22 November 2024

Das Märchen vom Zauberer und seinem Raben

Es war einmal ein Zauberer, der hatte einen großen schwarzen Raben. Eigentlich war der Zauberer überhaupt kein Zauberer, denn er konnte keine Wunder vollbringen, den Menschen keinen Zaubertrank verabreichen oder magische Vorgänge einleiten. Aber es gefiel ihm, einen spitzen schwarzen Hut zu tragen und mit seinem hageren Gesicht und dem langen Bart wirkte er tatsächlich ein wenig unheimlich.

Dazu kam, dass er in einem rustikalen Holzhaus wohnte, das am Waldesrand stand und von Zeit zu Zeit mit dem Rauch aus dem Ofen auf sich aufmerksam machte. Seine Leidenschaft war die Anfertigung von natürlichen Heilgetränken, er mischte Zutaten, zerkleinerte Kräuter und kochte allerlei Essenzen, die äußerlich oder innerlich Linderung bei den verschiedensten Krankheiten brachten. Die Rezepturen bekam er aus seiner über die Jahrzehnte zusammengetragenen Literatur, aber auch aus Experimenten, die er an sich, Tieren und manchmal Dorfbewohnern durchführte.

Wegen seines behutsamen Vorgehens und aufgrund seines enormen Wissensschatzes war er allseits beliebt und wurde gerne konsultiert, wenn es um die Behandlung körperlicher Gebrechen ging. Das war den Ärzten zwar ein Dorn im Auge, aber da es ihm immer gelang zumindest keine Verschlechterung, meist sogar eine deutliche Verbesserung herbeizuführen kamen sie in der Praxis nicht an ihm vorbei.

Eine sehr wichtige Hilfe war ihm sein Rabe. Diesen hatte er vor vielen Jahren schwer verletzt gefunden, weil er sich in einer Schlinge verfangen hatte. Irgendein böser Mensch hatte ihm eine Falle gestellt und er war mit einem seiner Füße in der Schlinge hängengeblieben. Beim Versuch sich zu befreien hatte er dann vor lauter Panik das Beinchen so stark verletzt, dass es sich nicht mehr bewegen ließ. In diesem bedauernswerten Zustand hatte der Zauberer ihn gefunden, aus der Schlinge herausgeschnitten und mit nach Hause genommen, wo er ihn wieder aufpeppelte.

Der Rabe war zunächst voller Groll über die gemeine Tat, die ihm zum Verhängnis geworden war. Noch während er in seinem provisorischen Nest langsam wieder zu Kräften kam, schimpfte er den lieben langen Tag über die Bösartigkeit der Menschen und seine Schmerzen. Sein Leben war zerstört, seine Lebensfreude genommen.

Abgesehen vom permanenten Geschrei des Vogels war der Zauberer über dieses traurige und lebensmüde Jammern sehr betrübt. Er begann, auf den Raben einzureden, auch wenn dieser ihn natürlich nicht verstand. Aber die Botschaft, die fortwährende Beschäftigung mit ihm und die beruhigende Stimme erzielten nach einiger Zeit eine heilende und aufbauende Wirkung. Nach einigen Tagen ließ das Geschrei nach und der Rabe begann, dem Zauberer zuzuhören.

Es dauerte Monate, bis er erste Brocken der menschlichen Sprache verstehen konnte, aber nach und nach kamen immer wieder einige neue Wörter dazu. Was er schon früh verstand, war die Aufforderung, sich nicht weiter in den nun mal unvermeidlichen Schmerz zu steigern. Vielmehr hatte der Zauberer eine neue Aufgabe für ihn ersonnen und wollte ihn als Bote neuer Rezepturen einspannen. Dafür wäre das zweite Bein zwar vielleicht hilfreich gewesen, es war aber nicht unbedingt notwendig.

