweichen oder wäre ich beinahe gegen den Giraffenpinguin gestoßen? Ich konnte nur den immer wilderen Tanz mitmachen, die schlimmsten Stupser vermeiden und versuchen auf den Füßen zu bleiben.

Eine wilde Nacht nahm ihren Anfang, ein Zoo von aufgescheuchten, hochfrisierten und bewegungsfreudigen Gestalten versetzte die Tanzfläche in ein hochgeheiztes Terrarium unter Dauerbeschallung. Eine Python schien sich um den Körper eines Zweibeiners zu winden, irgendwo in der Mitte ein Schwarm Fische, die ihren Partytanz mal nach links und mal nach rechts wogen ließen. Ich ließ mich mitreißen vom Strudel der Eindrücke, meine Tigerkatze jagte auf mich zu, an mir vorbei, um nach eleganter Pirouette wieder in meinem Arm zu landen.

Mit roten Wangen und durstig von der Anstrengung kehrten wir in der Tanzpause zu unserem Tisch zurück. Der Schwan stand auch wieder an seinem Tisch, der Pinguin war allerdings nicht zu sehen. Noch einen Moment blieb ich stehen, hob mein Glas und sah voller Freude, dass auch die Schwänin ihrerseits das Glas in die Hand nahm und mir zu meiner Überraschung zuprostete. Wie sie so da stand und den Hals reckte, den Sekt in der einen, einen langen weißen Schal in der anderen Hand war sie der Traum jedes Tänzers.

Fast zeitgleich mit dem ersten Ton der neuen Tanzrunde setzte ich mein Glas ab und eilte auf sie zu. Ich hatte keinen Gedanken mehr für die Tigerkatze, auch nicht für den Pinguin, der ganze Raum schien leer zu sein bis auf den Schwan und mich. Sekunden später schmolzen wir ineinander, es war eine Herausforderung für mich, ihre unbeschreibliche Grazie zu feiern, ihr den würdigen Rahmen zu verleihen. Alles Getier um uns herum versank in einem allgemeinen Morast, nur wir zwei drehten unsere Runden zur Musik.

Ich kann mich nicht erinnern, wie der Abend weiter verlief, es war ein Rausch ohne Drogen, ein Genuss ohne Kater. Wahrscheinlich tanzten wir ohne Pause, atemlos, nur kurz an den Tisch, um einen Schluck zu trinken und dann direkt weiterzumachen. Irgendwann hörte die Band auf zu spielen, eine Weile lief noch Musik von einem DJ, dann kehrte langsam Ruhe ein.

Wir lösten die Tanzhaltung auf und schauten uns geradezu überrascht um. Die Arche Noah war leer bis auf ein paar tischabräumende Ameisen, deren Bewegungen der späten Uhrzeit geschuldet aber deutlich langsamer geworden waren. Ich schaute noch einmal meinem Schwan ins Gesicht, der anmutige Hals und die prächtigen, wenn auch eingefalteten Flügel waren so schön wie am Anfang des Abends.

Unwillkürlich musste ich weinen, war es doch das Ende eines unwiederbringlichen Erlebnisses, eine Singularität nicht nur im Alltag, sondern in meinem Leben. Wie durch einen Schleier nahm ich noch war, dass wir zur Garderoben liefen, unsere Mäntel abholten und nach einer nicht endenden Umarmung in die Welt der Menschen zurückkehrten.

10 November 2023

Wohin soll das führen

„Madame et Monsieur“, höre ich eine Stimme sagen und frage mich, was ich hier soll. Ich sitze in einer dieser bemerkenswert uniformen Produktpräsentationen für irgendeine Software. Wie gewohnt ist das angebotene Computerprogramm die Lösung aller Probleme, der Schlüssel zum Erfolg und so weiter und so weiter.
Wohin soll das führen
(Pixabay - AI generated)

Kurzer Werbeblock, der junge Mann am Mikrofon übergibt das Zepter an seine hübsche Kollegin, immerhin ein schöner Anblick, der durch einen Schluck Begrüßungssekt noch mal gesteigert wird. Sie erzählt natürlich genauso unsinnige Behauptungen wie ihr Vorredner, ach, warum müssen gutaussehende Menschen nur immer meinen, dass sie auch intelligent seien.

Mittlerweile haben wir uns zu den Kernqualitäten des Produktes vorgearbeitet, im Jargon der Berater werde ich auf eine Customer Journey mitgenommen, mit leuchtenden Augen werden die low hanging fruits geerntet und die pain points gestresst. Anstelle von lebendiger Handarbeit bekomme ich dutzendfach abgestimmte Folien zu sehen, hier hat sich die geballte Schwarmintelligenz der Vertriebsabteilung aufsummiert.

„Gibt es an dieser Stelle schon Fragen, ansonsten darf ich Sie einladen, nachher an den Stehtischen mit uns ins Gespräch zu kommen.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Phase noch in wachem Zustand erlebe. Munter geht es vorne mit Aussagen zu exponentiellem Wachstum weiter. Kann diesen schlauen Menschen nicht mal jemand erklären, dass nicht alle überproportionalen Verläufe automatisch exponentiell sind?

Nach Jahren der Flaute für die Teufel-an-die-Wand-Maler ist nun endlich wieder die Gelegenheit für düstere Zukunftsaussichten und das Ausschmücken von dramatischen Geschäftsentwicklungen. Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, der ist abgehängt, ohne den unverzüglichen Kauf dieses Produktes gibt es vielleicht kein morgen.

Sicher ist es eher eine entfesselte Erinnerung ferner Vergangenheit, aber irgendwie kommen mir die Inhalte bekannt, ja geradezu vertraut vor. Das habe ich doch schon mal gehört, wenn auch in anderen Räumen und von anderen Personen. Sollte mein Toaster nicht seinerzeit den Geist aufgeben, wenn die technische Menschheit ins neue Jahrhundert startete? War nicht Prozessautomatisierung das Allheilmittel gegen den allgemeinen Schlendrian?

