26 Dezember 2020

Rudolf, der Streber

So einen hatten wir doch alle in der Klasse. Der alles weiß, der alles kann, der sich bei jedem Lehrer partout einschleimen muss. „Darf ich das vorrechnen?“, „Ich habe Aufgabe 38c zusätzlich gemacht.“ und so weiter.
Das ist total anti, stört den Frieden und verdirbt den Durchschnitt. Und so Typen haben ja auch keine Hobbies, können die Weihnachtsgeschichte rückwärts erzählen und kennen die Flugroute der Rosinenbomber. 
Mit seiner Laterne auf der Nase ist er furchtbar niedlich, findet meine Freundin. Und wie süß er gucken kann. Also für mich sieht er ein bisschen dämlich aus und das Licht ist doch eher ein peinlich leuchtender Pickel. 
Kurz: Noch schöner wäre mein Schulleben ohne solche Mitschüler gewesen.

Aber es gibt sie. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, bleiben sie einem auch über die Schulzeit hinaus erhalten. Der ganze Rummel ging ja danach erst richtig los. Merchandising, T-Shirts mit Rodolf, Kissen, Süßigkeiten. Wenn ich das Lied schon im Radio höre „Rudolf, das kleine Rentier“, wo er als Superheld gefeiert wird, der Retter in der Not. Unfassbar, selbst dem Nikolaus hat er mit seinem blöden Geschwätz und seiner Angeberei den Kopf verdreht.
Einziger Trost: Ich bin nicht alleine. Der Weihnachtsrummel, die Rudolf!-Rudolf!-Rufe, dieser ganze Hype – elend, finden meine Schulkameraden auch. Gut, dass man da mal ganz klar einer Meinung ist.

18 Dezember 2020

Der alte Mann und das Tor

Er steht davor und kramt in der Tasche. Schließlich findet er den Schlüssel und zieht ihn heraus. Über sein Gesicht gleitet ein triumphierendes Lächeln. Nach oben ist es nur ein Balken, nach rechts und links nur zwei Pfähle, achtlos in den Boden gerammt. Dahinter liegt eine wilde Wiese mit einer Handvoll Bäumen, Obstbäumen.

Er tritt ein und macht das Tor sorgfältig hinter sich zu. Er schließt sogar ab. Ein paar Schritte nach vorn und er steht unter dem schönsten Stück in dieser Idylle. Bald werden Pflaumen herunterhängen.
Bald wird der Bagger kommen. Vor dem Tor liegt die Hauptverkehrsader, rechts sind zwei Wohnblocks mit Büros, links ein Metallbetrieb. So kann das nicht bleiben. Irgendwie muss hier für ein einheitliches Bild gesorgt werden.

Der alte Mann setzt sich hin, mitten auf seine Wiese, inmitten der Blumen und wilden Gräser, die eine Erinnerung darstellen an den Familienbesitz. Früher war hier der Garten, weiter hinten das Wohnhaus. Das Haus war das erste, was gehen musste. Stattdessen gibt es jetzt ein Hotel, ganz neu und so eingerichtet, dass die Stadt darin ihre Diskussionsabende abhalten kann.

Der Garten war früher besser gepflegt, aber auch heute strömt er noch eine gewisse romantische Schönheit aus. Der Zaun hat die Zeit nicht überlebt; Nicht, dass ihn jemand abgerissen hätte, aber es tat auch niemand etwas zu seiner Erhaltung.

So stehen von der Familie nur noch der alte Mann und das Tor. Es hat keine Aufgabe mehr, man würde es besser abreißen, weil es mitten in der Landschaft steht, und er hat…
[07/1985. Inspiriert von einem verfallenen Torbogen auf freiem Feld.]

11 Dezember 2020

Verstehst du mich nicht oder willst Du mich nicht verstehen?

In den letzten Jahren ist mir mehrmals der Vorwurf gemacht worden, ich würde mein Gegenüber nicht verstehen. Oder ich wollte es nicht verstehen. Mehr oder weniger offen wurde mir bei der Gelegenheit signalisiert, ich wäre mit irgendeinem Sachverhalt oder einem Austausch intellektuell überfordert oder sagen wir mal rundheraus: zu doof dazu. Dieser Vorwurf war in allen Fällen in der Sache komplett unzutreffend. Auch stand keine Ablehnung meinerseits, also eine Verweigerung im Sinne des Nicht-wollens, im Weg.

Erst nach einiger Zeit wurde mir klar, was eigentlich dahinter steckt. Tatsächlich ist die Formulierung richtig: wir verstehen uns nicht. Verstehen kommt im Ursprung von Verstand, hier spielt also der Stand(-punkt) und der – nennen wir es mal – „Stand in und zu der Welt“ eine Rolle. Und da sind wir uns wirklich so fern, dass wir uns nicht ver-stehen können. Und auch nicht mit gutem Willen („willst Du mich verstehen“) an dieser Diskrepanz vorbei kommen.

Ich beleuchte es am Beispiel von Personen, die aus unterschiedlichen Ländern kommen. Nicht allein die Sprache ist verschieden, auch das Bedeutungsumfeld der verwendeten Begriffe oder sprachlicher Bilder. Hinzu kommen noch die Unterschiede in der Mentalität, also der Grundausrichtung des Geistes, und nicht zuletzt der Sozialisation.

Was in diesem Fall jedem direkt einleuchtet, gilt aber auch für Menschen, die eine vermeintlich gleiche Sprache sprechen und aus benachbarten Gegenden stammen. Man denke nur an die traditionelle Reiberei zwischen Bayern und Preußen.

Aber es gilt – mehr oder weniger ausgeprägt - auch in noch engerem Rahmen, bei Nachbarn aus dem gleichen Wohnort und sogar in der Familie bei Geschwistern.

Die Gefahr eines unüberbrückbaren Abstandes im „Stand zu und in der Welt“, vielleicht als Niveau oder Klasse umschrieben, ist allgegenwärtig. Und es ist für alle Beteiligten ausgesprochen wichtig, dies zu erkennen und weder als intellektuelle Lücke oder als Sperrigkeit des Gegenübers zu interpretieren. 

Ein Miteinander, also der verbale oder auch emotionale Austausch und das gemeinsame Arbeiten sind dennoch möglich. Aber nur auf Feldern, wo es im Stand in und zu der Welt Überschneidungen gibt. In der Auswirkung auch in Bereichen, die reglementiert sind und beide Seiten diese Regeln akzeptieren (müssen) – denn auch dieses beidseitige Akzeptieren setzt eine diesbezügliche Schnittmenge der Weltbilder voraus.

Je weiter man sich jedoch von dieser Überdeckung entfernt – aus welchem Grund auch immer – desto schwieriger wird die Kommunikation und gerät dann schnell an Grenzen. Da hilft dann keine Vermittlung oder gutes Zureden. Es geht schlichtweg nicht und ja: „Du verstehst mich einfach nicht.“ – frustriert oder vorwurfsvoll – stimmt leider in diesem Fall.

[Dazu passt auch: Weltoffenheit und Weltoffenheit Teil 2]

01 Dezember 2020

Evitas Heimweg durch nebelgrauen Abend


Die Luft unter den Lampen lichtgeschwängert, der Finger meines Scheinwerfers hineintastend in den feuchten Atem, den die Erde hergibt.

Remember, I never left you Du bist gar nicht so weit weg, eigentlich kann ich deine Körperwärme spüren und dein Herz 

All through my wild days Tanzen bis der Arzt kommt, das ist es 

My mad existence Denn eigentlich hat alles so harmlos angefangen 

I kept my promise Du hast dagesessen und wir haben uns aufs Parkett gestellt und getanzt 

Don’t keep your distance Und dann war es da, dieses Gefühl, dass wir es schaffen, wenn irgendjemand es schafft, dann wir. 

