Ich erwache, weil die Sonnenstrahlen durch die Lamellenvorhänge nicht wirklich aufgehalten werden. Offensichtlich habe ich tief geschlafen, habe nicht mitbekommen, dass auf meinem Tisch jetzt Frühstück steht, Kaffee in einer Thermoskanne. Unverhofft kommt oft, denke ich mir, wasche mich und stürze mich hungrig auf die Brötchen. Niemand kommt, es ist nichts zu hören, ist es eine Zelle oder ein Ort der Meditation? Ich schaue mir die Bücher genauer an. War das Laptop gestern schon dort unten im Schrank? Ich schalte es ein und finde beim Öffnen von Word einige meiner eigenen Texte, dazwischen aber auch fremde Werke. Neugierig beginne ich, die Dokumente zu durchsuchen. Ausschnitte großer Weltliteratur finde ich, Nietzsche, Goethe, aber auch zahlreiche Texte von mir unbekannten Autoren. Es sind schöne Sachen dabei, richtige Schätze der Literatur, als wäre diese Kollektion just für mich zusammengestellt.
Der Morgen verfliegt, ich schmökere in den Texten, stehe manchmal auf, um wieder einen Blick auf den Bücherschrank zu werfen. Auch hier scheint die Auswahl auf mich abgestimmt zu sein. Gegen Mittag erscheint wieder die Frau, freundlich aber wortkarg, sie wolle nicht stören, nur den Lunch bringen, der Meister werde nachher zu Besuch kommen. Der Meister? Bevor ich nachfragen kann, ist sie verschwunden und nach kurzen Überlegungen esse ich, während meine Gedanken wieder in die Bücher eintauchen. Inspiriert klappe ich wieder das Laptop auf, fange an zu schreiben. „Ich habe hier ein Buch, das ich von Ihnen gelesen und neu geschrieben haben möchte“, sagt eine Stimme neben mir. Ich drehe mich zur Seite, der Scharfgesichtige steht da und hält ein kleines Bändchen in den Händen. Den Titel kann ich nicht erkennen, auf dem Cover meine ich eine Bank zu sehen.
„Sie wollen, dass ich ein Buch lese und es neu schreibe?“ Keine besonders intelligente Antwort, „dafür haben Sie mich entführen und hierherbringen bringen lassen?“ Eine Mischung aus Erleichterung aber auch Ärger steigt in mir auf. „Bitte beruhigen Sie sich, wenn wir Sie einfach nur gefragt hätten, hätten Sie noch nicht einmal zugehört, geschweige denn die Aufgabe übernommen. Und bitte betrachten Sie es nicht als Entführung, sondern als einen für Sie ungeplanten Ortswechsel.“ „Aber dieser Aufwand, ich werde von zig Leuten vermisst, die Polizei wird irgendwann auftauchen und dann ist Ihr mieses Spiel zu Ende.“ „Nein, die ganze Sache war von langer Hand geplant, ihr ganzes Umfeld weiß Bescheid, der einzige, der nichts mitbekommen hat, sind Sie. Wir haben es als Auszeit bezeichnet, und selbst Ihre Frau war der Meinung, dass Ihnen das gut tun würde.“
Eine Weile war Stille, das musste ich erst mal verdauen. Da war hinter meinem Rücken von Familie und Freunden also eine Entführung vorbereitet worden, ich wurde ja geradezu aus dem Weg geräumt. Und das unter dem Deckmantel der Literatur. Zugegeben, es passte schon zusammen, die Tagesarbeit laugte mich zunehmend mehr aus und mein neuer Aufenthalt war an und für sich sehr gemütlich. Dennoch fühlte ich mich überrumpelt, zwangsbeglückt, fremdbestimmt. „Sie können jederzeit gehen“, sagte mein Gegenüber im Aufstehen, „aber die Aufgabe können Sie nicht mehr loswerden. Wir werden Ihnen überall hin folgen und selbst in Ihren Träumen präsent sein.“ Ich blickte auf das Laptop vor mir, aus dem Augenwinkel sah ich meinen Gastgeber verschwinden, nachdem er das Büchlein auf die Ecke des Schreibtisches gelegt hatte.
Erst jetzt fiel mir auf, dass das Fenster durch die Jalousie zwar verdunkelt war, durch die Ritzen aber heller Sonnenschein fiel. Ich lief hin, zog an der Verstellung und raffte die Lamellen zur Seite. Tatsächlich bot sich ein Blick auf eine durch und durch grüne Landschaft, vielleicht ein großer Garten, ein Park oder einfach nur bewirtschaftete Natur. Der Anblick lies mich wieder zur Ruhe kommen, ich spazierte durch mein Zimmer, ignorierte dabei aber das Büchlein und stöberte ein wenig im Bücherschrank. Dann wurde ich doch neugierig; ohne weiter auf Titel oder Autor zu achten schlug ich das mitgebrachte Buch auf, Hardcover, große Schrift auf kleinen Seiten. Kapitel eins war schnell gelesen, eine Alltagsgeschichte umrahmte eine dem Autor wichtige philosophische Erkenntnis. Der Grundgedanke gefiel mir, aber die Sprachbilder wollten in meinem Kopf nicht zum Leben erwachen und die Dialoge waren hölzern. Nein, so redet kein Mensch, sagte ich mir, da hat der Scharfgesichtige Recht, das kann man nicht überarbeiten, das muss man neu schreiben.
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