Vorne ist mal wieder Bewegung, die Hübsche ist wieder aufgestanden, stellt sehr sehr kluge Fragen und erhält sehr sehr kluge Antworten. Die sind mit Sicherheit nicht abgesprochen, davon bin ich überzeugt und es ist auch gewiss Zufall, dass der Vortragende passende Folien dazu in Petto hat. Ich ringe mit mir, ob ich lieber Bullshit-Bingo spielen oder selbst eine kluge Frage stellen soll. „Wenn Du nichts bezahlst, bist Du das Produkt“ schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht sollte ich eher sagen „… bist Du das Opfer.“

Mein Nebenmann steht auf, die anderen Zuhörer auch, ich rekapituliere schnell noch mal die Inhalte der letzten Stunde bevor ich mich in Richtung Stehtische in Bewegung setze. „Ein interessanter Vortrag und so spannende Erkenntnisse zu den drängenden Fragen der aktuellen Herausforderungen“ lässt mich ein älterer Herr mit einem Häppchen in der Hand wissen. Und da ich kein Spielverderber bin stimme ich ihm freundlich zu. „Auf jeden Fall“, flüstere ich ihm zu, „wir müssen aus der Vergangenheit lernen, um für die Zukunft bereit zu sein. Denn sonst weiß ich nicht, wohin das führen soll.“

03 November 2023

Müßiggang

Müßiggang
Der Segelflieger ist geschwind,
Geschwinder meist, als man es denkt.
So geht es auch dem Axel nun, 
Als er gedenkt sich auszuruh’n.
Von der harten Mathe-Zeit.
Doch auch der Lehrer ist bereit.
Der Unterricht, sein Ein-und-alles,
Sein Motto ist: Kommt oder lasst es.

Der Axel nimmt sich schnell das Blatt,
Fängt an zu falten, streicht es glatt,
Denn wichtig ist bei diesen Dingen,
Dass sie den Wettkampf klar gewinnen.
Der Lehrer denkt sich: „Lass mal seh’n“
Nein, Axel, nicht, so kann’s nicht geh’n!
Ganz unauffällig kommt der Leiter,
Axel merkt nichts, faltet weiter.

Gar traurig ist es anzuseh’n:
Das Flugzeug, das noch im Entsteh’n,
Wird nun zerknüllt und ganz zerstört,
Der Axel guckt etwas verstört.
Doch lange hält die Phase nich,t
Der Lehrer sieht ihm ins Gesicht,
Und sagt verärgert: „Danke schön,
Herr Axel Rolle, du kannst geh’n!“

So endet oft die Kunstnatur,
Denn von Erkenntnis keine Spur,
Woll’n die Leute, was sie lehren,
Und meine, es wär‘ ein Begehren,
Der Schülerschaft das einzuspeichern,
Womit die Lehrer sie bereichern.
Doch viel zu oft wird dann verkannt,
Dass dies den Schülern längst bekannt.

So hält sich’s auch in diesem Falle,
Der Lehrer missversteht sie alle.
Und hätt‘ er selbst in jungen Jahren
Einmal am eig’nen Leib erfahren,
Wie sehr erfahr’nes Unrecht drückt,
Dann wüsst‘ er jetzt, warum’s nicht glückt,
Die Schüler in sein Fach zu pressen -
Die wollen lieber Mittagessen.

Jaja, die Schule drückt sie sehr.
Alle, alle haben’s schwer.
Denn nicht nur Schüler mit Problemen,
Die sich nach etwas Liebem sehnen,
Und dies in ihre Bänke schnitzen,
Nein, auch die Lehrer müssen schwitzen.
Wenn einer nichts verstehen kann
Erlöst auch sie der Pausenklang

So geht es allen Jahr um Jahr,
Bis eines Tages laut und klar,
Der Herr Direktor gibt jetzt an:
Das Abitur ist dann und dann.
Und aus ist’s mit der Schularbeit,
Allmählich war’s ja auch so weit.
Und selbst der Axel steht bereit,
Vergessen längst die Fliegerzeit.

[Diese Woche bei den Glossen: Lehren und Belehren]
[Diese Woche beim Interdisziplinären: Hebammen und Erzieher guter Ideen]

27 Oktober 2023

Aufstehen, es ist Freitag!

Aufstehen es ist Freitag
Die Sonne lugt verstohlen durch den Schlitz zwischen den Vorhängen. „Guten Morgen“ wispert sie, aber ich bin noch müde, will sie weder sehen noch hören. Da wieder: „Guten Morgen“, ein wenig lauter jetzt, ist da nicht auch ein Sonnenstrahl, der sich an der Seite des Vorhangs vorbeimogelt? Es ist mir zu hell, ich ziehe mir das Kissen über den Kopf und freue mich über die zurückgewonnen Dunkelheit. Doch jetzt geht das Wispern in meinem Kopf los. „Guten Morgen“ scheinen meine Gedanken zu sagen, dunkel ist es und still, umso deutlicher sind die zarten Stimmen, die mich jetzt auf den Tag einstimmen möchten. „Hast du gut geschlafen?“ will die unerträglich permanent gut gelaunte und niemals müde Tatkraft von mir wissen. Mürrisch nehme ich diese Frage auf, wie kann man nur ohne Morgenkaffee so gut drauf sein. Langsam wird es unter dem Kissen stickig, ich drehe mich zur anderen Seite, aber das Kissen sperrt immer noch die Luftzufuhr ab. Auf meiner Kopfbühne wird es nun voller, mit voluminösem Organ ein Tenor, er stimmt eine Ballade an, nach wenigen Strophen erkenne ich, dass er von den Heldentaten der vergangenen Tage berichtet. Oder sind es die Aufgaben, die heute auf mich warten?