Have I said too much Stehengeblieben in der Kälte 

There’s nothing more I can think of to say to you dabei eigentlich noch näher als beim Tanzen 

But all you have to do, is look at me to know that every word is true dazu ein Blick in Deine braunen Augen.

Wie schwanger kann ein Abend sein, um das Licht noch aufzu­nehmen und einen Heimeilenden aufzuhalten?

27 November 2020

Was mir an einem ganz normalen Sonntag so alles passiert

Frühmorgens beobachte ich fremde Rehe bei ihrer vierbeinigen Expedition in die zweibeinige Welt.

Anschließend haue ich ein paar Eier in die Pfanne und mich noch mal aufs Ohr.

Dann lehne ich mich mit der gesamten Macht der Sprache wider den Irrsinn der Sprachlosigkeit auf.

Zu Mittag fliege ich aus der Kurve meines ewigen Kreislaufes heraus.

Kurz darauf mahlzeite ich ohne Rücksicht auf die Uhr.

Für den Nachmittag habe ich mir die aussichtslose Verfolgung meiner Interessen vorgenommen.

Beim Blick in den erblindenden Spiegel der literarischen Woche entdecke ich Ungereimtheiten.

Vor dem Abendessen repariere ich Gedichte und wechsle die Erleuchtungen im Denkzimmer.

Zum Abendtrinken versammle ich meine Gedanken um mich.

Spätabends gieße ich den griesgrämigen Spot meiner Worte in die wehrlose Tastatur.

Schließlich lege ich mich ins gemachte Bett und bete, dass der Herr seinen Scheffel über mein Licht stellt.

Am Ende des Tages schlafe ich eingelullt von der Ruhe meiner eigenen Zeilen ein.

20 November 2020

Leere

Es ist dämmrig, Licht von der Straßenbeleuchtung und der Neonreklame fällt durch das Fenster. Ein kleiner, grüner Wurm kriecht langsam aus meinem Blumentopf, um seine Nachtwanderung zu beginnen. Er klettert am Rand herunter und erreicht den Untersetzer.

Ich stehe auf, gehe zu meinem Schreibtisch, sehe ihm bei seinem Geschäft zu. Draußen hupt ein Auto, ein anderes bremst quietschend. Die Dunkelheit bricht herein, aber ich kann mich nicht entscheiden, das Licht anzumachen. Ich denke an zu Hause. An meine Eltern und mein Zimmer. Es ist alles so weit weg. Mein Leben ist so neblig, ob es richtig ist so, weiß ich nicht. Nicht mehr. Der Wurm kriecht über meinen Schreibtisch auf das Glas zu. Wenn er da hineinfällt, ist er tot, denke ich. Vielleicht krieche ich auch auf irgendetwas zu…

Meine Freundin ist schwanger (ich weiß nicht, von wem), aber auch sie ist weit weg. Ich will das Kind nicht, habe ich zu ihr gesagt. Aber sie meinte nur, dass das ja wohl ihre Sache ist und überhaupt, wir Männer wollten immer nur den Spaß. Das Glas. Es steht auf dem Schreibtisch, außerhalb meiner Reichweite. Der Wurm ist daran vorbeigeglitten.

Ich stehe wieder auf, diesmal, um den Rolladen ein Stück herunterzulassen. Soll ich die Schreibtischlampe anknipsen? Nein, es wäre zu hell, ich hasse Helligkeit, ich bin ein Wesen, das seinen Weg lieber im Dunklen sucht, auch wenn ich dann Angst habe. Angst vor der Nacht, wie ein verirrter Wanderer.

Das Glas lockt mich. Ich nehme es auf dem Weg zu meinem Sessel mit. Es ist schweres Bleiglas, darin eine braune Flüssigkeit. Vielleicht ist es Blut, eingetrocknetes Blut von Dir, aufgelöst in Wasser, verdünnt mit Gin. Dein Blut war nie rot, es war seltsam braun; Weißt Du noch, wie ich es das erste Mal sah?
Ich nehme einen Schluck, der bitter schmeckt. Ich denke nach, dabei fällt mir der Wurm ein. Er ist immer noch auf meinem Schreibtisch, sehe ich. Inzwischen wird es draußen Nacht, ich werde müde und das Glas langsam leer. Da wieder dieser bittere Geschmack.

Aus einer Wohnung unter mir höre ich Musik, vielleicht ist es auch der Fernseher oder ein vergessenes Radio, dessen Skala in der Nacht leuchtet. Ich kenne das Lied, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich es zuletzt gehört habe. Es ist schön, etwas zu hören, zu hören außer Autos, außer dem Telefon, das ich klingeln lasse. [07/1987]

12 November 2020

Pubertät

Alles wächst, alles sprießt
Wie ein Samenkorn im Regen
Voller Saft, voller Kraft
Meinem Lebensziel entgegen.

Ich bin jung, ich bin stark
Die ganze Welt liegt mir zu Füßen
Vorwärts jetzt, ohne Ziel
Und die Spießer lass ich grüßen

Ich steig ein, gebe Gas
Alles summt in meinem Schädel
Schnall Dich an, das wird schön
Heute Nacht bist Du mein Mädel.

Es geht los, heben ab
Vor uns nur der nackte Himmel
Unter uns liegt das Land
Voller menschlichem Gewimmel

Fliegen hoch, fliegen schnell
Turbolenzen sind uns nichtig
Schau nicht rechts, schau nicht links
Nur nicht zweifeln, wir sind richtig.

Landen jetzt, Erdkontakt
Nirgendwo ist hier und heute
Gestern geht, morgen kommt
Suchen nach der Lebensbeute.

Wo wir geh’n, wo wir steh’n
Leitplanken sind uns zuwider
Weg damit, tritt sie ein
Herzlos trampeln wir sie nieder

Bleibe wach, schlaf jetzt nicht
Für uns ist noch viel zu machen
Ganz egal, wo und wie
Auch beim Träumen kann man wachen.

Lieb‘ mich so, wie ich bin
Unsere Herzen sind wie Diebe
Wir sind jung, wir sind schön
Unbemerkt bestimmt durch Triebe.

Und zum Schluss halt mich fest
Lass uns in die Zukunft sehen
Was draus wird ist nicht klar
Doch durchs Leben woll’n wir gehen.

06 November 2020

Auf dem Weg nach L. A.

Staubig die Landstraße. Thorsten sitzt neben mir am Lenker eines umgebauten LT, erzählt Anekdoten aus seinem Leben, während auf dem Rücksitz seine Freundin liegt und döst.

Aufgegabelt haben mich die zwei in Salt Lake City, ich will eigentlich auf meinem Weg nach L.A. in das Abenteuerparadies Las Vegas, erleben, was mir andere erzählen, Spielergefühl entwickeln für die Unwirklichkeit einer ganzen realgeträumten Stadt. Aber die Verlockung war  zu groß, als ich an der Tankstation auf einem Stein hockend von den beiden angesprochen und zur Mitfahrt in Richtung Sacramento eingeladen wurde.

Das Autoradio hat noch ein Kassettenfach, in Dauerschleife laufen Flower-Power-Titel, Aretha Franklin erkenne ich, die meisten psychodelischen Stücke habe ich noch nie gehört. Ob die Frau auf dem Rücksitz stoned, betrunken oder einfach nur müde ist, bleibt so unklar wie der rote Faden in den Erzählungen meines Fahrers, der mich seit Stunden durch die Wüste kutschiert. Nur nicht liegenbleiben jetzt, mit dem altersschwachen Camper in der Mittagshitze ist es ohnehin kein Spaß, und die Aussicht auf ein Kirschblütengemeinschaft-Camp irgendwo vor LA lockt mich deutlich weniger als meine Gastgeber. Ein Sabbat-Jahr haben sie sich genommen, wird Thorsten lebendig und zurück zu den Wurzeln sei ihre Devise, freie Liebe und bewusstseinserweiternde Drogen spielten eine Rolle. In Deutschland könne man da lange suchen, nur Spießer gäbe es und moralinsaure Genossen, missgünstig weil selbst lebensunzufrieden. Als ob die moderne Welt nur aus Youtube und Whatsapp bestünde, der Körper nicht auch seinen Tribut erwarte und von uns bedient werden wolle.
Seit heute Morgen haben wir schon rund 400 Meilen hinter uns gebracht, sandreich und abwechslungsarm die Landschaft, das Ziel ist der Weg und irgendwelche kleinen Örtchen liegen gottverlassen vor uns, irgendwelche Erhöhungen abseits der Route, irgendwelche Abzweige, die genauso nach Nirgendwo führen wie die kurzen Kommentare von der Rücksitzbank bei geöffnetem Fenster.