Erste Flugversuche und halbwegs sanfte Landungen verliefen vielversprechend. Dem Raben wurde klar, dass er mit seiner neuen Aufgabe etwas Einzigartiges für den Zauberer erledigen konnte. Sein Leben bekam wieder einen Sinn, die Trauer über sein früheres Leben verblasste zusehends. Stattdessen übte er in dem kleinen Haus des Zauberers das Aufstehen mit einem Bein, Abflug und Landung. Und saß nun jeden Tag auf der Schulter des alten Mannes und schaute dabei zu, wie er Kräuter häckselte, zum Trocknen aufhängte oder den Mörser befüllte.

Es mag ein ganzes Jahr nach dem tragischen Unfall gewesen sein, als er auf Geheiß des Zauberers vorsichtig durch offene Tür hüpfte und mit ein paar unbeholfenen Sprüngen zum Start ansetzte. Und tatsächlich, er konnte fliegen, sah das kleine Holzhaus unter sich liegen, drehte eine Runde und orientierte sich in der näheren Umgebung. Vorher hatte er sorgfältig die Karten auf dem Küchentisch studiert und konnte so nicht nur den Weg zum Dorf, sondern auch die Häuser, Kirche und Gasthaus erkennen.

Zunächst waren die Menschen überrascht, wenn sie den Raben sahen, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn, nahmen ihm von seinem steifen Bein die Botschaft ab, die der Zauberer ihm mitgegeben hatte und beluden ihn für den Rückweg mit kleinen Päckchen oder Papierrollen. Nach und nach wurde er zu einer Brücke zwischen dem Eigenbrötler in seinem Holzhaus am Waldesrand und der lebhaften Geselligkeit auf dem Dorfplatz. Die Kinder winkten ihm schon von weitem zu und er war sehr beliebt bei allen.

So hatte sich sein Leben komplett gedreht. Einen kurzen Moment lang war er mit jungen Jahren schon dem Tode geweiht, hatte dann aber Glück gehabt und eine Chance erhalten, ein ganz außergewöhnliches Leben zu führen. Ein glückliches Leben, das er ohne sein furchtbares Schicksal nie kennengelernt hätte.

Und so konnte er dem Zauberer noch mehrere Jahrzehnte hilfreich zur Seite stehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

15 November 2024

Herbstspaziergang

Es ist alles nebelfeucht. Die Kälte dringt nach wenigen Schritten hinter der Haustür schon durch meine Jacke, schonungslos kühlt sie meine Hände aus. Auf der Straße die Blätter, an einigen Stellen als dünne Schicht, dann wieder als kleine Haufen. Die Bäume kahl, wie um Gnade bettelnd strecken sie ihre dürren Äste in den Himmel.

Herbstspaziergang
Die Luft ist frisch, scharf spüre ich sie, wenn ich sie durch die Nase einsauge. Vor meinem Gesicht steigt sie beim Ausatmen als dichter Nebel auf, noch schlechter die Sicht dann, fast möchte ich die Augen schließen, sehe ich doch ohnehin kaum etwas. Da vorne ein geparktes Auto, das muss ich noch umrunden, bevor ich in den Wald abbiege.

Ein kleiner ausgetrockneter Bachlauf trennt mich jetzt vom feuchten Waldboden, Pilze hier und da, aber selbst der Geruch scheint sich durch den Nebel zurückgezogen zu haben. Alles ist tot und was nicht tot ist liegt im Sterben. Die Baumgipfel sind nicht zu erkennen, zu nebelig ist es hier, fast kann ich sprichwörtlich die Hand nicht vor den Augen sehen.

Die Gedanken sind träge, auch in meinem Kopf fehlt die sommerliche Bewegungslust, ist es die Kälte oder der Nebel, jedenfalls ein wenig orientierungslos irren die Gedanken umher. Es ist diese Orientierungslosigkeit, die solch einen Nebeltag ausmacht, nur wenige Schritte voraus ist überhaupt ein Weg zu erkennen, und den kann ich auch nur laufen, weil ich ihn schon so oft zurückgelegt habe.