Vorsichtig lupfe ich das Kissen an, sofort stürzen sich wieder Sonnenstrahlen auf mich, mehrere zugleich und im Chor intonieren sie jetzt das „Guten Morgen“, es schwillt an, bis es orkanartige Lautstärke erreicht. Ich halte mir die Ohren zu, von Ferne mischen sich jetzt Hörner dazu, Signal zum Aufstehen oder ist es der Radiowecker, der gerade anspringt und eine musikalische Begleitung unterhebt? Ich werfe mich herum, ziehe die Beine an, schüttle vorsichtig den Kopf und befreie mich durch einen geschickten Gedankengang vom schlechten Gewissen, noch gemütlich im weichen Bett zu liegen. Das Schuldbewusstsein meiner Trägheit verbündet sich jetzt mit dem Tenor, der in die zweite Runde geht und etwas von Frühstück, heroischem Sieg über den Hunger und einem aufopferungsvollen Kampf gegen die Widrigkeiten der Projektarbeit singt.

Ich wage es, die Augen ein wenig zu öffnen, wie kann durch so einen kleinen Spalt nur so viel Licht eindringen. Aber so recht wollen sie denn doch auch nicht mehr zufallen, „Guten Morgen“, naja zumindest nicht schlecht und eine verheißungsvolle Vorfreude auf eine erfrischende Dusche, duftenden Kaffee und das herannahende Wochenende.

[Diese Woche bei den Glossen: Nicht nur der Montag ist dein Freund]
[Diese Woche beim Interdisziplinären: Mittwoch, Wartungstag]

20 Oktober 2023

Sibille geht wählen

Ich sitze vor dem Wahllokal und schaue den Leuten zu, die mal einzeln, mal in kleinen Gruppen zur Urne spazieren. Sie sind dann eine Weile im Gebäude und kommen dann – entweder in Gedanken vertieft oder eifrig diskutierend –wieder heraus. Dabei fällt mir die Geschichte von Sibille wieder ein.

Sibille geht wählen
Sibille war das erste Mal wählen und durfte gleich zwei Kreuzchen machen. Ihr Vater hatte versucht, ihr zu erklären, wo sie die Kreuzchen machen sollte, aber da war er bei ihr auf Granit gestoßen.

Sibille ist nämlich grün. Sibille isst natürlich nicht nur grün, diesen Tick hat ihr die Mutter damals ausgeredet. 
„Was soll denn das nun schon wieder?“ hat sie gefragt und gesagt: „Du isst, was auf den Tisch kommt.“
Zwei Tage war Sibille in Hungerstreik getreten, dann hatte sie eingesehen, dass man davon nicht satt wird und hatte – sehr zur Freude der Mutter, versteht sich – aufgegeben.

„Warum sollte ich dasselbe wählen wie Du?“, wollte Sibille von ihrem Vater wissen und der, der wusste auch nix. Sibille macht nämlich demnächst ihr Abi, und deshalb kann ihr Vater ihr nicht das Wasser reichen.
Sie wusste genau, was sie wollte und wählte grün, nicht nur einmal, nein, zweimal, damit doppelt so viele Grüne in die Regierung kommen, hat sie gesagt und zu ihrer Freundin: „Weißt du, es ist eigentlich ganz egal, wen du wählst, nur nicht die SPD und wie die alle heißen.“

In Sibilles Augen standen Tränen, als sie die ersten Hochrechnungen im Fernsehen sah, sie hat sich direkt einen grünen Tee aufgesetzt und durch ihren Jutefilter laufenlassen.
Als sie wieder ins Zimmer kam, sagte der Vater: „Eij, gib mal ‘ne Flasche Bier!“ und sie: „Lass mir auch mal ‘n Schluck!“

13 Oktober 2023

Pech gehabt!

Pech gehabt
Wenn der Tag so richtig vermurkst anfängt. Der Wecker hat nicht geklingelt, immerhin bin ich mit nur kleiner Verspätung aufgewacht, aber für eine anständige Dusche hat es nicht mehr gereicht. Kurzes Zähneputzen, danach irgendein Hemd aus dem Schrank und noch schnell einen Kaffee. Dummerweise steht die Tasse nicht richtig auf ihrem Teller, fällt um und bekleckert mich. Ich versuche mit dem Schwamm den Fleck wegzubekommen, aber er breitet sich eher noch mehr aus, ich muss noch mal ein neues Hemd heraussuchen.
Jetzt aber schnell aus dem Haus, ich springe ins Auto, aber verdammt, Brille vergessen, also zurück ins Haus und wieder ins Auto.

Los geht es, aber zügig sind nur die ersten hundert Meter, denn knapp vor mir biegt ein Müllauto ein und fährt Schlangenlinien von der einen zur anderen Straßenseite. An ein Passieren ist nicht zu denken. Die Zeit läuft mir davon, irgendwann habe ich dann freie Bahn, doch jetzt erwische ich eine rote Welle an Ampeln. Endlich bei der Firma angekommen finde ich keinen freien Parkplatz, muss zwei Runden um den Block drehen, um schließlich frustriert zum gebührenpflichten Parkhaus zu fahren. Zu Fuß eile ich ins Büro, meine Kollegen schauen mich vorwurfsvoll an: „Du bist zu spät“.