Halt jetzt, der LT braucht eine Pause, Thorsten öffnet die hintere Tür, matratzengepflasterter Blechboden lädt in eine Liebeshöhle, in die er mit Miriam hineinklettert. Ob ich mitkommen wolle oder lieber eine Runde um den Block laufen wolle, fragt mich die Mitvierzigerin augenzwinkernd, während sie die Sandalen abstreift und Anstalten macht, auch andere Hüllen fallen zu lassen. Als Antwort lasse ich mich schattenseitig in den Staub fallen, strecke die beifahrersitzgeplagten Knochen und wünsche viel Spaß beim entspannenden Intermezzo.

Miriam sitzt am Steuer, bis Reno noch runde vier Stunden und mir kommen Zweifel, ob ich heil ankomme oder in die Fänge eines liebestollen Teufels geraten bin. Die stolzgeschwellte Brust der Aufzählung vernaschter Anhalter soll mir wohl Mut machen, meine Verklemmung zu überwinden und meinem Körper zu geben, was ich doch auch bei Mahlzeiten dem Genuss folgend machen würde. Unterbrochen wird das Heldenstück nur durch das Mitsingen der Hippiehymnen, Freedom, I’m going home, und Gitarrenjaulen nach Jimi Hendrix. Es ist alles real, surreal, unfassbarer Zeitsprung über Jahrzehnte hinweg in ein fremdes Leben aussteigesüchtiger Menschen aus dem Mittelrand einer wirklichen Gesellschaft.

Der jointgeschwängerte Geruch im Bully ist die olfaktorische Ergänzung zum sinnesflutenden Erlebnis dieser Reise. Die letzte Stunde bis Reno ist angebrochen, wo ich aussteigen und mich zum Lake Tahoe absetzen werde, eine Seeauszeit nehmend mit Beobachtung der Vögel und Fische. Thorsten schläft hinten, Miriam vorne oder jedenfalls bewegt sie den Kopf in der anbrechenden Dämmerung wie in Trance von der einen zur anderen Seite. Sind die beiden nur versehentlich durch das Sieb des Zeitrasters gefallen, hat ein besonderer Umstand sie zu dieser Zeit an diesen Ort und in mein Leben gebracht oder ist das alles ein großer Plan im Zeichen des Wassermanns?

Kurz vor meinem Ziel noch mal Unterbrechung für den Liebesbus, wieder die Einladung, wir stehen auf einem Motelparkplatz, haben gerade ein paar eiswürfelgekühlte Getränke an der altersschwachen Theke des Tankstellenshops geholt. Haben die Beiden tatsächlich eine andere Kassette eingelegt, Judy Garland schnulzt jetzt vom Regenbogen und übertönt die Geräusche von der Matratzenfläche.

Während auch der Sonnenverlauf seinen üblichen Gang macht, lasse ich mich auf die Bank am BBQ-Platz neben der Parkbucht sinken und schließe die Augen.

30 Oktober 2020

Die fröhliche Melancholie der Deutschen

Die Bäckersfrau kennt mich schon gut. Jeden Morgen kaufe ich bei ihr frische Croissants, sie lächelt mich an, genießt mein schlechtes Französisch. Hier in Istres mache ich ein paar Wochen Station, will den Herbst ein wenig aufschieben und die Gedanken für die Winterzeit sammeln. Es ist ruhig hier, ich schaue von meinem Balkon hinunter auf den Ort, zwischen den Häusern kann ich die Masten der Boote sehen, die träge im Hafen schaukeln.

Hier gibt es nichts zu beschleunigen, aber auch nichts zu verzögern, die Geschwindigkeit und das Leben scheinen hier unbeeindruckt von der Zeit einem Fluss gleich unveränderlich. Der ewige Kreislauf des Lebens mit Geburt, Ehe und Tod bilden die Grundlage für den dahinströmenden Alltag.

Nachher werde ich das Backwerk in den gut gemilchten Kaffee tunken, im Laufe meines Aufenthaltes komme ich immer mehr zu dieser leichten Variante des Frühstücks. Noch stehe ich aber an der Theke, denke an die sich färbenden Blätter an den Bäumen der Allee und schaue der Bäckersfrau beim Befüllen der Brötchentüte zu.

Zur Mittagszeit liegt der ganze Ort in der Sonne, räkelt sich wie ein junges Mädchen unter den bräunenden Strahlen. Hier und da noch ein paar Fischer, die zur Mittagspause in die Bars am Hafen gehen, eher schlurfend. Es ist die Zeit der Pause, einer kleinen Mahlzeit und der Mittagsliebe. Vielleicht auch ein Kaffee oder ein Glas Wein, savoir vivre.
Um diese Uhrzeit hat der Bäckerladen geschlossen, wie überhaupt in den Stunden das aktive Leben zurücktreten muss. Wer nicht unbedingt zu schaffen hat, lässt sich treiben.

Ich bin an der Reihe und nehme zusätzlich zu meiner üblichen Bestellung noch etwas Süßes. Wegen des überraschten Blicks begründe ich der Bäckerin, dass ich den anbrechenden Herbst auf dem Platz mit Blick auf die Fontaine genießen und mir versüßen will. Sie strahlt und erklärt mir, sie liebe die fröhliche Melancholie der Deutschen, l'heureuse mélancolie des Allemands. Ich frage mich, ob es eine Kritik oder eine Liebeserklärung sein soll, entscheide mich für letzteres und werfe ihr beim Hinausgehen noch einen Kuss zu. 

24 Oktober 2020

And Now for Something Completely Different

Ich erlaube mir vorzustellen: Der komplette Unterschied. Worthülsengeschwängert die Texte, Nebelschwadenumwabert die Botschaften. Dazwischen ich als Kommunikationslotse in den Untiefen deutscher Sprache, deutscher Redensunart, deutschem Brain Setting.

Prägten wir nicht den Begriff der Propaganda, eigens erfinden müssten wir ihn gerade jetzt als Bezeichnung für unsere Fremdsteuerungssehnsucht. Wie liegen sich Medikation und Mediation in den Armen, nachtbang hoffen wir auf die Einbrüche der Ausbrüche, trösten uns mit Gourmandenlust durch Konsum von Wichtigmeldungen.

Mantra unserer Schwarmintelligenz ist die Bewertung des Wahrheitsgehaltes nach Statistik und dem unumstößlichen Verständnis der Gewichtigkeit von Lautstärke und Häufigkeit. Menschlicherweise haben wir einen optional bergeversetzenden Glauben, dem gebotswidrige Handlungen nach dem verordneten Prinzip der Billigkeit angedient werden. Sollten uns Fakten so irritieren, dass wir das kopfnähere Hemd der Hose vorziehen?

Umgehung von Paradoxien ist Leitkultur, sicherheitsschaffende Gewissheit, dass ich bin, weil ich denke, ohne wissen zu können, ob ich überhaupt denkfähig bin.

Dem Wetterbericht folgend eine Warnmeldung vor stürmische Denkzeiten, bringen Sie starre Ansichten und änderungsempfindliche Entscheidungen in Sicherheit und bleiben Sie zu Hause. Die anonymitätsgesicherte Verlautbarung im Internet ist das Fundament freier Meinungsäußerung und eine Bodenplatte gesellschaftsfähiger Verbalausrutscher.

