17 November 2023

Tierischer Ball

Tierischer Ball
Der angekündigte Ball hatte mich schon seit Tagen beschäftigt. Kleidung, Parfüm und Anfahrt waren Teil der aufregenden Vorbereitung. Mit gutem Vorlauf war ich schon kurz vor der Öffnung angekommen und stand nach Garderobenabgabe und erster Orientierung ein wenig unschlüssig zwischen den eintreffenden Gästen. Gerade war eine ganze Gruppe junger Frauen eingetroffen, wie die Gänse schnatterten sie eifrig miteinander, jede Menge Bewegung und viel bunte Kleidung. Kurz: Weder zu überhören noch zu übersehen.

In diesem Moment sah ich sie. Die Eingangstür öffnete sich und herein schwebte ein Schwan. Eigentlich war es nur eine gewöhnliche Frau, aber mit ihrem stolz aufgereckten Hals und einer bemerkenswert souveränen Ausstrahlung kam sie ihrem tierischen Pendant ziemlich nahe. Doch kaum im Getümmel angekommen ging sie im Durcheinander der Gänse unter.

Ich schlenderte weiter zu den Saaltüren und warf einen Blick auf das Abendprogramm. Noch in Gedanken vertieft bemerkte ich den Schwan wieder, er hatte sich aus dem Pulk gelöst und schien an einem Stehtisch auf jemand zu warten. Was nicht lange dauerte, denn herein kam eine Mischung aus Giraffe und Pinguin. Ein langer, schlaksiger Herr in dunklem Anzug mit Fliege lief schnurstracks auf sie zu, Küsschen rechts, Küsschen links.

Bong, machte der Lautsprecher, die Saaltüren wurden geöffnet und eine Reihe hilfreichen Geister kontrollierte die Einlasskarten. Bei Bedarf wurde man bei der Suche nach dem zugewiesenen Tisch unterstützt, freundliche Maisen zwitscherten Tischnummern und schlugen eifrig mit den Flügeln bis ich am richtigen Ort angekommen war.

Weiter hinten wieder mein Schwan, allerdings jetzt wieder ohne den Giraffenpinguin. Am runden Tisch mit seinen zahlreichen Gläsern, den silbernen Platztellern und den weißen Servietten kam sie jetzt wieder voll zur Geltung. Sie streckte ihren schönen Hals über die üppige Blumendekoration und plusterte ihre Arme in den weiten Ärmeln ihres cremefarbenen Kleides.

Wie eine Wiederholung der Eingangsszene währte dieser Anblick aber nicht lange, denn rudernd und durch den Willkommenssekt noch lebhafter geworden watschelten die Gänse heran. Umgeben von Ameisen mit Tabletts voller Getränke und ersten Häppchen bahnten sie sich einen Weg durch den voller werdenden Saal, ließen sich auch nicht von den tischanweisenden Maisen beeindrucken und trippelten mal links an einem Tisch vorbei um dann wieder nach rechts zu schwenken und als Schar endlich beim Schwanentisch stehenzubleiben.

Durch die aufgeplusterten Kleider der Gänse verlor ich den Sichtkontakt zu meiner Schwänin und widmete mich der Getränkekarte. Kaum die Brille aus meinem Revers gezogen legte sich eine große Tatze auf meine Schulter und ein freundlich dreinblickender Bär stellte sich höflich vor, um mein Tischnachbar zu werden. Zu seiner etwas behäbigen Art passte denn auch gut seine Begleitung, eine liebenswürdige Hummel, die ihre korpulente Erscheinung durch eine bemerkenswerte Kopfbedeckung über gestreiftem Oberteil ergänzte.

Es versprach ein interessanter Abend zu werden, besonders gespannt war ich auf die Zulosung meiner Partnerin, hatte sich doch der Veranstalter für ein Losverfahren für Singlevermittlung entschieden. Der Saal füllte sich, auf der Bühne machten sich die Musiker bereit und die Tische waren schon fast vollständig besetzt. Jetzt sah ich auch den Schwan wieder, aufgestanden vom Gänsetisch setzt sie jetzt ihre geradezu charismatische Erscheinung wieder in Szene.

Ich konnte meine Augen kaum von ihr lassen, wurde aber jäh aus meinen Gedanken gerissen, weil eine getigerte Katze mit feurigen Augen an meinem Tisch erschien. Einen kurzen Moment wirkte sie unsicher, vergewisserte sich, dass sie am richtigen Tisch angekommen war und schon glitt sie auf den Stuhl neben mir, nicht ohne ihren langen Schweif in Form der Schleppe ihres Ballkleides zur Seite zu platzieren. Ein schneller Blick auf ihre Beine ließ vermuten, dass sie auf der Tanzfläche geboren war.