Mein Computer geht nicht, Passwort falsch, wie war das noch, oh nein, dreimal falsch eingegeben, jetzt bin ich erst mal gesperrt und muss die IT-Hotline anrufen. Endlich angemeldet sehe ich, dass ich gerade einen Termin verpasst habe, ich will anrufen und mich entschuldigen, reiße aber in der Hektik das Headset ungeschickt aus seiner Halterung und habe nur noch die rechte Ohrmuschel in der Hand.
Wo war noch der Ersatzhörer, ich laufe zum Schrank, nein, doch im Sideboard oder im Rollcontainer. Meine Kollegin bemerkt meine Not, will mir ihren Kopfhörer herüberreichen und stolpert dabei über den von mir verschobenen Rollcontainer. Sie landet auf meinem Schreibtisch, wehgetan hat sie sich nicht, aber die sortierten Papiere und Formulare flattern auf den Boden.

Uff, sagen wir uns, jetzt erst mal Ruhe, am besten einen Kaffee. Wir ziehen zu dritt zur Kaffeeküche, aber beim Aufhalten der Tür verfängt sich mein Schnürsenkel unter der Tür, die mir mit Wucht gegen die Rippen schlägt. Ein blauer Fleck ist mir sicher, naja, gebrochen scheint nichts.
Die Kaffeemaschine erwartet uns im Wartungsmodus. Stimmt, der ist immer um diese Uhrzeit, deshalb gehen wir normalerweise auch früher, was aber heute wegen meiner Verspätung nicht ging. Wir sind sauer, zapfen ein Wasser und trotten zurück an unsere Plätze, diesmal ohne Unfall an der Tür vorbei.
Ein wenig müde ohne den gewohnten Kaffee gieße ich meine Büropflanzen, schwanke ein wenig und schon schießt ein Strahl aus der Gießkanne direkt in meine Tastatur. Einige Stunden später habe ich ein neues  Headset und eine funktionstüchtige Tastatur (ein wenig schmuddelig, auf die Schnelle war kein neues Exemplar zu bekommen).

Ich denke noch, sollte nicht irgendwann diese Woche der Probe-Alarm stattfinden, als auch schon die Sirene geht und eine Lautsprecherstimme uns zum Verlassen des Gebäudes auffordert. Ohne Hast nehme ich meine Tasche, schnappe meine Jacke und schalte im Herausgehen den Computer aus. Auf dem Weg zum Treppenhaus fällt mir ein, dass ich die letzte Datei nicht gespeichert habe, die Arbeit des Vormittags ist damit weitgehend ungeschehen gemacht.
Unten stehen schon die Kollegen, freuen sich über die Pause, erzählen sich Fußballergebnisse und Witze und können gar nicht verstehen, warum ich so eine saure Miene mache. Es ist heiß in der Sonne, ich hätte mal eine Mütze mitnehmen sollen, also besser in den Schatten setzen. Was riecht hier eigentlich so penetrant? Verdammt, ich habe mich in einen Hundehaufen gesetzt, das ist ja eine große Sauerei und ich kann auch nicht weg, um mich zumindest notdürftig sauber zu machen.
Nach über einer Stunde ist die Übung abgeschlossen, wir dürfen wieder ins Gebäude, jetzt erst mal auf Toilette und Hose und Hände reinigen. Wenn sie denn geöffnet wäre, denn wegen Renovierung müssen wir jetzt auf die WCs der Kantine ausweichen, und dort stehe ich erst mal in der Schlange. Wie bekommt man eine Hose von Hundekot sauber, zum einen ohne Waschmittel, zum anderen ohne Trocknungsmöglichkeit?

Völlig genervt entschließe ich mich, den Arbeitstag vorzeitig zu beenden, bitte meine Kollegen um Hilfe, falls noch irgendwas Dringendes reinkommt und laufe zum Auto. Im dunklen Teil des Parkhauses ziehe ich meine stinkende Hose aus und will in Unterhose schnell zum Auto laufen, als ich von einem Parkwächter aufgehalten werde. Er beschuldigt mich irgendwelcher sexueller Delikte, Exhibitionismus, Belästigung von Frauen, Vorbereitung von Vergewaltigung und was auch immer. Selbst nach Präsentation meiner Hose ist er nur zögernd überzeugt, hatte er sich doch schon als Retter der Moral und Verteidiger der guten Ordnung gesehen.

Die Rückfahrt verläuft weitgehend ohne Zwischenfälle, wenn man von dem Starenkasten absieht, der mich mit überhöhter Geschwindigkeit blitzt, weil ich in Gedanken noch bei dem Typen im Parkhaus bin. Mein Parkplatz vor dem Haus ist heute mal frei, das heißt er wäre frei, wenn da nicht die geleerten Mülltonnen ständen. Ich halte das Auto an, steige aus und will sie beiseiteschieben, als ich aus dem Augenwinkel sehe, dass sich mein Auto in Bewegung setzt. Habe ich die Handbremse nicht richtig angezogen? Nein, der kleine Nachbarsbengel hat mir aufgelauert und den Moment genutzt, ins Auto zu schlüpfen und jetzt findet er es lustig, die Handbremse zu lösen und wild das Lenkrad hin- und herzudrehen, bis das Fahrzeug mit einem hässlich kratzenden Geräusch gegen einen anderen PKW rollt. Schreiend springt das Kind aus dem Auto, rennt zu seiner Mutter, die nun wütend schimpfend auf mich losgeht, was mir einfallen würde, es hätte ja alles Mögliche passieren können. Und den Unfall, den wäre einzig und alleine ich schuld, wenn ich es ihrem Sohn so leicht machen würde und warum ich eigentlich in Unterhose herumliefe.