Komplexe Sprachbilder müssen verbannt werden, Leseanstrengung ist unter Sanktionsandrohung zu vermeiden. Qualitätsmaßstäbe sind Leichtverdaulichkeit, Verkaufserfolg und Anzahl der Follower. Nur was Kindern, Laien und Vorständen unmittelbar einleuchtet, kommt für die weitere Betrachtung in Frage, in Frage gestellt wird es nicht.

So singen wir gemeinsam unser einsilbiges Abschiedslied, stecken uns schunkelnd an Geist und Körper an, geteiltes Leid ist verteiltes Leid, wer will schon alleine sterben. 

16 Oktober 2020

Gemeinschaft

Bernd ist Fischer. Er fährt einen Downeaster, wie er mir erklärt. Ein traditionelles Boot, das schon sein Vater von seinem Vater übernommen hat. Jeden Tag die Woche geht es hinaus auf das Wasser, in die Fischgründe und Gott alleine weiß, wie viel in seinem Netz hängenbleibt.

Gott allein?
Natürlich kennt er die Jahreszeiten, die Züge der Fische. Wie das Wetter sich auswirkt. Und er hat jahrzehntelange Erfahrung und ein Gefühl für den richtigen Fang. Aber am Ende gibt es eben auch gute und schlechte Tage.

Und da sind die Kameraden und Kollegen wichtig. Nein, sie führen alle im selben Gewässer und natürlich gäbe jeder sein Bestes und habe eine Familie zu ernähren. Aber Konkurrenten wären sie nicht. Vielleicht ein Wettstreit. Und Stolz, wenn man besonderes Glück gehabt hatte. Aber wenn es nicht gut liefe auch eine Stütze.

So wie vor ein paar Jahren, als er sich das Bein gebrochen hatte und nicht aufs Boot konnte. Alle hatten zusammengelegt und den Kindern Essen zugesteckt. Krankenversicherung und Berufsunfähigkeit sind für Reiche, an eine Hilfe durch den Staat glaubt er nicht. Das sagt er ganz ohne Bitterkeit oder Vorwurf. Das Fischerdorf ist ein Kleinstaat, in dem das soziale Netz auf andere Art funktioniert.

Er ist ein glücklicher Mensch, denke ich mir.
Aber das bin ich auch.

09 Oktober 2020

Die Archäologie der Silberlinde

Dort, wo die Archäologie die Silberlinde schneidet, mitten durch den Stamm. Ich lese im Geschichtsbuch der Jahresringe:  Trockene Jahre sehe ich da, fast ein Jahrzehnt später muss es sehr windig gewesen sein. Und die schwere Jugend, in der du dich dem Hang entgegenstemmen musstest.
Dann die Baumperlen. Deine Verletzungen vergisst Du nie, sie sind kein Trauma, nein, sie verheilen ohne bleibende Schäden, aber dem Betrachter zeigst du sie ohne Scheu. Über Jahrhunderte, die du den Menschen bei ihrem Tagwerk zuschaust.
Wie erdend, haben wir doch die Macht, dein Leben durch unsere Sägen zu beenden. Worein du dich klaglos fügst, dich hergibst für ein paar Jahrzehnte als Möbelstück. Obgleich du ohne uns ein Leben über achthundert Jahre hättest führen können.
So liegst du also vor mir, nackt ohne deine feine furchenförmige Borke. Bitte, scheinst du mir zuzuflüstern, bitte verhilf mir mit deinen Händen zu der hölzernen Vollkommenheit des geplanten Schreibtisches. Und übergib so, das ist mein Wunsch, meine ganze Geschichte dem sensiblen Betrachter des entstandenen Werkes.

28 September 2020

Kleiner organisatorischer Hinweis...

Der volle Funktionsumfang - insbesondere Profil, weiterführende Informationen und Abonnement meines Blogs - ist leider nur in der Desktop-Version (also nicht in der Darstellung auf mobilen Endgeräten) vorhanden.

Ich lade herzlich ein, dort zu lesen (ist aus meiner Sicht auch schöner) und mir und meinen Texten auf diesem Wege auch zu folgen.

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27 September 2020

Autonarren unter sich

 Den Zündschlüssel gedreht. Blubbernd startet der Motor.
Du: Kraftvoll
Ich: 340 PS
Den Fuß auf das Gaspedal. Kein Aufheulen, ein dumpfes Grollen aus dem Motorraum
Du: Von unten.
Ich: Ein echter Reihen-Sechser. Hört man.
Du: Doppelvergaser
Ich: Venturirohr – der atmet tief.
Du: Mit Ölkühler.
Blick auf die Temperatur. Wasser noch niedrig. Öl auf Betrieb.
Du: Kann losgehen.
Einstieg.
Du: Zeig ihn mir.
Tür zu. Innengeräusch. Innengeruch.
Du: Sauber.
Ich: Anschnallen. Ich fahr jetzt.
Du: Hosenträgergurte
Los. Langsam aus der Einfahrt. Zufahrt. Autobahn.
Linke Spur. Kopf zurück in den Sitz gedrückt.
Ausfahrt. Kurve genommen
Du: Liegt sauber
Ich: Spurt genau.
Landstraße zurück. Aussteigen. Motor läuft noch.
Du: Mach mal auf.
Ich: Abgasrohre symmetrisch.
Du: Hydraulische Querlenker.
Ich: Und elektronisch gesteuerte Spurstangen.
Du: Wahnsinn.
Motor aus. Wir gehen rein. Ein Bier jetzt.

19 September 2020

Werbung – ein Rondo

Er ging seinen Weg schon vor langer Zeit
Und er wanderte viele Kilometer weit
Mit einem Rucksack, den auf dem Rücken trug
Fernab fand er Land, wo er ihn entlud,
Dort baut er eine Hütte, einen Vorratsraum,
Er bebaute sein Land, zog einen Zaun,
Denn – andere kamen denselben Weg
Sie kamen in Scharen, gingen nie wieder weg.
Erst kamen die Kirchen, dann die Schulen,
Lastwagen und Autos – riesige Fuhre.
Es kamen Richter, mit ihnen Gesetz,
Man baute Hochhäuser an alle Plätze.
Es stiegen die Preise, es stieg der Konsum,
Konsum durch Werbung mit viel Drumherum.
Geschäfte, Geschäfte für all‘ diese Leute;
Man weiß ja, sie sind eine sichere Beute
Für Werbung – 

Davon zog der Mann, der der Gründer war
Und wanderte weiter ein ganzes Jahr.
Er schickte den Rucksack per Flugzeug voraus
Wo noch keiner war, da baut er sein Haus.
Doch – andere kamen denselben Weg
Sie kamen in Scharen, gingen nie wieder weg.
Und wieder die Kirchen und die Schulen,
Telegraphen und Bahnen auf breiten Spuren,
Es kamen Familien, dann der Rest,
Polizisten und Richter mit ihrem Gesetz.
Da blühten Geschäfte, da stieg der Ruhm
Aber am Ende: wieder Werbung, Konsum.

Da zog der Mann weiter, er zog um die Welt,
Doch überall, wohin er sein Haus auch stellt,
Wird er wieder verfolgt, bleibt er niemals allein:
Geschäfte und Werbung holen ihn ein.

[Siehe auch Dire Straits: „Telegraph Road“]

17 September 2020

Mein Englein

Was passiert mit einem Engel, der seine Flügel verliert, will der kleine Markus von seiner Mutter wissen.
Ein Engel kann seine Flügel nicht einfach verlieren, sie werden nur mit der Zeit brüchig. Und dann bröckeln sie ab und zerfallen zu Staub.

Aber was ist dann, wenn er keine Flügel mehr hat?

