21 Januar 2022

Geiselnahme (1/3)

Ich lag zusammen mit den anderen auf dem Boden. Über uns liefen ein paar Männer mit Strumpfmasken herum, fuchteln mit irgendwelchen Waffen. Irgendwie hatte ich mir solch eine Szene immer anders vorgestellt. In einer Bank vielleicht, von mir aus in einem Restaurant. Aber jetzt lag ich auf dem Bauch in Gang 8 eines Baumarktes. Das ist nicht der Ort, um Geld vom Kassierer in Geldsäcke packen zu lassen.
Einer der Gangster hat jetzt einen Zettel aus der Tasche gezogen und beginnt, ihn vorzulesen. Deutsch ist nicht seine Muttersprache, manche Betonungen stimmen nicht, der Akzent lässt osteuropäische Herkunft vermuten. Wir sollen uns keine Sorgen machen, wenn wir uns benehmen, wird uns nichts passieren.
Aber was bedeutet es, sich zu benehmen? Ich meine, aus Sicht eines Gewalttätigen. Und was passiert, wenn wir uns nicht benehmen? Werden wir dann verschleppt, gefoltert, umgebracht? Vorerst liegen wir noch da, keiner wagt, sich zu bewegen, die Männer – wieviele mögen es sein? – stehen ein wenig unschlüssig herum. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch eine vermummte Gestalt dazu kommen. Kurzes Flüstern mit den Anderen, dann spricht er mit barscher Stimme, scharfe Aussprache und keinen Widerspruch duldend. Ich höre meinen Namen. Warum ich? Was, wenn ich mich einfach nicht melde? Wieder mein Name. „Ich weiß, dass du hier bist. Ich weiß, dass du Farbe kaufen wolltest. Steh auf jetzt!“
Zugegeben, das Heldentum überlasse ich gerne anderen Menschen. Aber jetzt beginnt der Anführer, jeden Mann auf dem Boden umzudrehen, ihm ins Gesicht zu sehen und einen Ausweis zu verlangen. Die Frauen hat er mit dem Gesicht zu den Türmen aus Innenwandfarbe aufstehen lassen. Ich schaue mich verstohlen um, keine Chance, zu flüchten, der Gang ist vorne und hinten abgeriegelt, unter das Regal passe ich nicht und überhaupt wird jede Bewegung sorgfältig beobachtet. „Okay“, sage ich mit krächzender Stimme, „ich bin das“
Sofort kommt Leben in den Trupp, die anderen Geiseln spielen keine Rolle mehr, schon habe ich einen Knebel im Mund und ein Tuch über die Augen, stolpere vorangedrängt durch den Gang vermutlich auf den Notausgang zu, denn jetzt wird es kalt und eine Autotür öffnet sich für mich und eine Fahrt mit mir unbekanntem Ziel beginnt.

„Hatten Sie eine angenehme Fahrt, ich meine so angenehm, wie die Umstände es zulassen?“ Vorsichtig wird mir die Augenbinde entfernt und mein Gegenüber entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten und insbesondere den Knebel. „Wir wollen nur reden. Sie sollen für uns eine bestimmte Aufgabe erledigen.“ Das, denke ich mir, hätte diese Mafia doch nun wirklich einfacher haben können. Mir im Baumarkt aufzulauern, mich und ein Dutzend andere Kunden zu bedrohen, möglicherweise schon die Polizei im Nacken. „Sie wollen nur reden?“, etwas verdattert bin ich schon, anscheinend ist diese Geiselnahme völlig anders als ich es immer in den Fernsehfilmen gesehen habe. Und wenn sie genug geredet haben, wie geht es dann weiter? Werde ich dann doch noch ermordet?
Ich betrachte den Mann, der mir am Schreibtisch gegenüber sitzt. Er sieht sehr gepflegt aus, auch wieder abweichend vom Bild, das ich mir von Entführern mache. Scharfe Gesichtszüge und flinke Augen lassen ihn intelligent wirken. Er ist ziemlich gut informiert, kennt ein paar wenig publike Details aus meinem Leben, fragt mich nach Naturwissenschaften und Handwerk. Was will er denn nun eigentlich von mir?

Ich bin jetzt allein in meinem Zimmer, ich denke schon mein Zimmer, dabei bin ich gerade erst unfreiwillig hierhin gekommen. Aber es ist gemütlich, an einer rund vier Meter langen Seite ist ein Bücherschrank, überwiegend psychologische und physikalische Fachliteratur, ein paar Bildbände mit Landschaftsfotografie, ein Musikspieler. Während ich ihn noch betrachte und mich frage, welche Musik er abspielen soll, fällt mir mein Handy ein. Diese Dummköpfe haben vergessen es mir abzunehmen und jetzt kann ich Hilfe herbeiholen und mich befreien lassen. Aber befreien wovon? Ich stecke das Handy wieder zurück in die Tasche. Die Lage ist ungeplant und ich gehe ein Risiko ein, aber im Grunde ist es auch spannend und gar nicht so unangenehm. Wie zur Antwort auf meine Zweifel geht die Tür auf, eine Frau etwa in meinem Alter kommt herein, stellt eine Flasche Wein auf den Schreibtisch, eine Karaffe mit Wasser und ein Glas dazu. Weg ist sie wieder, kein Wort, keine Misshandlung, keine Folterdrohung.

Neben dem Bücherschrank steht in der Ecke ein Klappbett, ich öffne es, gehe hinüber zu einer schmalen Tür und stehe erwartungsgemäß in einem kleinen WC. Es hat sogar ein Fenster, also Angst vor Flucht scheinen meine Entführer nicht zu haben. Oder es ist so einsam, von Hunden bewacht oder aus anderen Gründen völlig aussichtslos? Ich höre auf, darüber nachzudenken, putze mir die Zähne und lasse mich auf das Feldbett fallen, der Wein hat mich müde gemacht.

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