Du standst neben mir am Pissoir. Nun ist das an und für sich nichts ungewöhnliches, Menschen müssen gelegentlich auf Toilette, um Urin loszuwerden. Zuerst registrierte ich dich gar nicht, und selbst als ich mich in Richtung Waschbecken umwandte dauerte es einen Moment, bis der Groschen fiel. Wie hätte ich aber auch darauf kommen können, dich zu treffen, hier zu treffen.
Mein Freund Christian hatte mit seinem Vater richtig Glück gehabt. Ein ruhiger Herr mit diskretem Charme, immer freundlich zu uns Jugendlichen und vor allen Dingen: Mit einem Faible für gute Musik. Man könnte ihn als Hifi-Enthusiasten bezeichnen, mit sündhaft teuren Lautsprecherboxen und einem Plattenspieler, dessen Teller mehrere Kilo schwer war. Es versteht sich von selbst, dass wir dieses Heiligtum nicht berühren durften, aber Christian hatte den Vorgänger abgestaubt, ein veritables Stück Technik. Und so trafen wir uns regelmäßig bei ihm, um gemeinsam unsere Schallplatten zu hören und zu diskutieren. War es nun ein Schlagzeugsolo von Roger Taylor, Ausschnitte aus den Vier Jahreszeiten oder die Feinheiten in Stücken von Deep Purple. Zu den besonderen Highlights gehörte „Berlin“ von Barclay James Harvest. Frank hatte das Album gekauft, musste es immer zu Christian mitbringen und wir dudelten es rauf und runter, kopierten es unzählige Male auf Musikkassetten und schauten uns das Cover an. Was für ein Konzert, der Reichstag als Kulisse, knapp 200.000 Besucher, ein herausragender Auftritt von Les Holroyd, live aufsteigend in den Olymp der modernen Musik.
Im September 1997 sah ich dich dann in Neu-Isenburg. Dein wuscheliges Haar war von hinten beleuchtet, umrahmte dein Gesicht und sah aus wie ein Heiligenschein. Egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte den Rest der Bühne, die anderen Musiker kaum erkennen. So etwa muss Jesus ausgesehen haben, außergewöhnlich charismatisch, geradezu hypnotisch. Von dem Mann ging eine beeindruckende Energie aus, unaufgeregt zelebrierte er seine Musik, beeindruckend das Zusammenspiel der Gruppe, die fast wie eine kleine Bigband daherkam. Und selbst die 15 Jahre seit Berlin waren wie weggewischt, und es schien auch keinen Unterschied zu machen, dass gerade mal 2.000 Personen vor dir standen. Die Musik in dir, du und die Musik, eine Einheit.
Jetzt also neben mir, leibhaftig, Mensch gewordene Traumfigur aus meiner Jugend. Ein wenig kleiner, als ich dich in Erinnerung hatte, im nüchternen Licht des WC ein freundlicher Mann, der sich ein wenig erwischt fühlt. „Hello“ sagst du, jetzt fehlen mir die Worte, und noch während ich mir die Hände wasche bist du verschwunden.
Das Konzert begann, wieder mal wundervoll. Ein wenig vom Charisma hattest du verloren – waren es die Jahre, die Beleuchtung, meine Stimmung oder hattest du nicht mehr diese überwältigende innere Energie? Diese Frage beschäftigte mich noch auf dem Heimweg und beim Einschlafen kam mir noch mal die Szene auf der Toilette in den Sinn, so unreal wenn man einen Menschen trifft, den man für unerreichbar hält, von dem man immer gedacht hat, dass er auf einem anderen Stern lebt.
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