Langsam wird es voller, Nachbarn schauen aus den Fenstern, Fußgänger bleiben stehen. Sie sehen einen verzweifelten Mann in braun verschmutzter Unterhose, eine keifende Frau, ein heulendes Kind, einen Autounfall und machen sich ihr eigenes Bild.
Um die Peinlichkeit zu beenden schiebe ich nun doch die Mülltonnen zur Seite und will mein Fahrzeug durch den Trubel in Sicherheit bringen. Aber während ich einsteige saust ein cleverer Zeitgenosse mit seinem Auto schnell in die freie Parklücke. Es hat keinen Zweck zu argumentieren, ich fahre einfach los und suche einen anderen Stellplatz. Natürlich ist keiner weit und breit zu bekommen, erst drei Straßen weiter quetsche ich mich in eine eigentlich zu enge Lücke. Beim Aussteigen ritze ich mir das nackte Bein an irgendeinem Teil der Fahrertür auf. Nach ein paar Minuten hört es auf zu bluten, ich drücke ein Papiertaschentuch auf die Wunde und ziehe mir für den Fußweg meine Hose an.

Vor meinem Haus erwartet mich die Polizei, wirft mir Unfallflucht vor, schließlich habe ich das Auto vom Unfallort entfernt und sei eine halbe Stunde nicht aufgetaucht, habe auch keine Anzeige bei der Polizei gemacht. Gegen eine Verwarngebühr mildern sie auf verspätete Unfallanzeige ab und entlassen mich nach ausführlichem Verhör und mehrfacher Belehrung über das richtige Vorgehen in mein Haus zu meiner Dusche.
Die allerdings kalt bleibt, weil ich heute Morgen in der Eile die Heizung nicht auf Tagesbetrieb umgeschaltet, sondern komplett abgeschaltet hatte. Obwohl erst Nachmittag genehmige ich mir einen Whiskey, lasse mich auf das Sofa fallen und merke im nächsten Moment, dass da noch das Tablett von gestern Abend lag, dass jetzt mit einem vernehmlichen Knack in mehrere Stücke zerbricht. Ich schiebe die Scherben zur Seite, schneide mich an einem der Reste, wickle ein Stück Taschentuch um den Finger und schließe die Augen.

Das Telefon klingelt, ich rapple mich wieder auf, stoße mit dem Bein gegen den Couchtisch, das schmerzende Bein erinnert mich wieder an die Panne mit der Fahrertür und ich sehe, dass die Wunde wieder angefangen hat zu bluten. Die frische Hose hat schon einen merklich roten Fleck bekommen. Das Telefon klingelt immer noch, ich nehme ab und höre meine Mutter, wie sie zu mir sagt: „Du kannst Dir nicht vorstellen, was für einen schrecklichen Tag ich heute hatte. Ich kann meine Lesebrille nicht finden und jetzt geht der Fernseher nicht an. “ – „Ehrlich“, sage ich, „Mama, das ist ja schrecklich. Erzähl‘ mal!“

06 Oktober 2023

Bahn-Bullshit-Bingo

Einfach zum Bahnhof gehen und losspielen. Sobald Sie eine Reihe oder Spalte voll haben lautstark „Bullshit“ rufend durch den Bahnhof oder Zug laufen (je nachdem, wo Sie gerade sind).

Verzögerungen im Betriebsablauf

Streckensperrung

Reparatur an der Strecke

Notarzteinsatz

Verspätung aus vorangegangener Fahrt

Fahrt fällt aus

Umleitung des Zuges

Kurzfristiger Personalausfall

Bauarbeiten

Halt entfällt

Reparatur am Zug

Fahrzeugstörung

Stellwerksschaden

Triebwerksschaden

Tür blockiert

Einschränkungen auf der Strecke

Keine Freigabe vom Fahrdienstleister

Personen im Gleis

Stromausfall

Beschädigung einer Brücke

Technischer Defekt am Bahnhof

Unwetterauswirkung

Oberleitungsstörung

Strecke belegt


Bahn-Bullshit-Bingo

29 September 2023

Ja, wer bin ich denn schon?

Wer bin ich schon

Zwei Bierflaschen stehen auf der Bank neben mir. Eine davon gehört Andrea, die ich gerade kennengelernt habe. Sie ist ein wenig angetrunken, ich auch. Und wie das so ist werden die Gespräche tiefer und immer tiefer. Was sich für nüchterne Zuhörer dann immer schwieriger anhört. Eingestiegen waren wir über Sport, ihre Leidenschaft für Bouldern hat sie mir ausführlich erläutert, ich habe mit meiner Höhenangst gegengehalten. Das will sie ja nun nicht durchgehen lassen. Bei ihrem Traum von Freizeitbeschäftigung geht es nicht darum, in schwindelerregender Höhe herumzuklettern, sondern geschickt mit den Haltemöglichkeiten umzugehen, den eigenen Schwerpunkt zu fühlen, Griffkraft zu entwickeln und so weiter und so weiter.

Über abenteuerliche Analogien landen wir bei der Griffkraft der Politik im Allgemeinen, der Wählerschaft einer AfD im Besonderen und überhaupt den Wurzeln der Demokratie. Kein einfaches Thema, das ich mich mit Freunden vielleicht gar nicht zu diskutieren wagte. Aber hier, auf der rustikalen Bierbank im Schutze der hereinbrechenden Dunkelheit fühlt es sich an wie ein one-evening-stand mit einer Fremden. Ungeschützter Gesprächsverkehr sozusagen.

Gerade berichtet mir Andrea von ihren Problemen mit dem Ordnungsamt, den thematischen Absprung habe ich verpasst, hüpfe aber jetzt geschwind hinterher und erzähle ihr von den Vor- und Nachteilen der Entwicklungen in den Behörden. Sicher wäre vieles nicht mehr zeitgemäß, höre ich mich sagen, aber ob man die Beamtenmentalität dadurch loswürde, dass man ihnen den Status entzöge, wäre eher fragwürdig.