Ich schaue mich um, ebenfalls diese trübe Suppe, immerhin ein paar Lichter zu erkennen, die von der Siedlung wohl bis in den Wald strahlen. Um nicht gegen einen Baum zu laufen schaue ich wieder nach vorne, aber meine Gedanken bleiben zurück, werden ebenso trübe wie die Welt um mich herum. Ich stolpere in Stufen der Melancholie in einen Trauermodus, komme vom Wetter auf das Leben im Allgemeinen und dieses Jahr im Besonderen.

Bin ich am Sommer vorbei, frage ich mich und schon fällt mir auf, wie orientierungslos auch der Lebensherbst sein kann. Nichts Aufblühendes, nichts Sonnenstrahlendes, einfach nur Niedergeschlagenheit wegen der fehlenden Perspektive. Kein Baum, an dem man sich in der Landschaft orientieren könnte, kein Feld, das bestellt werden müsste, kein erkennbares Ziel, das es zu erreichen gilt.

Lohnt es sich, weiterzulaufen, die deutlich stechende Kälte zu ertragen oder den Rückzug anzutreten in das warme Haus. Schwermütig, geradezu depressiv schwanken die Überlegungen weiter zwischen meinem aktuellen Umfeld und der Betrachtung meines Lebens. Ist die Rückkehr ins Haus der Versuch, in den Schoß meiner Mutter zurückzukommen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen jedenfalls? Oder ist es wie mit den Pflanzen der Eintritt in eine neue Phase, in der ich mich von den Strapazen des Sommers erhole, Kraft schöpfe und mit neuer Energie in das Frühjahr starte?

Immer tiefer versinke ich in Selbstmitleid, traurigen Erinnerungen an Sommer, Sonne, Fröhlichkeit. Und in genau diesem Moment kommt mir auf einmal ein wärmender Gedanke in den Sinn. Sonne, das ist Antriebskraft, nicht nur für die Pflanzen, auch für mich, auch für meine Laune. Fast scheint der bloße Gedanke mich jetzt wieder ein wenig zu erwärmen, weicht ein bisschen Kälte aus meinen Knochen. Die Stimmung hellt sich auf, ein wenig scheint sich selbst der Nebel um mich zu lichten.

Sonne also, ein Lichtblick, wörtlich genommen, eine Orientierung wieder in der Gleichförmigkeit der nebelgrauen Landschaft. Brüder, zur Sonne flüstere ich leise vor mich hin, niemand kann mich hier hören, oder vielleicht doch, denn unbemerkt bin ich wieder aus dem Wald herausgetreten, fühle, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breit macht und die Haut spannt in der Kälte.

08 November 2024

Erwachen

Noch ein wenig verschlafen.
Nach den neun Monaten im Bauch meiner Mutter
Blicke ich auf den jungen Morgen meines Lebens.

Ein erster Schrei hallt durch das Zimmer.
Nur kurz erschrecke ich vor dem Klang meiner Stimme
Und schaue mich verträumt um.

Erwachen

Noch erscheint mir alles ein Wunder.
Das kleinste Detail betrachtenswert
Und alles voller Seele.

Ist es nur Nahrung, ist es Liebe.
Eine zarte Berührung führt mich durch den Morgen
Wo alles um meine Aufmerksamkeit buhlt.

Die Sonne steigt, schon wird es Tag.
Am Wegesrand merkwürdige Gewächse
Sie wiegen sich und winken mir zu.

Und alles scheint gut.
Will geliebt werden von der Sehnsucht eines Kindes
Die man durch harte Schule lenkt.

Verwickelt in den Anzug der Träume.
Durch geschlossene Augen zu sehen
Wie die dunkle Seite wächst.

Es muss das Ende sein der Kindheit.
Mit aller Macht ergreift es mich
Nur dass ich mich dagegen wehre.

Ein Wort nur, geht mir durch den Kopf,
Ein Wort nur und ich bleibe dir
Für immer treu bis in den Tod.

