Ich war verdonnert worden, mit Willi zu fliegen. Ihm eilte ein ganz eigener Ruf voraus, er war unbeschreiblich eigenwillig, dabei aber auch unentbehrlich. Aus den Resten der zerstörten Flugzeuge hatte er einen Flieger zusammengeschraubt, den definitiv niemand außer ihm bedienen konnte.
Nun stand er vor mir, musterte mich, kaute auf seiner Unterlippe herum und drehte den Kopf abwechselnd zur Sonne und zu den Hügeln, die unseren Flughafen schützend umgaben. Flugplatz – was für ein Wort für eine Piste, die einige Rekruten mit bloßen Füßen festgetrampelt hatten. Die Reifen seiner Maschine würden ganz schön zu kämpfen haben, die normalen Mechaniker schüttelten den Kopf bei dem Gedanken, hier starten zu wollen.
Unser Auftrag bestand darin, Lebensmittel und Benzin hinter die feindliche Linie zu bringen. Ein Himmelfahrtskommando, wie Willi mit geschlossen Zähnen vor sich hin zischte. Eigentlich sollten wir Waffen transportieren, aber da hatte er sich geweigert. Mit dem ganzen Blutvergießen, dem Morden und überhaupt dem ganzen Krieg wollte er nichts zu tun haben. Dass er überhaupt hier stand, war Druck und Erpressung zu verdanken.
Sie hatten ihn schon an die Wand gestellt, die Burschen hatten auf Befehl angelegt, als selbst dem kopflosen Feldwebel klar wurde, dass das Standgericht dazu führen würde, dass er überhaupt kein Flugzeug mehr in die Luft bekäme. So wurde Willi im wirklich allerletzten Moment begnadigt, der Munitionstransport gesichtswahrend in einen Flug für Treibstoff umgewandelt.
Seinen Willen durchzusetzen, auch wenn er dafür dem Tod ins Auge schauen musste, schien in Willi verankert zu sein. Er schien überhaupt keine Angst vor irgendetwas zu haben, und insofern konnte man seine Entscheidung noch nicht mal unter Androhung der Todesstrafe beeinflussen.
Der geänderte Auftrag war allerdings immer noch verrückt genug und gleich die nächste Gelegenheit, das Schicksal herauszufordern. Die Frontlinie zu überfliegen, mit einer klapprigen Militärmaschine ins unbekannte Land einzudringen und dort auf der Basis unzuverlässiger Karten ein Ziel zu erreichen, war eine kühne Herausforderung.
An den Tragflächen waren an allen möglichen und unmöglichen Stellen Benzinkanister mit Seilen angebunden, im Bug waren Säcke mit Lebensmitteln untergebracht. Wo noch ein bisschen Platz war, waren noch weitere Gegenstände und ein paar Decken hineingestopft. Es herrschte drangvolle Enge rund um den Pilotensitz und den dahinter angeschraubten Sitz für den Copiloten.
„Die Lady“ wie Willi diese Konstruktion aus Blech, Holz und Spannbahnen liebevoll nannte, war damit an der absoluten Lastgrenze. Im Grunde war sie sogar darüber. Mein Angebot, auf das Mitfliegen zu verzichten und so noch mal ein paar Kilogramm Ladung zu ermöglichen lehnte er ab, ohne seine Miene zu verziehen.
Mein Job sollte darin bestehen, die Navigation zu übernehmen. Ich war darin einigermaßen geübt und deshalb für diesen Höllentrip ausgewählt worden. Aber außer meiner Erfahrung und ein paar nahezu unbrauchbaren Karten hatte ich so gut wie keine Hilfsmittel zur Verfügung. Natürlich war Willi auch an dieser Stelle ein zentraler Lieferant, hatte einen zerdrückten Kompass repariert und einen Sextanten gebaut.
Jetzt schlurfte er auf die Lady zu, tätschelte den Motor und zog seine Ledermütze fest. Mit einer Armbewegung bedeutete er mir, dass ich hineinklettern sollte, ich stemmte mich an der Tragfläche hoch, schwang das eine Bein über die Luke und quetschte mich in den Sitz. Karte in die Ledertasche neben mir, den Kompass dazu und den Sextanten wie ein Heiligtum auf den Schoß.
