22 April 2022

Die Zukunft ruft

Du siehst schlecht aus. Auf der Stirn steht immer noch Schweiß, obwohl wir schon vor einiger Zeit im Chalet angekommen sind, der Anstieg eine Weile zurückliegt. Deine Lippen sind ein wenig blass, in der Dämmerung hier im Haus wirken sie geradezu kreidig. Vermutlich war es eine schlechte Idee, dass wir nach all den Jahren wieder zu dieser Behausung inmitten der Wiesen gewandert sind.

Irgendwann hatten wir uns auseinandergelebt. Wir waren Anfang dreißig, die Sturm-und-Drang-Phase war zu Ende, ruhigeres Leben in geregelten Bahnen angesagt. Jeder ging seiner Wege, gründete eine Familie, zog weg und baute oder nistete sich sonst irgendwie ein. Nach Jahren des gelegentlichen Kontaktes schlief unsere Beziehung ein, nicht aktiv beendet, nur ausgelaufen.

Ich erinnere mich an das Jahr 1966, als wir zum ersten Mal hier oben waren. Es war eine ganz merkwürdige Zeit, hinter uns lag das spießige und verklemmte Verhalten der älteren Generation, vor uns die große Freiheit. Mit gerade mal 16 Jahren waren wir noch Kinder und Mädchen waren fremde Wesen. Zusammen mit Dir hatte ich für den Freundeskreis ein Wochenende in der Hütte organisiert, das war für einige Eltern, gerade bei den Mädchen, eine große Überredungsnummer. Und wir mussten versprechen, dass „nichts passiert“. Was auch wirklich so war, trotz der Gelegenheit gab es nur hier und da ein Händchenhalten oder einen scheuen Kuss.

Und dann hatten wir uns wiedergetroffen, jetzt vor kurzem, an der Tankstelle standest Du plötzlich vor mir, strahltest mich an und wolltest wissen, ob ich mich nicht erinnerte. Nein, doch, nein, wirklich, bist Du das, das kann doch nicht wahr sein. Wie alt wir beide geworden sind, beide vermieden wir dieses Thema, aber einen Kaffee trinken, ja, jetzt hier. Der Kaffee ging in eine Flasche Wein über, die Autos mussten stehenbleiben und wir versprachen uns, dass wir unsere Freundschaft regenerieren und den Kontakt wieder intensivieren wollten.

Pläne wurden geschmiedet, Du hattest zu unserer ersten Wiedervereinigung ein paar Fotos mitgebracht, auch von der Hütte. Und so entstand der Gedanke, dass wir den Rucksack packen und wieder hier hinauf marschieren wollten. Genau wie damals, als wir über fünfzig Jahre jünger waren. Was damals so leicht ging, Du vorneweg mit einer Gitarre, wir fröhlich hinterher mit dem Proviant, das war heute schon deutlich mühsamer.

Ein großes Versprechen hatten wir uns aber schon bei unserer ersten Flasche Wein gegeben. Wir würden nicht in Erinnerungen schwelgen, auch kein Wort über die Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten. Ehe oder Scheidung, Kinder oder Enkel, Beruf oder Karriere – das sollte keine Rolle spielen. Einfach nur wir zwei, was auch immer zwischendurch war. Und selbst das Heute wollten wir eher nebensächlich erwähnen, unseren körperlichen Zustand nur bei Betrachtung der Zukunft. Wobei auch diese nicht als Endzeit daherkommen sollte, keine Liste, was man vor dem Tod noch erlebt haben wollte.
Was also angehen, wo können wir unsere Lebenserfahrung einbringen, unsere Beziehungen und Netzwerke nutzbringend verwenden. Beweisen müssen wir uns nichts mehr oder vielleicht doch, wie bringen wir uns bis zum letzten Atemzug in die Gesellschaft ein. So sitzt du vor mir, die Lippen bekommen langsam wieder Farbe, ich staube den Tisch ab, ziehe die Schutzdecke vom Bett und hole ein paar Gläser aus dem Regal. Wie einfach das Leben ist, wie einfach die Welt von hier oben aussieht, wie gut die Gedanken schmecken, wenn man sie mit Spaghetti und Rotwein einkocht.

Was fällt uns zu Nachhaltigkeit ein, sind wir da auf dem richtigen Weg? Haben wir denn in unserer Jugend wirklich nachhaltiger gelebt, von Grund auf bewusster oder aus Mangel an Gelegenheit? Unsere Köpfe werden roter, der Blutdruck steigt wie der Alkoholpegel und wir reden und reden, es ist wie seinerzeit, wir sind immer noch Freunde. Welche Verantwortung erwarten wir von Unternehmern, kann man börsennotierte Unternehmen auf einen Ehrenkodex festlegen, ihn bepreisen, als eine spezielle Form der Aktie an den Markt bringen. Überhaupt, was ist der Markt, wird ihm nicht zu viel Bedeutung zugemessen? Kann man auch Emotionen der Mitarbeiter erfassen, statistisch auswerten, in Rankings einfließen lassen?

Der Abend nimmt seinen Lauf, manchmal hustest Du ein wenig hart und ich bin so gar nicht mehr nüchtern. Wie aufregend, sich mit dir zu unterhalten, steter Wechsel zwischen sofortiger Zustimmung und hartnäckigem Widerspruch, in jedem Fall aber mit durchdachten Argumenten unterlegt. Selbst kleine Pausen nehmen wir uns, und sei es auch nur, weil einer von uns auf der Toilette verschwindet. Schweigen als kurzes gedankliches Innehalten, Konzentration und inneren Dialog.

Trotz der zunehmend weinseligen Stimmung entgeht mir nicht, dass du wieder und wieder ein neues Taschentuch heraussuchst, liegt es am Wein, dass es immer auch eine gewisse Röte hat, wenn du es wegwirfst? Gerade hustest du wieder, nein, das ist nicht gesund, aber was will man realistisch in unserem Alter erwarten. Im Sinne unserer selbstauferlegten Jugend hatten wir unseren Ausflug ohne moderne Technik vorgesehen. Jetzt saßen wir hier, redeten uns die Köpfe heiß und könnten noch nicht mal Hilfe holen, wenn wir welche brauchten.

Weit nach Mitternacht beschlossen wir ins Bett zu gehen, aber vorher wollten wir noch kurz frische Luft schnappen. Es wurde auch Zeit, die Zunge wurde langsam schwer und der Wein ging zur Neige. Du stemmst dich aus dem Sessel hoch, auf dem Weg zur Garderobe knicken dir die Beine weg, ich bin auch nicht so schnell zur Stelle, wie ich es mir gewünscht hätte und kann nur zusehen, wie du ziemlich hart zu Boden gehst. Lass mich, versuchst du zu sagen, aber das kommt nicht mehr so recht aus deinem Mund, stattdessen hustest du, diesmal unverhohlen blutig und dann reißt du dich noch mal zusammen und raunst mir ins Ohr: Die Zukunft ruft, hör mal genau hin.

Danke dafür, für diese letzten, kostbaren Stunden und die Erkenntnis, dass man auch im fortgeschrittenen Alter noch einen Anlauf nehmen kann, auch wenn es nicht mehr zum Sprung kommt.


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