Es war einmal ein Zauberer, der hatte einen großen schwarzen Raben. Eigentlich war der Zauberer überhaupt kein Zauberer, denn er konnte keine Wunder vollbringen, den Menschen keinen Zaubertrank verabreichen oder magische Vorgänge einleiten. Aber es gefiel ihm, einen spitzen schwarzen Hut zu tragen und mit seinem hageren Gesicht und dem langen Bart wirkte er tatsächlich ein wenig unheimlich.
Dazu kam, dass er in einem rustikalen Holzhaus wohnte, das am Waldesrand stand und von Zeit zu Zeit mit dem Rauch aus dem Ofen auf sich aufmerksam machte. Seine Leidenschaft war die Anfertigung von natürlichen Heilgetränken, er mischte Zutaten, zerkleinerte Kräuter und kochte allerlei Essenzen, die äußerlich oder innerlich Linderung bei den verschiedensten Krankheiten brachten. Die Rezepturen bekam er aus seiner über die Jahrzehnte zusammengetragenen Literatur, aber auch aus Experimenten, die er an sich, Tieren und manchmal Dorfbewohnern durchführte.
Wegen seines behutsamen Vorgehens und aufgrund seines enormen Wissensschatzes war er allseits beliebt und wurde gerne konsultiert, wenn es um die Behandlung körperlicher Gebrechen ging. Das war den Ärzten zwar ein Dorn im Auge, aber da es ihm immer gelang zumindest keine Verschlechterung, meist sogar eine deutliche Verbesserung herbeizuführen kamen sie in der Praxis nicht an ihm vorbei.
Eine sehr wichtige Hilfe war ihm sein Rabe. Diesen hatte er vor vielen Jahren schwer verletzt gefunden, weil er sich in einer Schlinge verfangen hatte. Irgendein böser Mensch hatte ihm eine Falle gestellt und er war mit einem seiner Füße in der Schlinge hängengeblieben. Beim Versuch sich zu befreien hatte er dann vor lauter Panik das Beinchen so stark verletzt, dass es sich nicht mehr bewegen ließ. In diesem bedauernswerten Zustand hatte der Zauberer ihn gefunden, aus der Schlinge herausgeschnitten und mit nach Hause genommen, wo er ihn wieder aufpeppelte.
Der Rabe war zunächst voller Groll über die gemeine Tat, die ihm zum Verhängnis geworden war. Noch während er in seinem provisorischen Nest langsam wieder zu Kräften kam, schimpfte er den lieben langen Tag über die Bösartigkeit der Menschen und seine Schmerzen. Sein Leben war zerstört, seine Lebensfreude genommen.
Abgesehen vom permanenten Geschrei des Vogels war der Zauberer über dieses traurige und lebensmüde Jammern sehr betrübt. Er begann, auf den Raben einzureden, auch wenn dieser ihn natürlich nicht verstand. Aber die Botschaft, die fortwährende Beschäftigung mit ihm und die beruhigende Stimme erzielten nach einiger Zeit eine heilende und aufbauende Wirkung. Nach einigen Tagen ließ das Geschrei nach und der Rabe begann, dem Zauberer zuzuhören.
Es dauerte Monate, bis er erste Brocken der menschlichen Sprache verstehen konnte, aber nach und nach kamen immer wieder einige neue Wörter dazu. Was er schon früh verstand, war die Aufforderung, sich nicht weiter in den nun mal unvermeidlichen Schmerz zu steigern. Vielmehr hatte der Zauberer eine neue Aufgabe für ihn ersonnen und wollte ihn als Bote neuer Rezepturen einspannen. Dafür wäre das zweite Bein zwar vielleicht hilfreich gewesen, es war aber nicht unbedingt notwendig.
Erste Flugversuche und halbwegs sanfte Landungen verliefen vielversprechend. Dem Raben wurde klar, dass er mit seiner neuen Aufgabe etwas Einzigartiges für den Zauberer erledigen konnte. Sein Leben bekam wieder einen Sinn, die Trauer über sein früheres Leben verblasste zusehends. Stattdessen übte er in dem kleinen Haus des Zauberers das Aufstehen mit einem Bein, Abflug und Landung. Und saß nun jeden Tag auf der Schulter des alten Mannes und schaute dabei zu, wie er Kräuter häckselte, zum Trocknen aufhängte oder den Mörser befüllte.
Es mag ein ganzes Jahr nach dem tragischen Unfall gewesen sein, als er auf Geheiß des Zauberers vorsichtig durch offene Tür hüpfte und mit ein paar unbeholfenen Sprüngen zum Start ansetzte. Und tatsächlich, er konnte fliegen, sah das kleine Holzhaus unter sich liegen, drehte eine Runde und orientierte sich in der näheren Umgebung. Vorher hatte er sorgfältig die Karten auf dem Küchentisch studiert und konnte so nicht nur den Weg zum Dorf, sondern auch die Häuser, Kirche und Gasthaus erkennen.
Zunächst waren die Menschen überrascht, wenn sie den Raben sahen, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn, nahmen ihm von seinem steifen Bein die Botschaft ab, die der Zauberer ihm mitgegeben hatte und beluden ihn für den Rückweg mit kleinen Päckchen oder Papierrollen. Nach und nach wurde er zu einer Brücke zwischen dem Eigenbrötler in seinem Holzhaus am Waldesrand und der lebhaften Geselligkeit auf dem Dorfplatz. Die Kinder winkten ihm schon von weitem zu und er war sehr beliebt bei allen.
So hatte sich sein Leben komplett gedreht. Einen kurzen Moment lang war er mit jungen Jahren schon dem Tode geweiht, hatte dann aber Glück gehabt und eine Chance erhalten, ein ganz außergewöhnliches Leben zu führen. Ein glückliches Leben, das er ohne sein furchtbares Schicksal nie kennengelernt hätte.
Und so konnte er dem Zauberer noch mehrere Jahrzehnte hilfreich zur Seite stehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
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