14 Juni 2024

Rehe ihr!

Rehe ihr
Am Morgen. Die Luft ist noch frisch, so richtig hell ist es noch nicht und ich muss auch noch richtig wach werden. Die Landstraße auf dem Weg zum Bahnhof schlängelt sich durch das Tal, flankiert von Bäumen und Sträuchern, linkerhand auch ein Wasserlauf.

Ein paar Gedanken verirren sich zum Fernsehfilm gestern Abend, es war eine mehr oder wirre Story mit politischer Botschaft und am Ende hat der Held irgendeinen Staat - ich glaube, es war die USA - gerettet. Man merkt ja oft gar nicht, in welcher Gefahr man ist, und wie nötig man die Tom Cruise dieser Welt braucht, damit man nicht untergeht.

Ich schaue wieder konzentrierter auf die Straße, in einigen hundert Metern kommt die Stelle, an der ich schon mehrmals einen kapitalen Hirschen gesehen habe. Und tatsächlich: irgendetwas Tierisches scheint sich dort wieder zu bewegen. Lieber mal langsam, denke ich mir, Tiere sind für Menschen wie mich im Wesentlichen unberechenbar, vielleicht springen gleich mehrere dieser Lebewesen auf die Straße.

Es ist dann doch kein Hirsch, sondern ein Reh. Es geht ganz langsam, geradezu behutsam, zwischen den niedrigen Bäumen auf und ab. Mein Auto scheint es nicht zu stören, es blickt zwar in meine Richtung, aber von Furcht ist nichts zu erkennen. War es nicht so, dass Tiere ohne Impuls zum Weglaufen die Tollwut haben? Im Auto bin ich zwar sicher vor einem wie auch immer gearteten Kontakt, aber es kann doch nicht normal sein, dass das Reh nicht panikartig wegläuft.

Inzwischen ist es auf die Straße stolziert, und tatsächlich kommt jetzt noch ein weiteres Reh hinterher und da noch eins. Ich bleibe stehen und schaue staunend dem größer werdenden Rudel zu. Im Rückspiegel sehe ich ein Auto, das sich recht schnell nähert, dann aber Gott sei Dank die Situation erfasst und hinter mir zum Stehen kommt. Ob die Frau, die ich jetzt im Spiegel erkennen kann auch so fasziniert ist wie ich bleibt noch einen Moment unklar.

Dann öffnet sie die Tür, ich erwarte, dass die Rehe durch das Geräusch Reißaus nehmen, aber sie lassen sich nicht stören. Die Frau ist Mitte Vierzig, hat einen Pferdeschwanz, trägt Business-Kleidung und wirkt mit ihren sportlichen Bewegungen recht trainiert. Sie greift noch mal ins Auto, schaltet den Warnblinker an und kommt dann von hinten auf mich zu. Ich frage mich, was sie will, ob sie mich kritisiert, weil sie natürlich zu irgendeinem wichtigen Termin muss, da ist keine Zeit für ungeplante Aufenthalte oder gar Beobachtungen der Natur.

Tatsächlich tritt sie neben mein Auto, betrachtet immer noch die inzwischen sechs Rehe, die sich jetzt am Straßenrand verteilt haben und sich über das Kraut hermachen. Dann klopft sie an mein Fenster, lächelt freundlich während ich es öffne und zeigt auf das Rudel. Ich lächle zurück, weiß nicht, was ich davon halten soll, warte ab, wie sie das Gespräch eröffnet. Endlich ein "Guten Morgen. Ist das nicht unglaublich, dass sie gar keine Angst haben?"

"Hmja", murmle ich. Einerseits bin ich noch zu schläfrig für eine Unterhaltung, andererseits weiß ich nicht, was ich sagen soll. Das scheint meiner neuen Bekanntschaft durchaus anders zu gehen. "Schauen Sie nur, da kommt ja noch ein Reh dazu, sehen die uns nicht, oder sind sie wirklich so furchtlos?" plappert sie fröhlich vor sich hin. Ich bekomme immerhin ein müdes "Gute Frage" heraus, während ich aus dem Augenwinkel wahrnehme, dass sich ein weiteres Auto nähert. Es ist eine dunkle Limousine, sie fährt um das Auto der Frau herum, hält jetzt neben uns. Der Fahrer schaut uns an, schaut auf die Rehe, schaut wieder auf uns und schüttelt den Kopf. "Mein Gott, seid ihr blöd" scheint sein Gesichtsausdruck zu sagen. Und dann tut er das, was die Frau oder ich hätten machen können. Er betätigt die Hupe.

Wie von einem gefährlichen Tier angegriffen zucken die Rehe zusammen, einen kurzen Moment brauchen sie, um sich zu orientieren und den gemeinsamen Fluchtweg festzulegen. Dann springen sie nach rechts in Richtung Gebüsch und Wald davon und sind nach wenigen Augenblicken im Holz verschwunden. Zufrieden tritt der Fahrer aufs Gas, sein Auto macht einen Satz nach vorne und schon ist er mit fast quietschenden Reifen verschwunden.

Die Frau und ich schauen uns an. "Wie kann man nur?" steht in ihrem Gesicht, ihre Mimik irgendwo zwischen Bedauern und Verärgerung. Das Getute hat mich geweckt, und ich bin ein wenig unglücklich über das plötzliche Ende dieses friedlichen Anblicks und die Erkenntnis, das dieses ungeplante aber irgendwie auch schöne Rendezvous ein Ende hat. "Sollen wir uns morgen wieder hier treffen und den Rehen auflauern?" will ich sie lieber nicht fragen, stattdessen sage ich "Was für ein toller Start in den Tag mit einem jähen Ende" und muss dabei grinsen.

"Ja", gibt die Business-Frau zurück, "willkommen zurück in der Welt ohne Zeit und ohne Genießen der romantischen Einlagen der Natur." Und weiter: "Ich wünsche dir, ähm, Ihnen noch einen schönen Morgen und noch viele Rehe." Etwas seltsamer Satz, denke ich, bestimmt ist sie in Gedanken entweder noch bei dem Rudel, das sich jetzt vermutlich im Wald beruhigt hat oder im Büro, wo irgendwelche Schreibtischarbeit auf sie wartet. Oder es ist der etwas verunglückte Versuch, mit mir in Kontakt zu kommen.

Noch bevor ich etwas erwidern kann hat sie sich schon umgedreht, eilt mit sportlichem Schritt zu ihrem Auto. Ich schaue ihr durch den Rückspiegel zu und muss bei ihrem hin und her schwingenden Pferdeschwanz an die Rehe denken, die mit ihren schönen Bewegungen in den Wald gesprungen sind. So plötzlich, wie sich die Szene entwickelt hat ist sie jetzt wieder leer. Aus der Ferne kommt wieder ein Fahrzeug und ich fahre das Fenster hoch, während ich den Motor starte und meinen Weg zum Bahnhof fortsetze.

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