Das ist sehr schlimm für einen Engel, denn dann kann man ja nicht mehr erkennen, dass er überhaupt ein Engel ist. Ohne Flügel kann er natürlich auch nicht mehr in den Himmel fliegen, um sich dort mit den anderen Engeln zu treffen.

Und was macht er dann?

Weißt Du, im Grunde ist es so, dass ein Engel ein sehr geliebtes Wesen ist. Die Flügel kommen durch diese Liebe zustande. Wenn diese Liebe altert, so altern auch seine Flügel, und dann ist er kein Engel mehr, sondern nur noch ein ganz normaler Mensch wie Du und ich. Findet er aber jemanden, der ihm wieder die Flügel anträumt, der ihn so sehr mag, dass er ihm im Geiste Flügel verleiht, so ist er gerettet.
Eigentlich gibt es auf dieser Welt sehr viele Engel, nur den meisten sieht man es nicht an, weil sie einfach zu wenig Liebe bekommen.
Leben beginnt bei diesen Geschöpfen dann, wenn sie wieder geliebt werden, dabei spielt es keine Rolle, wie der Liebhaber ist, ob alt oder jung oder wie auch immer er aussieht, es zählen lediglich die inneren Werte.
Manchmal kommt es vor, dass ein Mensch zu einem Engel wird, aber das ist ganz selten der Fall, leider passiert gerade in unserer hektischen, neumodischen Zeit viel öfter das Gegenteil, nämlich, dass ein Engel zu einem Menschen wird.
Das allerschlimmste daran ist, dass Engel unsterblich sind, sobald sie aber zu Menschen geworden sind, altern und niemanden finden, der ihnen wieder ihre Flügel verleiht, dann können sie sterben wie jeder andere Mensch, und niemand wird sich an sie erinnern.
Engel können männlich oder weiblich sein, auch wenn die Grammatik nur männliche Engel kennt, werden doch gerade manche Frauen mit Engeln verglichen. Eigentlich ist ein Engel aber geschlechtsneutral, vielmehr kann er das jeweilige Geschlecht annehmen, je nachdem, wer ihm Flügel anträumt.
Es ist gar nicht so schwer, dem Engel die Flügel zu verleihen, man braucht sich nur ruhig hinzusetzen, ihm ganz lange in seine Augen zu sehen und dann die Gedanken laufen zu lassen, Augen schließen und daran denken, ob man ihn sich mit Flügeln vorstellen könnte. Klappt das nicht, so hat man sich noch nicht genügend in ihn verliebt.

Ich habe mal einen gekannt. Er hat heute keine Flügel mehr.

[09/1988. Ich haderte mit einer Beziehung, die zu Ende gegangen war.]

15 September 2020

Politisch engagiert

In seiner Jugend habe er sich sehr für Politik interessiert, aktiv sei er gewesen und nächtelang mit seinen Kumpels diskutiert, wie die Welt zu retten und von der bedrohenden Gesellschaft zu befreien sei. Viel später dann die Freundin, nicht mehr die Mädchen bei den Sit-ins und Demos, nein, echte Liebe und das mit der Welt musste erst mal warten, da kam ja auch ein Kind und das sollte nicht in die Revolution kommen, die als einzige Möglichkeit in Betracht kam. Ja, das wollte er mir mal ganz deutlich sagen, nur eine Revolution kann unsere kranke Gesellschaft noch retten, was damals galt, wäre deshalb kein kalter Kaffee, kein Schnee von gestern, keine ausrangierten Hirngespinste. Manipulation allenthalben, gegen die wir uns auflehnen müssen. Dass ich das nicht sähe?

Einen Kaffee später hat er sich wieder beruhigt, aber lockerlassen wäre nicht sein Ding, inzwischen ist er Bäcker geworden, ein ehrbarer Beruf, kein Zuhälter und Halsabschneider, mit den eigenen Händen schaffen und mein tägliches Brot gib mir heute, das dürfte ich doch aus der Bibel kennen, ganz wörtlich in seinem Beruf und er muss lachen, weil ich ihn irritiert anschaue. Nein, um das mit seinen Worten zu sagen, das wäre keine Kritik an mir, nur an meiner Tatenlosigkeit, die Welt stehe Kopf, Regierungen wie Fahnen im Wind und ausgerechnet die Einflussreichen schauten weg, während die Arbeiter verarscht würden, entschuldigen Sie den Ausdruck, murmelt er dabei, aber ich will ganz offen reden.

In Griechenland damals, auf der kleinen Insel mit den schroffen Felsen habe er mit seinem Rucksack gesessen, kaum Geld in der Tasche aber ein Bild vor Augen, ein Bild von einer besseren Gesellschaft, mit seiner Frau und dem Baby, wie hätte er zu der Zeit an sein Herz denken können, das ihm heute zu Schaffen macht und ihn zwingt, jetzt alles daran zu setzen, die unbedingt notwendigen Änderungen und das Umdenken anzutreiben.

Ganz unvermittelt hält er inne. Schweigt. Schaut mich an und bricht in Tränen aus. 

31 August 2020

Panne beim Frühstück

Wir wollten gemeinsam den Morgen gestalten
Und nicht allein sein und saßen am Tisch.
Wir hatten die Brötchen in Hälften gespalten
Die Eier, der Bacon, alles ganz frisch.
Ich weiß nicht, wie lang‘ ich schon Frühstück bereite
Kaffee und Tee und was sonst noch erfreut
Wir saßen nur da und auf der Küchenseite
Hat sich dann plötzlich der Zucker verstreut.
(Der Zucker verstreut.)

Tausendmal geschwatzt
Tausendmal ist nichts geplatzt
Einmal nicht hingeschaut
Jetzt ist der Raum versaut, voll versaut

Erinnerst du dich, wir haben Brote geschmiert
Und uns die Stullen für den Mittag garniert
Was war eigentlich los, wir haben nie was dosiert
So fest aufeinander, obwohl nichts filetiert.
War alles ganz logisch, wir kochen schon lange 
Als, dass beim Brutzeln eine Panne passiert
Ich kenne dein Müsli und den Quark und die Zange
Hatt‘ ich beim Quirlen schon zigmal berührt.
(Schon zigmal berührt.)

Tausendmal püriert
Tausendmal ist nichts passiert
Einmal nicht hingeschaut
Jetzt ist das Hemd versaut, voll versaut

Oh, wie viele Tage wusst‘ ich nicht, wie‘s geklebt hat,
Wär‘ nie drauf gekommen, denn das war ja Matsch
Und wenn ich dir oft von meinem Spülen erzählt hab‘
Hätt ich nie geahnt, das ist für dich reinster Tratsch.
Doch so aufgebracht hab‘ ich dich nie gesehen
Du sitzt neben mir, tobst und wirst so richtig laut
Was war bloß passiert, ich wollte Honig schmieren
Alles war so vertraut, jetzt alles versaut
(Es ist alles versaut.)

Tausendmal geschmiert
Tausendmal ist nichts passiert
Einmal nicht hingeschaut
Jetzt ist der Schlips versaut, voll versaut

25 August 2020

Bürgervielfalt

 Hutbürger,

Gutbürger,

Wutbürger,

Glutbürger,

Mutbürger,

Blutbürger,

Sudbürger,

Foodburger,

Hamburger,

Mampf.

22 August 2020

Am Fürstenhof der Elemente

 Ich habe mir berichten lassen, alles fing damit an, dass das Au (Gold) sich auf sein Adelsgeschlecht beruft. Verbindungen oder auch Vermischungen sind höchst unbeliebt, man möchte unter sich bleiben. Also bestenfalls mit dem Ag (Silber) kann man sich unbegrenzt vermischen, aber man braucht es nicht wirklich. Wer inert ist, kann gut alleine leben.

Mit einer gewissen Arroganz schauen diese Edelmetalle auf die gewöhnlichen Salze herunter. Geradezu abstoßend, wie die sich bei jeder Gelegenheit verkuppeln. NaCl (Kochsalz) ist so ein Kandidat. Da wird verbunden und geschäkert, was das Zeug hält. Aber für eine richtige und dauerhafte Beziehung mit kovalenter Bindung reicht es dann wieder nicht.

