20 November 2020

Leere

Es ist dämmrig, Licht von der Straßenbeleuchtung und der Neonreklame fällt durch das Fenster. Ein kleiner, grüner Wurm kriecht langsam aus meinem Blumentopf, um seine Nachtwanderung zu beginnen. Er klettert am Rand herunter und erreicht den Untersetzer.

Ich stehe auf, gehe zu meinem Schreibtisch, sehe ihm bei seinem Geschäft zu. Draußen hupt ein Auto, ein anderes bremst quietschend. Die Dunkelheit bricht herein, aber ich kann mich nicht entscheiden, das Licht anzumachen. Ich denke an zu Hause. An meine Eltern und mein Zimmer. Es ist alles so weit weg. Mein Leben ist so neblig, ob es richtig ist so, weiß ich nicht. Nicht mehr. Der Wurm kriecht über meinen Schreibtisch auf das Glas zu. Wenn er da hineinfällt, ist er tot, denke ich. Vielleicht krieche ich auch auf irgendetwas zu…

Meine Freundin ist schwanger (ich weiß nicht, von wem), aber auch sie ist weit weg. Ich will das Kind nicht, habe ich zu ihr gesagt. Aber sie meinte nur, dass das ja wohl ihre Sache ist und überhaupt, wir Männer wollten immer nur den Spaß. Das Glas. Es steht auf dem Schreibtisch, außerhalb meiner Reichweite. Der Wurm ist daran vorbeigeglitten.

Ich stehe wieder auf, diesmal, um den Rolladen ein Stück herunterzulassen. Soll ich die Schreibtischlampe anknipsen? Nein, es wäre zu hell, ich hasse Helligkeit, ich bin ein Wesen, das seinen Weg lieber im Dunklen sucht, auch wenn ich dann Angst habe. Angst vor der Nacht, wie ein verirrter Wanderer.

Das Glas lockt mich. Ich nehme es auf dem Weg zu meinem Sessel mit. Es ist schweres Bleiglas, darin eine braune Flüssigkeit. Vielleicht ist es Blut, eingetrocknetes Blut von Dir, aufgelöst in Wasser, verdünnt mit Gin. Dein Blut war nie rot, es war seltsam braun; Weißt Du noch, wie ich es das erste Mal sah?
Ich nehme einen Schluck, der bitter schmeckt. Ich denke nach, dabei fällt mir der Wurm ein. Er ist immer noch auf meinem Schreibtisch, sehe ich. Inzwischen wird es draußen Nacht, ich werde müde und das Glas langsam leer. Da wieder dieser bittere Geschmack.

Aus einer Wohnung unter mir höre ich Musik, vielleicht ist es auch der Fernseher oder ein vergessenes Radio, dessen Skala in der Nacht leuchtet. Ich kenne das Lied, aber ich kann mich nicht erinnern, wann ich es zuletzt gehört habe. Es ist schön, etwas zu hören, zu hören außer Autos, außer dem Telefon, das ich klingeln lasse. [07/1987]

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