Sommer 2023 - die fünfte Woche der hessischen Sommerferien geht zu Ende.
Die Frühstückszeit ist vorbei, langsam füllen sich die Liegen rund um den Pool. Es gibt reichlich Möglichkeiten, alle sind mehr oder weniger gleichwertig, entsprechend sehr entspannte Platzwahl. Beim Auspacken meiner Utensilien und dem Eincremen schaue ich einem anderen Paar zu, das sich Liegen im hinteren Bereich zu Recht machen. Recht umständlich, geradezu schwerfällig wie ein großes ungelenkes Tier entleeren sie ihre Tasche und verteilen Handtuch, Cremeflaschen, Sonnenbrillen und Bücher über Tisch und Liegen. Sie hat ein farbloses Strandkleidchen über dem Bikini an, das in keinerlei Kontrast zu ihren ergrauenden Haaren steht. Wie ein Krokodil watschelt sie um die Liege herum, stubst mal den einen, mal den anderen Gegenstand an seinen Platz. Dann schließlich gleitet sie nahezu synchron zu ihrem Partner auf die Liege und vertieft sich in ein Buch, das sie sich auf ihrem Kindle mitgebracht hat.
Stundenlang liegt das menschliche Reptil unter dem Sonnenschirm, Dank e-Paper nahezu bewegungslos nimmt sie das Buch in sich auf. Nicht einmal die träge Bewegung ihres Mannes scheint sie wahrzunehmen, der sich zwischendurch einige Zeit im Pool abkühlt. Die erste bemerkenswerte Bewegung kommt erst auf, als es auf die Mittagszeit zugeht. Sie legt das kleine Gerät zur Seite, prüft ihre Haut auf möglichen Sonnenbrand, oder will sie kontrollieren, ob der Bikini noch richtig sitzt, richtet sich auf und sitzt da wie ein aufmerksamer Vogel, der seinen Hals reckt und aus dieser Perspektive die Umwelt wahrnimmt.
Hoch aufgerichtet, eben scheint sie sich gedanklich vom Buch zu lösen und bestimmt kommt jetzt auch der Hunger in ihr Bewusstsein. Gerade spricht sie ihren Mann an, der nickt und sagt irgendetwas für mich Unverständliches, reckt nun ebenfalls den Hals. Als ob sie den Eindruck einer Schwanenfamilie noch verstärken wollten, legen sie sich jetzt weiße Handtücher um den Oberkörper und machen Anstalten, zur Poolbar aufzubrechen. Ein wenig tapsig durch die Mittagshitze und möglicherweise auch durch den Wechsel von der horizontalen Position zum aufrechten Gang schlurfen sie zum nächstgelegenen Tisch.
Umhüllt von den Handtüchern und jeder eine schwarze Golfmütze auf dem Kopf, sitzen da jetzt zwei Pinguine, studieren die Speisekarte und nippen vorerst an ihren Wassergläsern. Ein ruhiges Gespräch kommt in Gang, ich könnte mir vorstellen, dass sie sich über ihre Menüwahl austauschen. In mein eigenes Buch vertieft bekomme ich die Mahlzeit der beiden Watscheltiere nicht mit, auch den abschließenden Mocca registriere ich nicht. Erst als sie aufstehen, diesmal schon ein wenig lebhafter, die Handtücher im Gehen langsam abstreifen und an ihrer Liege angekommen in den Modus eines Vierbeiners wechseln, fällt mir auf, dass sie sich recht geschmeidig bewegen.
Pünktlich zum Kaffeetrinken verliere ich sie endgültig aus den Augen. Sei es, dass sie zum Strand gelaufen sind, sei es, dass sie sich auf das Zimmer verzogen haben. Erst zum Abendessen tauchen sie wieder auf, sie mit Flipflops unter einem Kleid mit einem Batik-Design, er mit Hawaiihemd über einer karierten Hose. Hat sich ein Künstler hier mit Pinsel und Farbe an zwei Zebras zu schaffen gemacht oder stehen die kräftigen Farben in Korrespondenz zu den festen Schritten, mit denen sie das Buffet abmarschieren?
Weiter passiert nichts Bemerkenswertes, doch die echte Überraschung ergibt sich eine Stunde später, als im Nachgang zum Dinner eine Sängerin in den Raum kommt, Playback-Musik anschaltet und tanzbare Melodien ertönen. Alle Ruhe, Gemütlichkeit, ja geradezu Trägheit ist wie weggewischt, im Mann scheint John Travolta zum Leben zu erwachen, sie streift sich die Flipflops aus. Die nackten Füße berühren die Tanzfläche als wären sie noch nie irgendwo anders gewesen. Ganz bestimmt hätte ich dieser grauen Maus nicht mal ansatzweise diesen rollenden Hüftschwung, diese weichen und doch gezielt gesetzten Schritte, zugetraut.
Wie Raubkatzen schleichen sie umeinander herum, es wirkt wie ein Vorspiel, das in Discofox mündet und die mäßig beleuchtete Tanzfläche in einen Hexenkessel verwandelt. Dieser lendenlahme Mann mit Aussicht auf den Ruhestand rockt mit seiner Lady den Laden, zeigt die Power, die in ihm steckt. Da ist nichts vom Produzieren, nein, die Beiden tanzen einfach voller Leidenschaft, wie eine zweite bis dahin verborgene Seite ihrer Art und ihrer Körper.
Auch andere Gäste sehe ich staunen, manche sogar Beifall klatschen, es geht ihnen vermutlich wie mir, dass wir einfach nur überrascht sind von dieser nicht erwarteten Vorstellung. Die kriechenden Frühstücks-Krokodile sind zu dahineilenden Tanz-Katzen geworden.