Man möchte sich fremdschämen, wenn man erlebt, wie sich Na (Natrium) auslebt, wenn es keinen Partner hat. Ist Cl (Chlor) in der Nähe ist Salzparty. Wasser verfügbar? Dann geht erst Recht die Post ab. Unter Zischen und Johlen wir NaOH (Natronlauge) gebildet.

Tja und dann diese Simpel, bei denen das ganze Dasein im Tete-a-tete mit ihresgleichen besteht. Das fängt ja schon beim H2 (Wasserstoff) an, aber schlimmer wird es dann beim O2 (Sauerstoff) mit seiner Doppelbindung oder - ist das eigentlich noch normal? – beim N2 (Stickstoff) mit gleich drei geteilten Elektronenpaaren. Man mag es sich als Mensch gar nicht vorstellen.

Da lob‘ ich mir den C (Kohlenstoff). Ein höchst wechselhaftes Element, als Kohle rabenschwarz, als Diamant strahlend klar. Und so kontaktfreudig und verwandlungsfähig, dass ihm ein eigener Zweig der Chemie (organische Chemie) gewidmet ist. Was da alles geht: Öle, Kunststoffe, Fasern und Erbinformationen – nichts wäre denkbar ohne dieses Element. Selbst Gold und Silber können an seiner besonderen Kristallstruktur nicht vorbei. Unter größtem Druck entstanden, ist der Diamant ein stolzer Kristall mit außergewöhnlicher Härte.

Ganz anders die neureichen Aufsteiger. Gase wie He (Helium) wollen Platz haben, den sie sich notfalls mit Gewalt nehmen. Besonders reaktionsfreudig sind sie nicht, man merkt ihnen an, dass sie (orbital) gesättigt sind. Ungebundenes Dolce Vita sozusagen.

Schließlich noch die Sensibelchen. Sie warten nur auf die Gelegenheit, ihre Depression auszuleben, Selbstmord zu begehen und spontan zu zerfallen. Und obwohl sie gegenüber den stabilen Elementen in der Minderzahl sind, bestimmen sie durch ihre Radioaktivität oft über Leben und Tod.

Kurz: Es geht zu wie am Fürstenhof. Wer sich die Ehre gibt und nach welchen höflichen Regeln eine Liaison in die Wege geleitet wird – Menschen sind eben auch nur Ansammlungen von Atomen.

07 August 2020

Willkommen auf dem Zahlenstrahl

 Hereinspaziert, hereinspaziert – wir sollten uns kennenlernen!

Bitte beim Eintreten den Kopf ein wenig einziehen, denn die Null ist nicht für großen Menschen gebaut. Sie trennt Positives und Negatives und tritt bei Addition und Subtraktion nicht in Erscheinung. Nur bei den Punktrechnungen ist sie geradezu herrisch unterwegs: Bei der Multiplikation lässt sie sich von keiner Zahl unterkriegen und bei der Division jagt sie das Ergebnis in die Unendlichkeit.

Doch schon stehen wir dem Butler gegenüber. Ein wenig steif nimmt uns die Eins in Empfang, kerzengerade, tadellos und der Hüter der unendlichen Weiten, die ganzzahlig alle auf diesen stummen Diener zurückzuführen sind. Diese Zahl hat Verwandtschaft zu Null, deren Bescheidenheit sie bei der Punktrechnung an den Tag legt; und sie ist es gewöhnt, dass sie bei den Strichrechnungen gegenüber großen Zahlen schlichtweg ignoriert wird.

Nur nicht entmutigen lassen von der etwas abweisenden Art des Türstehers, denn da schwebt schon – schwanengleich – die Zwei auf uns zu. Mir ihrer breiten Sohle und dem wundervollen Hals ist sie der Blickfang und an Charme kaum zu übertreffen. Alle geraden Zahlen gehören in ihr Reich (auch wenn sie von diesen die Kleinste ist), die kleinste Primzahl ist sie sowie die Basis jedes Binärsystems und damit jeden Computers. Sie ist die grazile Königin.

Wer mehr auf Rassefrauen steht, wird mit der Drei glücklich. Volle Rundungen, oben und unten, ein Bogen gibt den anderen. Hier steckt Leben, eine waschechte ungerade Zahl, Primzahl dazu und stolz darauf, in der Nähe der Königin zu sein. Unkompliziert wie sie ist, kann man durch eine simple Teilerregel auf ihren Anteil bei beliebig großen Zahlen schließen.

Dreht sie sich zur anderen Seite, dann sieht sie einen feinen Künstler. Den Taktstock in der Hand demonstriert die Vier, dass sie die Grundlage fast jeder abendländischer Musik ist. Mal als Walzer im Verbund mit der Drei, mal als selbstverliebter Blues oder harter Rock.

Die Mitte erreicht mit einer androgynen Fünf. Ist es ein Weib, so fragt man sich bei dem geschwungenen Unterleib, oder ist es ein Mann mit geschwellter Brust und geraden Linien? Vielleicht würde sie sogar ein wenig depressiv in dieser Sandwich-Position, wäre sie nicht von so großer Wichtigkeit: Als Hälfte der Zehn und damit der äquidistanten Unterbrechung unseres Dezimalsystems ist sie für einfache Rechnungen, Dividieren und Halbieren von größtem Wert.

Sechs? Eine ganz Herzliche, also wirklich rundum problemlos, vermutlich dauerhaft schwanger. Sie verblasst etwas hinter der Fünf als Mitte des Dezimalsystems, denn das Duodezimalsystem (12er) ist ein wenig aus der Mode. Nur noch beim halben Dutzend bemerken wir sie. Durch ihr sonniges Gemüt macht ihr das nichts aus, sie genießt die Nachbarschaft zur Sieben.

Auch so ein Lebenskünstler, die Sieben, ein Dandy, der sich mit seinem großen Hut gerne ein wenig in Pose wirft. Den Kopf zurück, die modische Kopfbedeckung nach vorne, beide Arme bereit für ein Tänzchen. Man muss ihn eigentlich gerne haben, aber – unter uns – es ist die unbeliebteste Zahl weit und breit. Wer mag schon gerne mit ihr rechnen, durch sie dividieren? Immerhin: die größte einstellige Primzahl.

Doppelringe mit Wespentaille und eine einzigartige Symmetrie zeichnen sie aus: Die Acht kann man einfach nicht übersehen. Sie strahlt die Souveränität einer Zahl aus, die sich auf die Zwei und die Vier verlassen kann. Von Natur aus natürlich gerade, Teil der binären Potenzreihe und eine Kubikzahl. Ob man sie von oben oder unten sieht: Sie ist immer gleich und wird in dieser stoischen Ruhe gerne mit innerem Gleichgewicht in Verbindung gebracht.

Schließlich der Kopf der Mannschaft. Man könnte fast meinen, dass es die Neun mit ihrem übergroßen Kopf auf dem dünnen Unterbau ein wenig übertreibt. Aber irgendwer muss ja als höchste einstellige Zahl den Überblick behalten. Kein Platz für Party, keine übertriebene Ritterlichkeit, aber sie nutzt die Potenz der Drei, von der sie sich an manchen Tagen geteilt fühlt.

Drehen wir uns jetzt um?

Wir kennen nun die gesamte einstellige Welt mit ihrem Eingang dem Türsteher und der Königin, der Partyfraktion und dem kühlen Denker. Nun heißt es Acht geben, dass wir uns mit ihnen gut halten, denn wir brauchen sie nun mal auf Schritt und Tritt.

Ermittlung

 Für die Ermordung der Fliege hat der kleine Henry ein mückenloses Alibi.