Eine Frage, also eine Frage treibe sie immer wieder um, lässt mich Andrea jetzt wissen. Wie das denn mit dem Leben allgemein so sei, was für einen Sinn sie darin sehen sollte. So viele Menschen auf der Welt, so lange Zeiten schon der homo sapiens, sie nur ein kleines und zudem nur kurzzeitiges Rädchen im großen Getriebe der Menschheit. Jesus, das war doch mal wer, den kennt heute noch jeder. Aber sie ist nur eine Kreditsachbearbeiterin in einer kleinen Bank. Was sie nicht macht, das machen andere, Unersetzlichkeit fühlt sich anders an.

Es scheint ihr wirklich ernst mit ihren zunehmend trüberen Gedanken. Je verwaschener ihre Aussprache wird, desto klarer entpuppt sich ihre Unzufriedenheit, geradezu Lebensmüdigkeit zumindest ihrer aktuellen Situation gegenüber. Was denn ihre Kinder (sie hat sie vorhin kurz erwähnt) für sie bedeuten und ob sie nicht allein in dieser Hinsicht eine schöne, aber auch wichtige Funktion zur Fortführung ihres Lebenswerkes sieht?

Ach, seufzt sie, nimmt einen Schluck Bier, schaut mich mit glasigen Augen an. Sie wüsste nicht, was sie ihnen als Lebenswerk übergeben sollte, hat sie denn die Welt auch nur ein kleines Stück weitergebracht? Sie wäre so gerne eine wichtige Person, egal ob auf der politischen Bühne, als Retter bei irgendeiner Hilfsorganisation, als gefeierte Influencerin. Nur schafft sie es einfach nicht, die anderen sind alle schon vor ihr da, Funktionen besetzt, Positionen nicht mehr verfügbar.

Unser Versuch, auch die Kellnerin in unsere Diskussion einzubinden scheitert, und wir entschließen uns, den Abend langsam ausklingen zu lassen, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Gerade noch rechtzeitig kann ich Andrea davon abhalten, lautstark ein Gebet anzustimmen, mit dem sie die anderen Gäste zur Nachdenklichkeit animieren möchte. Einen Moment sitzen wir noch da, versichern uns gegenseitig, dass wir gute Menschen sind und wir bei der Suche nach dem Sinn unseres Daseins vor unserem Tod noch mal weiterkommen müssen. Und sei es morgen, wenn wir wieder nüchtern sind.

22 September 2023

Hurra, ich habe Internet

Wie schön, dass es das Internet gibt

Hurra, ich habe Internet

Menschen, die anderen zeigen, wie schön sie sind

Menschen bewundern, aber nie real kennenlernen

Personen, die sich für intelligent halten und das allen mitteilen

Behaupten, es gäbe Information zu allen Themen

Vorgaukeln, die Informationen wären ausgewogen

Zeitfresser unter dem Deckmantel der persönlichen Vernetzung

Mit Geld steuerbare Suchergebnisse

Alles überall, aber nirgends real

Rund um den Erdball kommunizieren ohne sich je zu treffen

Mal öffentlich anonym die Meinung sagen

Gute Umgangsform oder Empathie sind entbehrlich

Meinungsfreiheit, die sich an der Mehrheit orientiert

Demokratie 2.0

Shitstorm als moderne Form der Hexenjagd

Relevanz beurteilt nach Anzahl der Aufrufe

Vermeintliche Qualitätskontrolle durch Schwarmintelligenz

Verschwimmen der Grenze zwischen Mensch und Maschine (KI)

Die glänzendsten Bühnen und die schmuddeligsten Hinterhöfe

Verbreitung von Unsinn, manchmal sogar „viral“

Inhalte wie ein Zeitschriftenregal an der Tanke

Ergiebige Quelle für Fremdschämen

Wer nicht mitmacht ist tot


[Internet-Life-Balance -> Andere Blogs: Interdisziplinäre GedankenDienstliche Glossen]

15 September 2023

Lebensweg

An mir klebt der Staub einer Reise

Der sich auch nicht abschütteln lässt

Und weil ich ihn täglich geatmet hab

Sitzt er tief in mir drinnen und fest.

Lebensweg

Wir zwei sind die Antwort auf Fragen

Aus der Vergangenheit zu uns geeilt

Zu den Körpern, die wir heute haben

Geformt von den Flüssen der Zeit.

 Lebensweg

Komm, teil mit mir Herzschlag und Leben

Bis Atem und Zeit einig sind

Und in diesem endlosen Moment

Sich alles um uns verliert und verrinnt.


13 September 2023

Aus aktuellem Anlass

Der Tod ist ein integraler Bestandteil unseres Lebens, niemand kann ihm ausweichen. Ereilt er einen geliebten Mitmenschen, dann kommen Fragen auf. Warum gerade er, warum (schon) jetzt, warum auf diese Weise. Fragen, die wir als Menschen nicht beantworten, uns nur manchmal der Antwort nähern können.

Aus aktuellem Anlass
Was uns bleibt ist die Erkenntnis, dass auch wir irgendwann an der Reihe sind. Und dass wir bis dahin nur ein einziges, nämlich unser eigenes Leben haben. Welches weitergeht, auch wenn gerade ein Wegbegleiter von uns gegangen ist. Woraus nun wiederum der Auftrag resultiert, sich im philosophischen Sinne auf sich selbst zu konzentrieren: Weder kann ich mein Leben delegieren, noch darf ich ein anderes Lebewesen dazu verpflichten, die mir auferlegte Lebensaufgabe zu erfüllen.

Am Schluss bleiben also drei Punkte, die wir akzeptieren müssen. (1) Der Tod ist unausweichlicher Teil des Lebens. (2) Wir haben eine individuelle Lebensaufgabe, die wir selbst erfüllen müssen. (3) Jeder hat das Recht und die Pflicht zur eigenen Lebensgestaltung – das gilt insbesondere auch für unseren Einfluss auf unsere Mitmenschen, Verwandten, Freunde und Kinder.