Es wackelte, als Willi sich auch in die Maschine zwängte, jetzt hörte ich auch Schnaufen im Kopfhörer und wie er mir kurz seine Litanei aus Checkup herunterbetete. Von Zeit zu Zeit bewegte sich irgendwas am Flugzeug, mal das Seitenleitwerk, mal die Klappen in den Tragflächen. Die normalen Bremsklappen von anderen Kleinflugzeugen hatte Willi gegen einen Mechanismus aus Start- und Landeklappen von einem abgestürzten Bomber ausgetauscht und behauptete, dass er dadurch besser manövrieren könnte.
Schließlich schien er seine Überprüfung abgeschlossen zu haben, er winkte einen Soldaten herbei und ließ den Motor starten. Der Rolls Royce sprang sofort an, immerhin dies ein Zeichen, dass die Technik möglicherweise funktionieren würde. Einige Minuten standen wir tuckernd auf der Startbahn, Windrichtung Nord-Ost, der Verlauf der Startbahn Nord-West. Nicht gerade ideal, aber es könnte schlimmer sein.
Kaum Zeit für einen Gedanken an das eigene Leben oder die Familie, ging das Rattern und Tuckern in ein Heulen und Pfeifen über. Ich fühlte, wie der Propeller schneller wurde und das Flugzeug langsam voranzog. Die Reifen mussten über den holprigen Untergrund, hoffentlich hielt das Fahrwerk der Belastung aus überladener Maschine und provisorisch geflickten Schlaglöchern stand.
Wir wurden immer schneller, es rappelte und rumpelte, einen Moment wünschte ich, dass ein Bein brach, so dass wir den Flug abbrechen mussten. Aber es wäre nur eine Verschiebung gewesen und wer weiß, vielleicht wären wir mit den ganzen Benzinkanistern auch in Flammen aufgegangen. Jedenfalls passierte nichts dergleichen, plötzlich war das Rumpeln weg, wir hatten abgehoben.
Schwerfällig hob sich die Lady vom Boden, Höhenleitwerk und Startklappen taten was sie konnten, Willi saß vor mir und zog an verschiedenen Seilen und Steuerknüppeln. Eine leichte Kurve direkt über dem Boden, denn wir mussten so bald wie möglich in Gegenwind kommen, damit wir den notwendigen Auftrieb erreichten.
Zwischen den schützenden Hügeln konnte sich die Windrichtung aber mit zunehmender Höhe noch mal ändern, das wäre ganz schön kitzlig, weil es dann knapp werden dürfte, auf die Höhe zu kommen, die wir brauchten, um über die Baumwipfel zu fliegen. Und tatsächlich ging Willi in eine leichte Rechtskurve, korrigierte den Kurs noch mal und ich fühlte, wie wir fast schlagartig an Höhe gewannen.
Einen Moment vergaß ich die verrückte Situation, in der ich mich befand, schaute aus dem Fenster, ließ die Landschaft an mir vorbeiziehen und schaute den im Wind wackelnden Benzinkanistern zu. Die Hügel lagen jetzt immer weiter unter uns, über mir konnte ich die Wolkendecke erkennen, jetzt würde es gleich unruhig werden, die Lady musste sich hindurchkämpfen und würde ganz schön rappeln. Ich zog den Sicherheitsgurt noch mal fest.
Vor mir Willi, seinen Blick konnte ich von hinten nicht erkennen, aber sicher schaute er mit zusammengekniffenen Augen voller Konzentration auf die paar Instrumente und in die weiße Masse vor uns. „Kurs?“ kam durch den Bordfunk. „Zwei Grad steuerbord. Sonst ok.“
Wir blieben dann doch unter der Wolkendecke und flogen eine halbe Stunde weitgehend geradlinig West-Süd-West. Plötzlich ein Knall. Dann noch einer. Zuerst dachte ich an eine Fehlzündung, doch dann wurde mir klar, dass es zwei Einschüsse waren. Wir waren entdeckt worden und mussten mit weiterem Beschuss rechnen.