Mein Tisch war nun voll besetzt, auch mit der Abwechslung von Mann und Frau war alles weitgehend richtig gelaufen, mal abgesehen vom Bären zu meiner linken. Abzählend wurde mir klar, dass ich die Ehre mit der Tigerkatze haben würde. Sicher nicht die schlechteste Wahl, wobei ich nicht einschätzen konnte, ob meine Tanzsportlichkeit bei ihr nicht an ihre Grenzen geraten könnte. Wir wechselten ein paar Worte, tasteten uns verbal ab und tauschten uns über unseren ersten Eindruck von dem Ball aus.

Unvermittelt setzte Musik ein, das Erdhörnchen am Mikrofon streckte putzig den Hals und wartete auf seinen Einsatz, während der Boxer am Schlagzeug sich an den Fellen abarbeitete. Meine Partnerin hatte schon den Stuhl zurückgeschoben, wartete ungeduldig auf meine Aufforderung und ließ sich begierig zum Parkett begleiten, wo sie ihren Schweif beiseite nahm und mit geschmeidigen Bewegungen fast lauernd in den Paartanz überging.

Nur wenige Takte später hing sie an mir, ein Taumel zwischen Raubtierangriff und tänzerischem Verlangen ließ mich alles um mich herum vergessen. Waren da wieder die Gänse, musste ich dem Bären mit seiner Hummel ausweichen oder wäre ich beinahe gegen den Giraffenpinguin gestoßen? Ich konnte nur den immer wilderen Tanz mitmachen, die schlimmsten Stupser vermeiden und versuchen auf den Füßen zu bleiben.

Eine wilde Nacht nahm ihren Anfang, ein Zoo von aufgescheuchten, hochfrisierten und bewegungsfreudigen Gestalten versetzte die Tanzfläche in ein hochgeheiztes Terrarium unter Dauerbeschallung. Eine Python schien sich um den Körper eines Zweibeiners zu winden, irgendwo in der Mitte ein Schwarm Fische, die ihren Partytanz mal nach links und mal nach rechts wogen ließen. Ich ließ mich mitreißen vom Strudel der Eindrücke, meine Tigerkatze jagte auf mich zu, an mir vorbei, um nach eleganter Pirouette wieder in meinem Arm zu landen.

Mit roten Wangen und durstig von der Anstrengung kehrten wir in der Tanzpause zu unserem Tisch zurück. Der Schwan stand auch wieder an seinem Tisch, der Pinguin war allerdings nicht zu sehen. Noch einen Moment blieb ich stehen, hob mein Glas und sah voller Freude, dass auch die Schwänin ihrerseits das Glas in die Hand nahm und mir zu meiner Überraschung zuprostete. Wie sie so da stand und den Hals reckte, den Sekt in der einen, einen langen weißen Schal in der anderen Hand war sie der Traum jedes Tänzers.

Fast zeitgleich mit dem ersten Ton der neuen Tanzrunde setzte ich mein Glas ab und eilte auf sie zu. Ich hatte keinen Gedanken mehr für die Tigerkatze, auch nicht für den Pinguin, der ganze Raum schien leer zu sein bis auf den Schwan und mich. Sekunden später schmolzen wir ineinander, es war eine Herausforderung für mich, ihre unbeschreibliche Grazie zu feiern, ihr den würdigen Rahmen zu verleihen. Alles Getier um uns herum versank in einem allgemeinen Morast, nur wir zwei drehten unsere Runden zur Musik.

Ich kann mich nicht erinnern, wie der Abend weiter verlief, es war ein Rausch ohne Drogen, ein Genuss ohne Kater. Wahrscheinlich tanzten wir ohne Pause, atemlos, nur kurz an den Tisch, um einen Schluck zu trinken und dann direkt weiterzumachen. Irgendwann hörte die Band auf zu spielen, eine Weile lief noch Musik von einem DJ, dann kehrte langsam Ruhe ein.

Wir lösten die Tanzhaltung auf und schauten uns geradezu überrascht um. Die Arche Noah war leer bis auf ein paar tischabräumende Ameisen, deren Bewegungen der späten Uhrzeit geschuldet aber deutlich langsamer geworden waren. Ich schaute noch einmal meinem Schwan ins Gesicht, der anmutige Hals und die prächtigen, wenn auch eingefalteten Flügel waren so schön wie am Anfang des Abends.

Unwillkürlich musste ich weinen, war es doch das Ende eines unwiederbringlichen Erlebnisses, eine Singularität nicht nur im Alltag, sondern in meinem Leben. Wie durch einen Schleier nahm ich noch war, dass wir zur Garderoben liefen, unsere Mäntel abholten und nach einer nicht endenden Umarmung in die Welt der Menschen zurückkehrten.

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