01 November 2024

Gell, du verstehst mich

"Ennndlich....", nuschelst du zu mir herüber, "ennndlich maaal einer, der zuhööörd." Nüchtern sind wir beide nicht, aber mein Geist ist noch halbwegs da und ich kann dich betrachten, während du dein Glas mit beiden Händen festhältst, nicht nur die Zunge ein wenig schwer geworden, auch der Kopf scheint recht wackelig über deinen Schultern zu thronen.

Es ist nicht einfach, dir auf deinem wilden Ritt durch die Themen zu folgen. Vorhin hast du mir von deiner Mutter erzählt, bist dann recht unvermittelt auf irgendeinen Klaus, wohl ein Schulkamerad aus der Grundschule, gekommen und nimmst gerade die Kurve, um etwas über die Ungerechtigkeit des Lebens in Ausbildung und Beruf zu erzählen.

Gell, du verstehst mich
Entsprechend mische ich mich nur wenig in dein Gespräch ein, höre zu und grüble über den einen oder anderen Gedanken nach, den du in weinseliger Stimmung auf dem Tisch ausbreitest. Im Griff des Rieslings frage ich nach, wie du denn Gerechtigkeit definieren würdest, warum du das Leben so empfindest und überhaupt, was für dich der Kern des Lebens ist.

Hoppa, macht das Thema, und du berichtest von den Tagen in der weiterführenden Schule, den Schulgottesdiensten und dem Geruch nach Weihrauch, von dem du immer Kopfschmerzen bekommen hast. Der Pfarrer und die Klosterbrüder waren nach deiner Erinnerung sexuell nicht gerade gefestigt, ob sie sich für Buben oder Mädchen interessierten oder es bei feuchten Träumen und Masturbation bewenden ließen.

Einen Schluck später kommst du dann doch noch auf meine Frage nach der Gerechtigkeit zurück und spielst den Ball weiter in Richtung Wirt. Gerecht wäre es, wenn er die Gäste reihum bedienen würde und ihr Glas wie beim Round-Robin füllen würde. Ob ich Round-Robin kenne, ein Begriff aus der IT, den du mal bei deinem Partner aufgeschnappt hast.

Jetzt ist es an meinen Gedanken, ein bisschen weiterzuhüpfen. Warum sprechen die Menschen nur immer von ihrem Partner, so emotionslos als wäre es ein Baustein, ein mehr oder weniger technisches Element im Leben. Meine Arbeitskollegen sind Partner, einige mag ich persönlich sehr gerne und treffe mich auch außerhalb der Dienstzeit mal mit ihnen. Aber die Menschen, die mir so richtig nahestehen, die würde ich als Freunde bezeichnen und die Person, mit der ich mein Leben teile als Geliebte.

Oh weh, in meinen Gedanken versunken ist meine Trinkgenossin schon wieder in ihrer komplexen Themenwelt abgebogen. Hektisch versuche ich, den Anschluss wieder zu finden, höre von ihren Brüdern und der Wohnung, in der sie ein Gästebett hat, um auch mal überraschenden Besuch beherbergen zu können. Es wird nicht klar, ob das eine Anspielung auf mich sein soll oder ob sie mir nur die Ausstattung ihrer Bleibe darstellen möchte.

Der Wirt kommt, aber anstelle einer Bestellung bitte ich ihn um die Rechnung. Während er zur Theke zurückschlurft versuche ich, den Abend zu resümieren. Die Vielzahl der kaum zusammenhängenden Themen macht es mir schwer, ein Gesamtbild zu bekommen. Wir haben uns lebhaft unterhalten, ein paar Monologe dazwischen, Berichte von Szenen, vereinzelt mehr oder weniger intime Details aus dem persönlichen Schatzkistchen.

Und doch ist es vorwiegend eine Beschreibung des Umfeldes, nur an wenigen Stellen habe ich einen kurzen Blick hinter die Fassade werfen können. Merkwürdig neutral und ohne Tiefgang habe ich mir nicht wirklich ein Bild von dir machen können. Ja, denke ich zurück, ja, ich habe dir zugehört, aber verstanden habe ich dich nicht.