30 Juli 2020

You have mail

Letztlich bekam ich einen Brief. Der Absender überschüttete mich mit allerlei Vorwürfen, aggressiven Formulierungen und Behauptungen. Unterschwellig sprach aus diesem Brief viel aufgestaute Wut, Neid dabei, aber auch Verzweiflung und Trauer. Zum Schluss des Schreibens räumte der Versender ein, geweint zu haben.
Wie, so fragte ich mich beim Lesen, wie sollte man in diesem Wirrwarr der Emotionen der Gegenseite – also mir – Wertschätzung oder auch nur Respekt entgegenbringen? Wie könnte man, trunken vom Cocktail der Gefühle, nüchterne Aussagen von sich geben oder sachliche Entscheidungen treffen?

Weniger die Inhalte haben mich berührt. Vielmehr löste es bei mir Grübeln aus über die psychologischen Ursachen dieser Eruption. Einem depressiven Menschen erscheint auch ein Sonnentag grau; wer einen wilden Stier in sich trägt, für den ist jedes Tuch rot, Blut-rot. Die Chance, Verbesserung über eine Replik oder ein Gespräch herbeizuführen, erschien mir wenig erfolgversprechend. 

Viele Fragen kamen mir in den Sinn.
Offensichtlich muss ich in der Tiefe forschen: Was steckt verborgen hinter diesen unfreundlichen Zeilen? Was genau ist der Eisberg, dessen Spitze ich zu sehen bekomme?
Welche Bedürfnisse der Persönlichkeit sind betroffen, werden da von mir nicht oder falsch bedient?
Und natürlich: Welche Glaubenssätze stehen da zwischen uns?

Ich erkannte, dass ich es mit einer nicht untypischen Mischung zu tun habe. Da sind einerseits charakterliche Unterschiede, die wir nicht überbrücken können. Hinzu kommen auf Seiten des Absenders innere Widerstreite, die ungelöst sind und natürlich ihre Außenwirkung auf mich entfalten. Und schließlich bin selbstverständlich auch ich Teil dieses explosiven Systems.

Was also tun? Schwierig, schwierig! Wenn ich antworte, so muss ich mit aller denkbaren Umsicht agieren, schon die Empfehlung eines Coachings zur inneren Versöhnung wäre absehbar ein Zündfunken am Pulverfass. Oder gar nicht reagieren? Ihn mit seiner Situation alleine lassen und zusehen, wie er sich immer weiter hineinsteigert? Wie die Formulierungen immer schärfer, die Gedanken immer abstruser und der imaginäre Feind – ich – aus seiner Sicht immer bedrohlicher wird?

Ehrlich gesagt: Ich kenne die Lösung nicht. Meine Empathie gilt jeder Person in der Öffentlichkeit, die sich von Zeitgenossen zum Teil abenteuerliche Vorwürfe anhören oder lesen müssen. Die große Herausforderung besteht darin, die Post ernst zu nehmen und sensibel in sich selbst nach einer Antwort zu horchen, aber andererseits auch nicht aus jedem Feedback einen Kurswechsel abzuleiten.

Der gute Wille zur Einigkeit  und Einigung alleine reicht jedenfalls nicht. Erst muss das ganze System re-noviert (nach Analyse und Bearbeitung neu aufgesetzt) werden. Und so lange werde ich ertragen müssen, solche Briefe zu bekommen, egal wie sehr mich das schmerzt.

26 Juli 2020

Wir sind Kleinigkeiten


Blechern die Abendglocke, der Kirchturm weiß getüncht. Ich stehe im Glockenturm und blicke auf das Dorf, gut zu überblicken von hier. Nein, sagt der Pfarrer zu mir, nein, vom Internet halte er nicht viel. Ob ich mich noch an die Regenbogenpresse erinnern könne.

Bunte Bilder, wilde Geschichten. Pseudo-Informationen, nennt es der Geistliche. Seinen Facebook-Account habe er gelöscht. Was erfährt man denn dort, was man nicht woanders besser lesen könnte.
Knarzend unter uns die Stufen, während wir die steile Stiege hinuntergehen. In der gedankenverlorenen Verabschiedung liegt etwas wie Endgültigkeit. Die alte Sehnsucht der Menschen, raunt er mir noch zu.

Im Auto holt mich seine Sehnsucht ein. Schwimmen können, doch wir sind keine Fische. Fliegen können, aber wir sind keine Vögel. Alles wissen wollen, auch das geht nicht. Auch nicht mit Internet.

19 Juli 2020

Zum Geburtstag meiner Tochter


Treffen sich zwei zweien.
„Ui“, sagt die eine, „Du siehst ja aus wie ich. Wir kommen aus derselben Familie. Komm, wir tun uns zusammen, dann sind wir zwei und zwei, und das sind dann schon vier!“
„Ach was“, erwidert die andere, „da habe ich eine schlauere Idee. Wir sind doch zwei mal zwei, das ist viel besser.“
„Was für ein Quatsch“, nun wieder die erste. „Ob nun zwei und zwei oder zwei mal zwei, das ist doch das gleiche.“ – „Nicht so ganz, wenn man den Zahlentheoretikern glauben darf. Denn wie in der Musik die enharmonische Verwechslung sind auch diese beiden vermeintlich gleichen Zahlen eben doch nicht gleich.“
„Mal ganz ehrlich, Du Klugscheißer, kein Mensch macht da einen Unterschied. Aber ob nun vier oder vier – das kann ich ganz leicht übertreffen. Wir stellen uns einfach hintereinander auf, dann sind wir zweiundzwanzig, mehr können wir beide nicht erreichen.“ – „Ja, und ich soll dann hinter Dir herlaufen, weil Du die Idee hattest?“
„Wir sind doch Geschwister, Zwillingsgeschwister sogar, da wird keiner merken, wer von uns gerade vorne und wer hinten ist. Wir wechseln uns einfach ab.“
„Was für ein schöner Gedanke. Wir machen was gemeinsam und sind damit das elffache unserer Selbst. Wechseln uns ab, keiner ist besser oder schlechter. Ich hab Dich lieb."

Und so blieben die beiden ein ganzes Jahr zusammen, bis die 23 sie ablöste… aber das ist eine andere Geschichte, die ich im Jahr 2021 erzähle.

13 Juli 2020

Die Höhle Cogul


Nordspanien, April 1992. Heute ist Gerhard dran mit Autofahren. Mein Golf holpert seit Stunden über die Piste. Das wird dem Radlager gar nicht gefallen. Auf meinem Schoss liegt die Karte, viel zu ungenau, sagt Gerhard. Recht hat er, wir können uns kaum orientieren in einer fremden Landschaft und hätten mal lieber ein paar Mark mehr in gutes Kartenmaterial gesteckt.

Billy Idol ist cool, Gerhard liebt die Autoreverse-Funktion meines Kassettenspielers. Rebel Yell in Dauerschleife und wir scheinen im Kreis zu fahren. Irgendwo in dieser Mitte des Nichts taucht endlich mal ein Ort auf, nicht auf der Karte. Gerhard bremst, hält an. Neugierig kommen ein paar Bewohner auf uns zu. Wir kein Spanisch, die kein Deutsch. Wir lächeln sie an.

Zwei Burschen verloren, hier ist man nicht Student, hier ist man Ereignis. Ein Mann, vermutlich der Dorfälteste, wird herangewunken. Wir reden mit Händen und Füßen, zeigen auf die Karte. Gerhard holt den Reiseführer raus, hier, schau mal, die Höhle. Cogul.

Der Dorfälteste nickt, strahlt, gibt irgendwelche Anweisungen. Bewegung in der Menschentraube um unser Auto. Wasser im Angebot und mit Gesten, ob wir nicht aussteigen und rasten wollen. Aber die Höhlenmalerei aus dem Reiseführer. Ein jugendliches Mädchen kommt herbei, rassig, nicht wirklich schön. Ein paar Brocken englisch, Lichtblick für uns. Yes, Cogul, not so long. Geflüster mit dem Dorfältesten, Nicken, das Mädchen macht Anstalten einzusteigen. I show you the way. Gerhard schaut mich an. Volveré a pie. Wie eine Angebot, eine Verheißung.

