Der Typ mir gegenüber kommt mir irgendwie bekannt vor. Er hat einen dunklen Hoodie an, die Kapuze bis weit ins Gesicht gezogen. Seine Augen kann ich darunter nicht richtig erkennen, fast bilde ich mir ein, dass ich nur Augenhöhlen sehe, aber das kann ja nicht sein.
Er wirkt ein wenig zusammengesunken, neben ihm lehnt ein Stiel am Stuhl, aber von meiner Position aus ist nicht zu erkennen, zu welchem Werkzeug der Stiel gehört. Jetzt beugt er sich vor, aus dem Ärmel ragt eine Hand hervor, die knochigen Finger bewegen sich langsam auf mich zu und scheinen mir zu bedeuten, dass ich mich auch vorbeugen soll.
Ich bin neugierig, schiebe meinen Kopf nach vorne, halte mein Ohr in Richtung seines Mundes. Und richtig, er flüstert etwas, was ich aber erst mal nicht verstehe. Dann wird es lauter und deutlicher: „Ich will dich abholen.“
Etwas irritiert schaue ich ihn an, versuche mich zu erinnern, ob ich ihn schon mal getroffen habe, ob er zu vergessener Verwandtschaft oder Bekanntschaft gehört. Aber in meinem Kopf will der Groschen einfach nicht fallen, er ist mir fremd.
„Ich will dich abholen“, wiederholt mein Gegenüber. „Grundsätzlich gerne“, antworte ich freundlich, „aber ich glaube, wir kennen uns nicht. Jedenfalls kann ich mich beim besten Willen nicht an Sie erinnern. Und ich weiß auch nicht, wohin Sie mich abholen wollen.“
„Du bist zu spät dran, wie immer!“ raunt mir der Fremde zu und dabei rutscht die Kapuze ein wenig nach hinten. Der Schädel ist haarfrei, und ja, er muss blind sein, da er keine Augäpfel hat. Kein besonders attraktiver Anblick und zudem dringt jetzt auch ein unangenehmer Geruch nach überlagertem Fleisch in meine Nase.
Ich denke an die Szene, als ich aus dem Urlaub zurückkam und mein Kühlschrank ausgefallen war. Diese widerliche Erinnerung beschäftigt mich aber nur kurz, denn der Mann kommt jetzt noch näher, „zu spät dran“ wiederholt er, „wieder zu spät dran“.
Sicher, gelegentliche Verspätungen kommen in meinem Leben vor, aber welchen Termin oder welche Verabredung habe ich diesmal verpasst? Mit einem Strahlen im Gesicht lehne ich mich wieder zurück. „Nichts ist so wichtig, dass es nicht einen kleinen Aufschub duldet.“ Und nach einer kleinen Pause: „Was ist schon Zeit? Ein menschliches Konstrukt, in den Industrieländern zum heiligen Gral erklärt, ein Mantra, eine Illusion.“
Ein Blick aus dem Fenster, es ist sonnig draußen, der Sommer scheint langsam Einzug zu halten. „Eine Illusion“ höre ich das Echo von gegenüber, „nein, keine Illusion, pure Realität. Kennst du mich wirklich nicht, weißt du nicht, wer ich bin?“ Steckt da ein wenig Ungläubigkeit in seiner Stimme, ist er gar der Meinung, dass ich ihn nicht ernst nehme?
„Doch, ja“, heuchle ich, „Sie sind bestimmt der göttliche Geist meines Kalenders und eine KI-Instanz als Ergänzung zu den Terminerinnerungen.“ Das Geschöpf sackt in sich zusammen, so als ob es enttäuscht, geradezu entsetzt wäre. Verdammt, wenn es irgendein Influencer, Prominenter, bekannter Performancekünstler wäre müsste ich ihn doch kennen. Aber Fehlanzeige.
„Gut“, höre ich ihn sagen. „Oder schlecht. Ich bin Tod-und-Teufel. Und wollte dir zum Geburtstag gratulieren. Den du wohl mal wieder verdrängt hast.“ – „Och“, sage ich leicht dahin, „das ist ja nett, aber leider habe ich im Moment noch keine Zeit für Typen wie Sie. Deshalb bin ich auch gar nicht darauf gekommen, wer Sie sein könnten. Können Sie das nicht für in ein paar Jahrzehnten in die Wiedervorlage nehmen und wir würden gemeinsam noch mal schauen, ob es besser passt.“
„Ich muss doch um ein wenig mehr Respekt bitten“, grummelt die Figur, zieht die Kapuze wieder fester über den Kopf und stößt versehentlich gegen den Holzstiel, der nun sichtbar in einer Sense endet. „Also gut, ich habe meinen Geburtstag dieses Jahr erst mit zwei Tagen Verzögerung gemeldet, aber das ist doch kein Grund, gleich mit der Sense zu rasseln oder wie man es ausdrückt.“
So gut es mit dem knöchernen Fratzengesicht geht schaut mich der Typ wütend an, nimmt dann seine Sense, springt auf und mit den Worten „habe heute noch viel zu tun, aber wir sehen uns“ sucht er das Weite. Klar, denke ich, natürlich sehen wir uns, aber das hat noch Zeit, viel Zeit, dieses wunderbare menschliche Konstrukt.
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