18 Oktober 2024

Somewhere before the rainbow

"Schau mal", schreit die Frau neben mir, "toll sieht er aus, dieser Regenbogen." Ich glaube nicht, dass sie mit mir spricht, sie will sich nur einfach mal Luft machen, ihre Freude herauslassen. "Schön ist das, so lange hatten wir Regen und jetzt endlich mal Sonne und gleich dieser Regenbogen", geht es weiter. Ich schwanke spontan zwischen genervter Reaktion über die unerbetene Beschallung und Mitfreude an diesem Ausbruch guter Laune.
Somewhere before the rainbow
Kurzerhand entscheide ich mich, mich auf ihre Stimmung einzulassen. "Ein Traum", sage ich zu ihr, lächele sie freundlich an und bin irritiert, weil sie mich jetzt völlig überrascht anschaut. Kurze Pause ihrer Begeisterung, dann scheint sie erst zu realisieren, dass irgendeine Person ihr überhaupt bei ihrem Selbstgespräch zugehört hat. "Ja, ein Traum! Kaum scheint die Sonne, schon fühlt man sich besser, Ende der Depression, ein Traum wie man sich da fühlt. Allmählich konnte ich den Dauerregen nicht mehr sehen, immer Wassertropfen am Fenster, Regenschirm, Flüchten vom Haus ins Auto und platschen in Pfützen."

Und so weiter. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass sie wieder mehr mit sich als mit mir oder irgendjemand anders redet. Halbwegs zusammenhängend fließen die Gedanken aus ihrem Mund, bahnen sich ihren Weg in die Umwelt und versickern im Rappeln der S-Bahn. Strahlend schaut sie mich dabei an, im ersten Moment bin ich geneigt, ihr wieder zuzulächeln oder sogar etwas zu erwidern. Aber weder lässt sie mir in ihrem Redestrom Zeit für eine Antwort, noch scheint sie auf einen Dialog aus zu sein.

"Der Regen hat natürlich auch sein Gutes, nicht allein wegen der Natur - die kann es ja nach dem trockenen Sommer wirklich gut gebrauchen. Aber ohne Regen könnten wir die Sonnenstunden gar nicht so genießen und vor allem könnte es gar keinen Regenbogen geben. Ohne Regen kein Regenbogen, das ist doch logisch", plappert sie weiter. Ich frage mich, ob sie mich überhaupt wahrnimmt, ob sie sich nachher überhaupt an mich erinnern kann. Hatte da jemand neben ihr gesessen?

Weniger aus Interesse an einer Konversation als viel mehr aus Neugierde widerspreche ich ihr "Ist es denn wirklich die Sache wert, mal ein Regenbogen und dafür tagelanges Gepläster und dauernasse Kleidung?" Wie erwartet nimmt sie nur sehr am Rande Notiz von meiner Äußerung. Als wäre sie genau meiner Meinung strahlt sie mich an, oh Gott, gleich knutscht sie mich ab. Aber so weit kommt es nicht, denn schon fällt ihr wieder ein, wo sie stehengeblieben ist und setzte ihre Betrachtung über Sonne, Regen, Laune und so weiter unvermindert fort.

Ist das lustig oder aufdringlich, frage ich mich, und ob sie wohl im Alltag bei anderen Themen, in der Firma oder der Partnerschaft genauso agiert? Oder hatte ich sie nur in einem euphorischen Moment erwischt? Gerade springt sie auf, rudert mit den Armen, breitet sie aus, als wollte sie Segen spenden oder Huldigungen entgegennehmen und schiebt sich in Richtung Tür.

Im Vorbeigehen winkt sie noch einer mittelalten Frau in Businesskostüm zu, weist auch diese lächelnd auf den langsam aus dem Blickfeld verschwindenden Regenbogen hin und ist im nächsten Moment durch die sich öffnende Ausgangstür verschwunden.

