29 September 2023

Ja, wer bin ich denn schon?

Wer bin ich schon

Zwei Bierflaschen stehen auf der Bank neben mir. Eine davon gehört Andrea, die ich gerade kennengelernt habe. Sie ist ein wenig angetrunken, ich auch. Und wie das so ist werden die Gespräche tiefer und immer tiefer. Was sich für nüchterne Zuhörer dann immer schwieriger anhört. Eingestiegen waren wir über Sport, ihre Leidenschaft für Bouldern hat sie mir ausführlich erläutert, ich habe mit meiner Höhenangst gegengehalten. Das will sie ja nun nicht durchgehen lassen. Bei ihrem Traum von Freizeitbeschäftigung geht es nicht darum, in schwindelerregender Höhe herumzuklettern, sondern geschickt mit den Haltemöglichkeiten umzugehen, den eigenen Schwerpunkt zu fühlen, Griffkraft zu entwickeln und so weiter und so weiter.

Über abenteuerliche Analogien landen wir bei der Griffkraft der Politik im Allgemeinen, der Wählerschaft einer AfD im Besonderen und überhaupt den Wurzeln der Demokratie. Kein einfaches Thema, das ich mich mit Freunden vielleicht gar nicht zu diskutieren wagte. Aber hier, auf der rustikalen Bierbank im Schutze der hereinbrechenden Dunkelheit fühlt es sich an wie ein one-evening-stand mit einer Fremden. Ungeschützter Gesprächsverkehr sozusagen.

Gerade berichtet mir Andrea von ihren Problemen mit dem Ordnungsamt, den thematischen Absprung habe ich verpasst, hüpfe aber jetzt geschwind hinterher und erzähle ihr von den Vor- und Nachteilen der Entwicklungen in den Behörden. Sicher wäre vieles nicht mehr zeitgemäß, höre ich mich sagen, aber ob man die Beamtenmentalität dadurch loswürde, dass man ihnen den Status entzöge, wäre eher fragwürdig.

Eine Frage, also eine Frage treibe sie immer wieder um, lässt mich Andrea jetzt wissen. Wie das denn mit dem Leben allgemein so sei, was für einen Sinn sie darin sehen sollte. So viele Menschen auf der Welt, so lange Zeiten schon der homo sapiens, sie nur ein kleines und zudem nur kurzzeitiges Rädchen im großen Getriebe der Menschheit. Jesus, das war doch mal wer, den kennt heute noch jeder. Aber sie ist nur eine Kreditsachbearbeiterin in einer kleinen Bank. Was sie nicht macht, das machen andere, Unersetzlichkeit fühlt sich anders an.

Es scheint ihr wirklich ernst mit ihren zunehmend trüberen Gedanken. Je verwaschener ihre Aussprache wird, desto klarer entpuppt sich ihre Unzufriedenheit, geradezu Lebensmüdigkeit zumindest ihrer aktuellen Situation gegenüber. Was denn ihre Kinder (sie hat sie vorhin kurz erwähnt) für sie bedeuten und ob sie nicht allein in dieser Hinsicht eine schöne, aber auch wichtige Funktion zur Fortführung ihres Lebenswerkes sieht?

Ach, seufzt sie, nimmt einen Schluck Bier, schaut mich mit glasigen Augen an. Sie wüsste nicht, was sie ihnen als Lebenswerk übergeben sollte, hat sie denn die Welt auch nur ein kleines Stück weitergebracht? Sie wäre so gerne eine wichtige Person, egal ob auf der politischen Bühne, als Retter bei irgendeiner Hilfsorganisation, als gefeierte Influencerin. Nur schafft sie es einfach nicht, die anderen sind alle schon vor ihr da, Funktionen besetzt, Positionen nicht mehr verfügbar.

Unser Versuch, auch die Kellnerin in unsere Diskussion einzubinden scheitert, und wir entschließen uns, den Abend langsam ausklingen zu lassen, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Gerade noch rechtzeitig kann ich Andrea davon abhalten, lautstark ein Gebet anzustimmen, mit dem sie die anderen Gäste zur Nachdenklichkeit animieren möchte. Einen Moment sitzen wir noch da, versichern uns gegenseitig, dass wir gute Menschen sind und wir bei der Suche nach dem Sinn unseres Daseins vor unserem Tod noch mal weiterkommen müssen. Und sei es morgen, wenn wir wieder nüchtern sind.

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