Helga, hatte ich gehört, ist der Feger auf jeder Party. Tatsächlich hatte ich sie noch nie gesehen, aber schon viel von ihr gehört. Angeblich sah sie leidlich gut aus, zumindest für Männeraugen, Frauen waren da etwas kritischer und kritisierten die zu groß geratene Nase, natürlich auch den Haarschnitt samt Farbe der Strähnen und (hinter vorgehaltener Hand, ich will es ja nicht so laut sagen, aber sie hat schon) ein ganz schön breites Becken.
Allerdings besteht Einigkeit darin, dass sie sehr kurzweilig ist. Im Hereinkommen kann sie die Stimmung, deren abzusehende Entwicklung und das Niveau einschätzen. Und sich genau darauf einstellen: Junggesellen erzählt sie schlüpfrige Witze genauso wie sie im Damenkränzchen die Top Ten der Shoppingcenter thematisieren kann. In jedem Fall aber sehr lebhaft, sie kann den Raum füllen und es gibt mit Sicherheit niemand, der während der Party nicht ein paar Worte mit ihr gewechselt hat und sich nicht nachher auch an sie erinnert.
Diese Aura geht ihr also voraus, kein anderer Gast um mich herum ist sichtlich neugierig auf ihren Auftritt, denn sie ist ja schon allseits bekannt. Dazu kommt, dass sie sich zu verspäten pflegt, manchmal ohne Begründung auch ganz wegbleibt. Ob sie eine bessere Party gefunden, die Einladung vergessen oder schlichtweg keine Lust gehabt hat, bleibt stets im Verborgenen. Keiner nimmt ihr das so richtig krumm, man unterhält sich vielleicht kurz darüber, es ist halt Helga, bestimmt taucht sie gleich auf oder auch nicht.
Gespannt sitze ich in einem tiefen Sessel, um mich herum lebhafte Gespräche, hier und da schnappe ich einen Begriff auf, je nach Situation werfe ich auch mal einen Satz ein. Aber meine Gedanken sind nicht bei den Gesprächen, sondern beim Ausmalen der Story rund um Helga. Langes, rötlich gefärbtes Haar, in dem standardmäßig eine Brille steckt. Dann ein recht längliches Gesicht mit der erwähnten großen Nase, einem zurücktretenden Kinn und schwarzbraunen Augen, die nicht einen Moment still zu stehen scheinen. Mit ihren fast 1,80 Meter wirkt Helga recht lang, noch mal betont durch ihre hoch aufgeschossene Figur, kaum Oberweite aber leicht angesetzten Po.
Gerade kommen wieder Freunde an meinem Sesselplatz vorbei, erkundigen sich nach meiner Gesundheit (ich hatte vor ein paar Wochen eine unangenehme Erkältung) und erzählen von ihren neuesten Errungenschaften. Ich höre geduldig zu, schaue zwischendurch verstohlen auf die Uhr, denn langsam frage ich mich, ob Helga heute noch hier auftauchen wird. Man kann es sich kaum vorstellen, hat mein Freund Max mir letztlich erzählt, aber Helga ist recht introvertiert. Sie liebt Partys, aber genauso kann sie sich an einen See setzen und stundenlang auf das Wasser schauen. Dieses Energiebündel lädt sich in der Ruhe auf, andere Menschen sind für sie unentbehrliche Geselligkeit, aber spätestens um Mitternacht verschwindet sie wie ein Geist zurück in ihre geliebte Ruhe.
Max steht weiter hinten im Raum mit einem Glas in der Hand, redet auf eine Frau ein, ist das vielleicht Helga, nein, sie passt so gar nicht auf die Beschreibung, die mir von verschiedenen Seiten zugetragen wurde. Ich stehe auf, wippe ein bisschen im Takt der Musik, die jetzt die Wohnung flutet und schlendere zu Max hinüber, der jetzt noch zwei weitere Frauen um sich gesammelt hat. So kenne ich ihn, er ist ein Sympathieträger, Frauen lieben seinen Charme, auch bei Männern kommt seine Art gut an. In einer Gesprächspause frage ich wie beiläufig, ob Helga noch kommt.
Ach, nein, hast Du nicht gehört, die hat für heute abgesagt. Was für ein Pech, denke ich, Helga kommt nicht.
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