Sicher, ich war ein wenig überrumpelt, aber tatsächlich wirkte die merkwürdige Szene noch in mir nach und ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Hals verrenkte, um doch noch mal einen Blick auf den farbenfrohen Bogen werfen zu können.

11 Oktober 2024

Foto gemacht

Hohe Tannen weisen die Sterne. Vorsichtig öffne ich meine Augen, Dunkelheit um mich, ganz entfernt meine ich ein paar Lichter entdecken zu können. Es sind Sterne, denn ich liege auf dem Rücken, mein Kopf ruht schwerelos, vermutlich auf weichem Moos.

Langsam komme ich zu mir, die Sterne verblassen und auch die Dunkelheit nimmt ab, vielmehr scheint es eher Tag zu sein. Und auch mein Kopf ist gar nicht so schwerelos. Nur bewegen kann ich ihn nicht. Auch Arme und Beine gehorchen nicht meinem Willen, im Moment kann ich nur liegen und abwarten, wie es weitergeht.

Was mag passiert sein, immerhin kann ich noch denken, wenn auch meine Erinnerung eine Lücke zu haben scheint. Das letzte was ich noch abrufen kann, ist ein heftiger Schlag. Was war davor, ich muss ja unterwegs gewesen sein, wenn ich irgendwo draußen liege.

Ich martere mein Gehirn, versuche die Zeit vor meiner Bewusstlosigkeit zu rekonstruieren. Gleichzeitig der tapfere Antritt, irgendwelche körperlichen Bewegungen auszuführen. Und tatsächlich, jetzt gelingt es mir, die Finger der rechten Hand zu einer Faust zu ballen, noch mal Anstrengung und ich kann sogar die ganze Hand ein wenig anheben.

Also nochmal: Was könnte vorher abgelaufen sein. War da nicht irgendein Ausflug geplant, heute Sonntag wenn ich es richtig vermute, ein Ausflug erst mit dem Auto. Aber hatte ich einen Autounfall oder war das Unglück vorher oder nachher passiert?

Während ich auch andere Muskeln langsam wieder in Gang setze wird mir klar, dass ich trotz meiner merkwürdigen Lage überhaupt keine Schmerzen empfinde. Bin ich schon tot oder ist auch mein Schmerzzentrum so stark geschädigt, dass es nicht mitmacht? Geht das überhaupt?

Es fällt mir schwer, aber ich kann mich jetzt sogar auf die Seite drehen, zum ersten Mal sehe ich meinen Liegeplatz, lauter Steine um mich herum, ein paar Gräser dazwischen. Mit schwerem Arm ertaste ich meinen Kopf, die Haare fühlen sich feucht an, meine Hand ist rot, als ich sie wieder zurückziehe.

Im nächsten Moment tauchen wieder die Sterne auf, es wird noch heller, die wenigen Geräusche wie von Insekten werden überscharf, bis sie verstummen. Meine Augen fallen zu, alles fühlt sich wieder ganz leicht an und ich versinke mit entspanntem Gesicht wieder in der Ohnmacht.

Das junge Paar, das mich schließlich fand berichtete, dass ich dort schon eine Weile gelegen haben musste. Die Platzwunde an meinem Kopf war zur Ruhe gekommen, mein ganzer Körper wie ein lebloser Sack und nur kurze Zuckungen hätten darauf hingedeutet, dass ich noch am Leben war.

Sie hatten mich so gut sie konnten zu zweit hochgehoben und zum nahegelegenen Parkplatz getragen. Dort hatten sie einen Krankenwagen gerufen und die Sanitäter hatten mich dann zum Transport in das nächste Hospital eingeladen.

Foto gemacht
Aus den wenigen Informationen und Fakten kristallisierte sich nach allmählich zurückkehrender Erinnerung heraus, dass ich wohl angehalten hatte um ein Foto zu machen. Auf der Suche nach einem guten Standort musste ich wohl abgerutscht und ein paar Meter den Hang heruntergestürzt sein.