08 September 2023

Hejo, spann den Wagen an

Das war immer ein Spaß. Wenn der Vormittag zu Ende ging, die Luft im Klassenraum langsam stickig, die Schüler immer unkonzentrierter und der Magen ziemlich leer. Dann mussten wir aufstehen, die Bücher zur Seite, die Schulhefte sorgfältig in den Ranzen und statt dessen die Liederblätter auf den Tisch. „Hejo, spann den Wagen an“, ich fragte mich, wer dieser Hejo sein könnte, war er ein Knecht, wie ich in den Märchen immer erzählt bekam? Und wo war er jetzt, musste er wie wir in der Klasse stehen und ein Lied singen?

Aber Hejo stand nicht mit uns in der Klasse, meine Banknachbarin, das kleine Biest, hätte ihn vermutlich auch gar nicht singen lassen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, mich zu piesacken, mal tropfte sie mir Tinte auf die Hand, mal stach sie mir ganz zufällig ihren Bleistift in die Rippen. Jetzt gerade plante sie wahrscheinlich die nächste Tat, ich rückte ein wenig ab, nahm mein Liederblatt hoch, um mich notfalls damit zu wehren. Doch Glück gehabt, heute war sie entweder zu müde oder hatte ein anderes Opfer ausgemacht.

„Stopp, stopp! Jetzt noch mal im Kanon!“ kam die Anweisung von vorne. Wir konzentrierten uns auf die geteilten Rollen, die anfängliche Unruhe vor der Mittagspause war tatsächlich noch mal in eine Konzentrationsphase übergegangen. Bis auf meinen Hintermann, der nun recht laut gähnte und damit die bereits singenden Kinder aus dem Konzept brachte. Als Sitzenbleiber war er ohnehin der Klassenälteste, immer für Torpedierung des Unterrichts gut und selbsternannter Quertreiber. Nein, eine wiederhergestellte Lernatmosphäre konnte er nicht zulassen.

Hejo spann den Wagen an

Ich starrte auf die Blätter auf meinem Tisch, ob es jetzt wohl verärgerte Kritik unseres Lehrers gebe? Und wo war ich gedanklich, ach ja, dieser Hejo wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich unterdrückte den Impuls, aufzuzeigen und meinem Lehrer die Frage nach dieser merkwürdigen Figur zu stellen. Und das schien auch gut, denn der schwenkte begeistert sein Liederheft und wies uns gestikulierend an, einen mir unverständlichen Text über einen betrunkenen Seemann zu singen. Die englische Botschaft des Liedchens verstand ich nicht, aber im Refrain war immer von Way-hay die Rede, vielleicht gab es eine Verbindung zu Hejo?

Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende bringen konnte schrillte die Glocke. Wie bei einer platzenden Seifenblase machte es Plopp, nein, das war gar nicht in meinem Kopf, das war das Geräusch des Tafelschwamms, der mich am Ohr erwischte. Wer im hereinbrechenden Durcheinander von Taschepacken, Rausrennen und Tschüss-Sagen dieses eklig-feuchte Teil nach mir geworfen hatte ließ sich nicht mehr zurückverfolgen.

Aber immerhin war für heute Schulschluss, und mit ein bisschen Glück hatte Hejo den Wagen angespannt, der mich nach Hause bringen würde.

01 September 2023

Sommer 2023 (6/6): Wasserbob

Sommer 2023 Wasserbob

Sommer 2023 - die letzte Woche der hessischen Sommerferien geht zu Ende.

Und eine dreiviertel Stunde später ist es dann soweit. In einem engen Kanal schaukelt ein Gefährt, das man Wasserbob nennt. Es sieht etwa so aus wie ein aufgeschnittener Baumstamm aus Plastik, will sagen BASF lässt grüßen In der Mitte ist eine Planke einmontiert, auf die man sich setzen kann, aber nicht alleine, sondern zu viert.

Das erste Stück ist noch kein Problem. Es geht ein Stück weiter im Kanal und dann wird man auf einem Gummiband auf den Berg gezogen, von wo aus man dann in zahlreichen Kurven und Abfahrten wieder zu Tal gleitet.

Ich besehe mir das gute Stück, in dem ich die nächsten fünf Minuten verbringen werde, das heißt, wenn die Fahrt überhaupt fünf Minuten dauert. Wie verabredet steigen wir ein. Der Erste wird der Letzte sein, oder besser gesagt nicht der Letzte, aber ganz sicher der Nasseste. Deshalb bin ich ja auch der Hintermann. Vor mir wehen Haare durch die Gegend. Ich nehme an, dass ich so gut wie gar kein Wasser abbekommen werde. Dafür habe ich ja die anderen drei. Ich werde zurückgedrückt, denn jetzt geht es den Berg hoch, und die Haare, pardon, ich wollte sagen, die Person, der die Haare gehören, liegt schwer auf meiner Brust. Es gibt aber mit Sicherheit unangenehmeres.

Und jetzt steil bergab. Ohje, das wird nass. Wir schießen mit irrem Tempo abwärts und werden sanft von den Wassermassen gebremst, so dass ich vor- und zurückgeschleudert werde, aber zur Vervollständigung geht s jetzt auch noch in eine Kurve. Noch bin ich trocken. Eine lange Gerade führt abwärts. Nana, wenn das mal gutgeht. Aber es geht. Am Ende der nächsten Kurve wird ein Foto gemacht. Ist das schön.

Eine Minute später steige ich aus. Meine Schuhe sind nass, aber sonst bin ich eigentlich noch in Originalausführung.

So muss das sein.