Das Knallen wurde jetzt häufiger, ich konnte den Geruch von Benzin wahrnehmen, vermutlich hatten sie einen der Benzinkanister getroffen. Willi zog jetzt hoch, die Wolken kamen näher, er flog Schlangenlinien und gleichzeitig Wellen. Mir wurde schlecht. Die immer dünner werdende Luft machte das Atmen schwerer, meine Brust fühlte sich wie eingedrückt an.
Da, wieder ein Knall und diesmal war danach ein Loch im Boden zwischen meinen Füßen, ein paar Zentimeter und es hätte meinen linken Fuß erwischt. Willi arbeitete wie ein Wilder, die Lady wackelte und drehte sich, hoffentlich ein schwieriges Ziel, aber gleichzeitig wurde mir übel. „Reiß dich zusammen!“ ging mir durch den Kopf und der Befehl an meinen Magen, seinen Inhalt zu behalten.
Endlich wurde es ruhiger, aber nur für einen Moment, dann noch mal ein durchdringender Schlag. Ich wusste sofort, das war jetzt nicht gut und trotz festsitzendem Sicherheitsgurt konnte ich mich so weit nach hinten drehen, dass mir der fehlende Teil des Höhenruders ins Auge fiel. Willi zog mit der Startklappe nach, ein Glück, dass er sich diese Konstruktion ausgedacht hatte. Trotzdem bekamen wir Schlagseite und das Erreichen der rettenden Wolkendecke wurde weiter erschwert. An weitere Haken und Kurven war nicht mehr zu denken, in der Luft zu bleiben war schon Herausforderung genug.
Ich atmete tief durch, auch Willi war ganz ruhig und durchstieß jetzt ohne weitere Vorbereitung die Wolkendecke. „Gut“ kommentierte ich über Bordfunk, aber keine Antwort. Es war ruhig, merkwürdig ruhig, zu ruhig. Wir waren auf rund zehntausend Fuß Höhe und stiegen weiter, das konnten wir auf Dauer nicht halten, sonst würde die Luft ohne Sauerstoff irgendwann zu dünn.
Ich schlug gegen den Sitz vor mir. Nichts. Nochmal rüttelte ich an dem Sitz vor mir, brüllte in das Mikrofon, aber vor mir herrschte Stille. Vielleicht hatte er eine der Kugeln abbekommen und hing jetzt schwer verletzt oder sogar tot im Sitz vor mir. Dabei stieg die Lady weiter und weiter, nach meiner Schätzung mussten wir weit über elftausend Fuß erreicht haben, jetzt rutschte die rechte Startklappe langsam in die Tragfläche, die daraufhin absackte und uns in eine Spiralbewegung führte.
Ganz langsam aber unaufhörlich drehte sich der Rumpf um die eigene Achse, wie eine Schraube, die sich in einer Wand vorarbeitet. Ich schlug wieder gegen den Sitz, merkte, wie meine Handgelenke schmerzten und sich trotzdem nichts tat. Mit den Füßen suchte ich in den Streben nach irgendwelchem Halt, immer wieder machte ich unfreiwillig Kopfstand und musste gegen die zurückgedrängte Übelkeit und die Sauerstoffknappheit ankämpfen.
Wir würden sterben, wenn ich nicht irgendwas machte. Beim nächsten aufrechten Sitzen löste ich mutig den Sicherheitsgurt, rutschte nach vorne und zog an Willis rechtem Arm. Wie vermutet hatte er die Schlinge der rechten Startklappe um sein Handgelenk gelegt und ich sah, wie der kleine Blechstreifen sich wieder aus der Tragfläche schob. Sofort hörte die Schraubenbewegung auf, aber wir stiegen weiter.
Ich presste mich fest an den Sitz vor mir, brüllte immer wieder irgendwelche Laute ins Mikrofon in der Hoffnung, Willi aufwecken zu können. Ich ließ seinen rechten Arm los und schnappte mir den linken, drückte in nach vorne, dann ganz schnell wieder zum rechten Arm, auch nach vorne. Mal kippte sie nach links, dann sofort wieder nach rechts. Präzisionsarbeit in einer wackelnden, stampfenden, durch Luftlöcher springenden Maschine.