Jedenfalls hatte ich Glück im Unglück gehabt, trotz sorgfältiger Untersuchung stellten die Ärzte nur eine massive Gehirnerschütterung, ein paar Abschürfungen und natürlich die Platzwunde an meinem Hinterkopf fest.

Und es war nochmal ein Stück schöner, als mich Claudia und Thorsten auch in den folgenden Tagen im Krankenhaus besuchen kamen und mich nach Wiederkehr meiner Kräfte einluden, den Urlaub mit ihnen gemeinsam fortzusetzen. Wie wir nämlich feststellten, teilten wir die Liebe zu den Bergen und die Freude an den weiten Ausblicken. Die ich allerdings nicht mehr auf gerölligem Fels mit meiner Kamera festhalten sollte, wie mir Thorsten mit Augenzwinkern empfahl.

04 Oktober 2024

Schwimmen im Strom der Zeit

Schwimmen im Strom der Zeit
Ich schwimme seit ich auf der Welt bin. Die erste große Welle direkt bei der Geburt, durch den Kanal hindurch ans Tageslicht.

Das erste Ziel der Entwicklung erreicht. Ich bin von meiner Mutter dazu gebracht worden, etwas zu beginnen, was man Leben nennt.

Es beginnt mit künstlichem Auf und Ab. Stunden zwischen Mutterbrust, Schlaf und Beobachtung der Welt.

Krabbeln und die Umgebung erkunden, nur unterbrochen vom sorgsam vorbereiteten Bad in der Wanne.

Ein wenig unsicher auf den wackeligen Beinen, vom Menschstrom höflich umrundet.

Plantschen im Bach mit den Spielkameraden, Bau von Dämmen und stolzieren in viel zu großen Gummistiefeln.

Schule. Umgeben von Anderen in meinem Alter, umringt von Lehrern, umsorgt von den Eltern.

Die seichten Wogen der ersten Liebelei. Ein undefinierbares Prickeln, gelegentlich ein paar bislang ungekannte Gedanken.

Steigerung des Wellengangs zwischen euphorischer Begeisterung und tieftrauriger Enttäuschung. Pubertät eben.

Untiefen im Gewässer, immer wieder Gelegenheiten auf Grund zu laufen, in die Loreley vernarrt auf die falsche Bahn zu geraten. Drogen, Alkohol und allerlei illegale Gelegenheiten.

Rollen und Stampfen im Seegang der ersten festen Beziehung, der ersten Stelle, des ersten Ortswechsels.

Mal kurze Beruhigung, ablandiger Rückenwind mit zügiger Fahrt auf das offene Meer hinaus mit all seinen Herausforderungen, Verlockungen, fremden Ländern und Geschichten.

Seitenwind, Gegenwind, Umzug, Beziehungswechsel, neue Stelle, Kind und Kegel.

Böiger Wind aus wechselnden Richtungen, große Fahrt auf freiem Wasser, mal mit stolz in See stechendem Bug, mal mit beängstigender Schlagseite.

Vor Anker gegangen, Taucheranzug an, rein ins Wasser und ein Blick durch die dicke Schwimmbrille auf die Unterwelt.

Nach Verbrauch von reichlich Sauerstoff und umringt von bunten Fischen, giftigen Meeresbewohnern und stacheligen Pflanzen wieder zurück an Deck.

Sanftes Schaukeln, sanfte Brise ohne merklichen Wellengang. Pause, Midlife-Crisis.

Doch dort hinten am Horizont wieder ein Ziel, Anker gelichtet, das Fernglas vor den Augen und wieder Fahrt aufgenommen.

Die Tage kommen, sie gehen, unzählige Nächte mit immer seltsameren Träumen.

Das letzte Stück kann ich auch schwimmen, ich springe wieder mal über Bord, vielleicht habe ich mich bei diesem letzten Ausflug ein wenig verschätzt. Denn gegen den Strom der Zeit kann auch ich nicht schwimmen.