25 August 2023

Sommer 2023 (5/6): Frühstücks-Krokodile und Tanz-Katzen

Frühstücks-Krokodile und Tanz-Katzen

Sommer 2023 - die fünfte Woche der hessischen Sommerferien geht zu Ende.

Die Frühstückszeit ist vorbei, langsam füllen sich die Liegen rund um den Pool. Es gibt reichlich Möglichkeiten, alle sind mehr oder weniger gleichwertig, entsprechend sehr entspannte Platzwahl. Beim Auspacken meiner Utensilien und dem Eincremen schaue ich einem anderen Paar zu, das sich Liegen im hinteren Bereich zu Recht machen. Recht umständlich, geradezu schwerfällig wie ein großes ungelenkes Tier entleeren sie ihre Tasche und verteilen Handtuch, Cremeflaschen, Sonnenbrillen und Bücher über Tisch und Liegen. Sie hat ein farbloses Strandkleidchen über dem Bikini an, das in keinerlei Kontrast zu ihren ergrauenden Haaren steht. Wie ein Krokodil watschelt sie um die Liege herum, stubst mal den einen, mal den anderen Gegenstand an seinen Platz. Dann schließlich gleitet sie nahezu synchron zu ihrem Partner auf die Liege und vertieft sich in ein Buch, das sie sich auf ihrem Kindle mitgebracht hat.

Stundenlang liegt das menschliche Reptil unter dem Sonnenschirm, Dank e-Paper nahezu bewegungslos nimmt sie das Buch in sich auf. Nicht einmal die träge Bewegung ihres Mannes scheint sie wahrzunehmen, der sich zwischendurch einige Zeit im Pool abkühlt. Die erste bemerkenswerte Bewegung kommt erst auf, als es auf die Mittagszeit zugeht. Sie legt das kleine Gerät zur Seite, prüft ihre Haut auf möglichen Sonnenbrand, oder will sie kontrollieren, ob der Bikini noch richtig sitzt, richtet sich auf und sitzt da wie ein aufmerksamer Vogel, der seinen Hals reckt und aus dieser Perspektive die Umwelt wahrnimmt.

Hoch aufgerichtet, eben scheint sie sich gedanklich vom Buch zu lösen und bestimmt kommt jetzt auch der Hunger in ihr Bewusstsein. Gerade spricht sie ihren Mann an, der nickt und sagt irgendetwas für mich Unverständliches, reckt nun ebenfalls den Hals. Als ob sie den Eindruck einer Schwanenfamilie noch verstärken wollten, legen sie sich jetzt weiße Handtücher um den Oberkörper und machen Anstalten, zur Poolbar aufzubrechen. Ein wenig tapsig durch die Mittagshitze und möglicherweise auch durch den Wechsel von der horizontalen Position zum aufrechten Gang schlurfen sie zum nächstgelegenen Tisch.

Umhüllt von den Handtüchern und jeder eine schwarze Golfmütze auf dem Kopf, sitzen da jetzt zwei Pinguine, studieren die Speisekarte und nippen vorerst an ihren Wassergläsern. Ein ruhiges Gespräch kommt in Gang, ich könnte mir vorstellen, dass sie sich über ihre Menüwahl austauschen. In mein eigenes Buch vertieft bekomme ich die Mahlzeit der beiden Watscheltiere nicht mit, auch den abschließenden Mocca registriere ich nicht. Erst als sie aufstehen, diesmal schon ein wenig lebhafter, die Handtücher im Gehen langsam abstreifen und an ihrer Liege angekommen in den Modus eines Vierbeiners wechseln, fällt mir auf, dass sie sich recht geschmeidig bewegen.

Pünktlich zum Kaffeetrinken verliere ich sie endgültig aus den Augen. Sei es, dass sie zum Strand gelaufen sind, sei es, dass sie sich auf das Zimmer verzogen haben. Erst zum Abendessen tauchen sie wieder auf, sie mit Flipflops unter einem Kleid mit einem Batik-Design, er mit Hawaiihemd über einer karierten Hose. Hat sich ein Künstler hier mit Pinsel und Farbe an zwei Zebras zu schaffen gemacht oder stehen die kräftigen Farben in Korrespondenz zu den festen Schritten, mit denen sie das Buffet abmarschieren?

Weiter passiert nichts Bemerkenswertes, doch die echte Überraschung ergibt sich eine Stunde später, als im Nachgang zum Dinner eine Sängerin in den Raum kommt, Playback-Musik anschaltet und tanzbare Melodien ertönen. Alle Ruhe, Gemütlichkeit, ja geradezu Trägheit ist wie weggewischt, im Mann scheint John Travolta zum Leben zu erwachen, sie streift sich die Flipflops aus. Die nackten Füße berühren die Tanzfläche als wären sie noch nie irgendwo anders gewesen. Ganz bestimmt hätte ich dieser grauen Maus nicht mal ansatzweise diesen rollenden Hüftschwung, diese weichen und doch gezielt gesetzten Schritte, zugetraut.

Wie Raubkatzen schleichen sie umeinander herum, es wirkt wie ein Vorspiel, das in Discofox mündet und die mäßig beleuchtete Tanzfläche in einen Hexenkessel verwandelt. Dieser lendenlahme Mann mit Aussicht auf den Ruhestand rockt mit seiner Lady den Laden, zeigt die Power, die in ihm steckt. Da ist nichts vom Produzieren, nein, die Beiden tanzen einfach voller Leidenschaft, wie eine zweite bis dahin verborgene Seite ihrer Art und ihrer Körper.

Auch andere Gäste sehe ich staunen, manche sogar Beifall klatschen, es geht ihnen vermutlich wie mir, dass wir einfach nur überrascht sind von dieser nicht erwarteten Vorstellung. Die kriechenden Frühstücks-Krokodile sind zu dahineilenden Tanz-Katzen geworden.