Aber im Angesicht des Todes lernt man schnell, und wenn es auch nicht wie ein Kunstflug aussah, ging es doch langsam abwärts, durch die Wolken, rappelnd und stotternd, aber abwärts. Die Luft war nicht mehr so dünn, ich fühlte mich etwas besser, auch der Magen gab ein wenig Ruhe. Erst jetzt sah ich, dass ich mich mehrfach übergeben hatte, meine Stiefel waren voll und der scharfe Geruch des Erbrochenen füllte die Kabine.
Diese Situation hatten wir überstanden, aber jetzt wurde mir das nächste Problem klar. Weder konnte ich in dieser Position navigieren, noch das Flugzeug steuern und erst recht nicht landen. Wie sollte ich die handtuchkleine Landebahn finden, wie sollte ich gezielt die Höhe reduzieren, den richtigen Kurs für den Anflug einleiten und am Ende so sanft aufsetzen, dass die Lady nicht komplett auseinanderbrach.
Im Moment wusste ich gar nichts. Weder wo ich war, noch wie ich ans Ziel kommen sollte, noch wie ich steuern sollte, noch wie ich den Boden erreichen sollte, ohne dabei sterben. „Oh Gott, verdammt, verdammt, verdammt.“ Völlig sinnlos und einfach nur verzweifelt ruderte ich weiter mit den Startklappen, schaute auf die Landschaft und brüllte weiter ins Mikrofon.
„Ja?“ kam von vorne. Als wäre nichts gewesen, verschwand die Lederjacke mit den Armen aus meinem Griff, stabilisierte sich das Geschwanke. „Kurs?“ Ich war einen Moment sprachlos, drückte mich zurück auf meinen Sitz, schloss wieder den Sicherheitsgurt, fischte in den Taschen nach Kompass, Sextant und Karte. „Zweiundzwanzig Grad backbord. Vorsicht Hügelkette steuerbord.“ Die Maschine schwenkte deutlich nach links, die beängstigend aufragenden Hügel verschwanden rechts aus meinem Sichtfeld.
Erst mal orientieren, verbleibende Flugzeit nur noch neun Minuten. Ich atmete wieder tief durch, meine Hände schmerzten vom Traktieren des Sitzes, meine Stimme war rau vom dauernden Brüllen, mein linkes Bein musste ich mir bei einem der Überschläge eingeklemmt haben, das Knie dabei wohl verdreht, was ich jetzt erst merkte.
Willi zog noch mal etwas hoch, wir waren bei etwa tausend Fuß und sausten unserem Ziel entgegen. War das da vorne nicht sogar schon die Basis, Willi sank wieder ab, flog einen leichten Bogen, vermutlich um die optimale Anflugrichtung herauszubekommen. Augen zu, war es eine Halluzination, oder eine gestampfte Piste, auf der die Lady aufsetzen sollte.
Sekunden später das Rumpeln der Luft gegen die Landeklappen, das behutsame Aufsetzen der Reifen, erst rechts, dann links, das Bugrad noch eine Weile in der Luft. Die Lady hüpfte und fast dachte ich, jetzt zerbricht sie doch noch, aber sie hielt durch und kam endlich zum Stehen. Einen Moment noch, dann schob ich das Verdeck zurück, wand mich aus dem Sitz und ließ mich aus dem Rumpf gleiten.
Mein linkes Bein war taub, die Lunge schmerzte, meine Arme machten nicht das, was ich von ihnen verlangte. Ungeschickt rutschte ich am Flugzeugkörper herunter und landete recht wüst auf dem Boden. Mein Gesicht lag im Dreck, aber wie schön fühlte es sich an, dass nichts mehr wackelte, dass die Luft sich wieder atmen ließ und ich weitgehend unverletzt war.
Willi war aus der Lady geklettert, klopfte ihren Motor, kam dann zu mir und „Du bist ein Held.“ Aus seinem Mund mehr als ein Orden.