Ich glaube, sie wünschen uns gute Fahrt und winken uns nach. Das Mädchen tippt Gerhard auf die Schulter, zeigt mal nach rechts und dann nach links, redet dabei. Temperamentvolles Spanisch ohne Scheu. Por ahí! La Cueva – hay. Wirklich ein Schild zur Höhle.

Wir sind da, Gerhard hält, das Mädchen springt aus dem Auto. Billy Idol läuft. Einen Moment Ruhe, ein Tag Fahrt, ein Dorfbesuch, ein Mädchen, eine Höhle.

Wir steigen aus, die Höhle ist wegen Renovierung geschlossen. Das Mädchen ist verschwunden.
Wir kommen wieder, sagt Gerhard.

27 Juni 2020

Sommer


Da bist Du nun. Mit großer Hitze, sonnenreich, im Schatten lässt es sich gut aushalten. Während die Kinder an den Eishörnchen lecken, denkst Du an Rimini. Kurze Kleider hier und gebräunte Haut, nicht nur bei den Männern, die Mütter mit Kinderwagen suchen eine Parkbank unter Bäumen. Dabei ist es so lange hell.

Die Tagesarbeit geht mir von der Hand, die Nacht ist schwül und schon naht die Morgendämmerung mit den frischen Strahlen einer erwachenden Sonne. Autos fahren vorbei, sind ungerührt von der unendlichen Wiederholung der sommerlichen Schönheit.

Was den Franzosen der Milchkaffee ist mein Blick vom Balkon. Voll Inbrunst reklamiert der Student seine Gedichte, ein Schwuler geht vorbei und nickt im Takt der Reime. Gut, dass es Klimaanlagen gibt.

15 Juni 2020

Rolling on the river of dreams

Ja, fließe, fließe!
Gedankenstrom, Gedankenfluss
Nimm mich auf in Deine Fluten
Reinigend, mitreißend, verheißend

Gurgeln, gurgeln um mich.
Strudel der Themen, immer im Kreis
Vorwärts gezogen zum Mittelpunkt
Spannend, saugend, fordernd.

Wellen, Wellen, überall.
Kein ruhiger Moment
Im Disput der Meinungen
Verstörend, anregend, überraschend.

Träume, Träume, Augen zu.
Nur nicht aufwachen jetzt
Solange die Ideen Schlange stehen
Fesselnd, verwirrend, innovativ.

Welt bleib Welt und Traum bleib Traum
Nimm die Fakten ins Gebet
Den Kritiker bestech' ich mir
Irritierend, frei, ungehemmt.

Lache, Weine jetzt mit mir!
Alles ist erlaubt
Große Gedanken und Gefühle
Vereinigt, ziellos, wundervoll.

10 Juni 2020

Coaching-Anleitung

Client: Ich habe ein Problem.

Berater: Ich habe eine Best-Practice-Lösung dabei, die genau zu Deinem Problem passt.

Client: Ich habe die Lösung für mein Problem dabei, Du musst mich nur fragen.

Coach: Hilf mir bitte, die Fragen zu stellen, die Du zur Lösungsfindung Deines Problems brauchst.

06 Juni 2020

Du mein Wein

Ich gehe hinunter in den Weinkeller. Du liegst neben mir und durch Dein Nachthemd erahne ich die Form Deines Körpers, das Etikett auf der Flasche sorgt für ein Pfützchen auf meiner Zunge.

Ich betrachte die Flasche, lese die Ausführungen auf der Rückseite und erinnere mich, wie wir uns kennengelernt haben, wie ich sie gekauft habe und der Winzer mir die Vorzüge dieser Rebsorte erläuterte, wie wir gemeinsam getanzt haben und uns dabei immer nähergekommen sind.

Die Treppe wieder hinauf ins Wohnzimmer, ich drehe mich um und genieße den Anblick Deines Körpers, ein Abtasten mit den Blicken, ein vorsichtiges Öffnen der Flasche und abgießen. Jetzt muss er erst mal einen Moment atmen, ich schaue Dich an und erfreue mich daran, wie schön Du in den vielen Jahren unseres gemeinsamen Lebens aussiehst und dunkelrot aus der Flasche im Dekanter funkelst, während die Zeit an uns vorbeizieht.

Eine zaghafte Berührung des Glases mit meinen Lippen, Deine Haut fühlt sich so zart an und mein Mund öffnet sich leicht, um beim Einatmen schon ein wenig von Deinem Aroma aufzunehmen, das aus dem Glas aufsteigt und Deiner Haut diese Einzigartigkeit gibt. Kaum wach, der Flasche entkommen und gegen das Licht ein wundervoller Anblick, verheißungsvoll und verführerisch wendest Du Dich mir zu und öffnest Dich behutsam für mich.

Der erste Schluck gibt meinem Mund einen ersten Vorgeschmack auf den vorausliegenden Genuss, Du fasst mich an, berührst mich, vollmundig und meine Zunge erfüllt die Sehnsucht nach dem Ertasten der schweren und gehaltvollen Flüssigkeit. Das Aroma kleidet den ganzen Gaumen aus, die dazwischengezogene Luft mit Deiner Zunge entfacht ein Feuerwerk an Gefühlen.

Noch einmal absetzen, gegen das Licht halten und das Vorspiel auf mich wirken lassen. Du atmest schwer und greifst nach mir, ich schnuppere noch einmal am Glas, unruhig wälzt Du Dich zu mir und verlangst nach weiterer Berührung, nach Vereinigung. Der Schluck füllt meinen ganzen Mund aus, sehr sehr lange halte ich ihn, während wir ineinanderverschlungen liegen und uns bewegen, atmen, immer schneller und schneller.

Der größte Moment der Gemeinsamkeit, jetzt rinnt der Rebensaft langsam den Hals hinunter und wir küssen uns bis das letzte Zucken durch unsere aufgewühlten Körper langsam abgeklungen ist und der Mund mit der Ruhe eines abziehenden Tropengewitters Feuchtigkeit hinterlassend und blühende Pflanzen verheißend in den normalen Tag zurückkehrt.

29 Mai 2020

Guten Morgen, liebe Sorgen


Man sagt ja, wenn man älter als 50 wird und am Morgen ohne Schmerzen aufwacht, sollte man prüfen, ob man schon tot ist.

Vielleicht ein wenig drastisch, aber es demonstriert, wie sich die Selbstverständlichkeiten der jüngeren Lebensjahre in kleine Geschenke verwandeln. Was gestern Standard war, ist heute etwas Besonderes. Etwas Bemerkenswertes. Etwas Feierwürdiges.

Das gilt natürlich nicht nur hinsichtlich Gesundheit und eigenem Leben. Auch die gewohnten Feiern, die wegen Versammlungseinschränkungen mal ein paar Monate ausfallen müssen, kann man in diese Kategorie packen.

Aber ich möchte nicht nur die vermeintlich großen Dinge ansprechen. Auch die Kleinigkeiten verdienen gelegentliche Aufmerksamkeit. Was nicht beachtet und geschätzt wird, könnte krepeln und mit der Zeit eingehen.

Ein Moment des Innehaltens, des Genießens, des Auf-Merkens im Dahinrauschen des Alltags bietet sich ja immer wieder. Das beginnt bei einem Hineinhorchen in den eigenen Körper – der ja nicht nur Behälter für Speisen und Gedanken ist – und endet beim Schweifen des Blicks über unsere Umgebung und die Arbeit, die unsere Mitmenschen in die sichtbaren und verborgenen Leistungen gesteckt haben.

(Anmerkung: Nach dem Tod meiner Mutter habe ich eine kleine Pause in den Blog-Veröffentlichungen eingelegt... die ist aber jetzt zu Ende.)