30 September 2022

Wie heißt Du noch mal?

Wie heißt Du noch mal
Ich muss mich jetzt konzentrieren, um die Geschichte einigermaßen korrekt zu rekonstruieren. Ganz nüchtern war ich nicht, aber auch nicht so betrunken, dass ich mich nicht mehr an die Szene erinnern könnte.

Aus dienstlichen Gründen musste ich mal wieder einen Vorabend und eine Nacht im Hotel verbringen, der Reiz, den diese Reisen früher für mich gehabt hatten, war längst verflogen. Ein weiteres Hotel, ein anderer Ort, eine austauschbare Fußgängerzone in einer uniformen Stadt – alles schon zu oft gesehen.
Auch die Hotelbar kam mir bekannt vor, obwohl ich sie nie zuvor betreten hatte. Zumindest war mein Cocktail anständig und der Barkeeper spendierte mir freiwillig ein Schälchen Knabberzeug. Es war nicht viel los hier, ein paar Tische besetzt, vorwiegend mit Paaren, die Urlaub verbrachten oder sich auf der Durchreise befanden.

Ebenfalls an der Bar, aber ein paar Stühle von mir entfernt eine Frau Ende vierzig, lange dunkelblonde Haare, schlank, Jeans über Turnschuhen, dazu ein blauer Pulli. Das Gesicht mit blaugrauen Augen ungeschminkt, schmale Wangen umrahmten eine eher kleine Nase. Sie ließ sich einen Campari-Orange machen, ich musste an meine Mutter denken und grinste. Es war wohl Zufall, dass sie ausgerechnet in diesem Moment zu mir herüberschaute und lächelte.
Ein freundliches Nicken, eher höflich als auffordernd, aber sie hatte Unterhaltungsbedarf und schon saß sie auf dem Hocker neben mir, prostete mir zu und verriet mir ihren Namen. Ich schaute aufmerksam in ihr naturschönes Gesicht, sicher war sie mal eine hübsche Frau gewesen, inzwischen hatte sie die beste Zeit hinter sich und strahlte eine innere Traurigkeit aus.

Ich hatte ja ursprünglich alleine an der Hotelbar gesessen, und bestimmt gibt es zahllose Männer, die sich in solchen Momenten weibliche Gesellschaft herbeisehnen. Die über eine Kontaktaufnahme erfreut wären oder auch weiteren Annährungen nicht abgeneigt gegenüber ständen. Aber ich wollte eigentlich nur meinen Cocktail trinken, den Abend beschließen und dann ins Bett gehen. Das störte meine neue Bekanntschaft aber nicht weiter, sie erzählte von ihrem Leben, angefangen bei ihren ersten Freundschaften bis zu ihrer ersten Ehe. Er war ein Versager gewesen, ein Kind hatte er mit ihr, aber dann hatte er nicht weiter mit ihr leben wollen. Auch der zweite Mann war ein Reinfall gewesen, super aktiv, ein Karrieremensch mit Begeisterung für Sport, aber auch für andere Frauen. Den dritten hatte sie dann gar nicht erst geheiratet, was sich als kluge Entscheidung herausstellte.
Männer sind alles Schweine, wie sie mir nach dem dritten Campari-Orange verriet. Mir kam der Verdacht, dass sie meinen Jagdtrieb erwecken wollte. Meinen Ehrgeiz anstacheln um ihr zu zeigen, dass ich anders bin, ein wirklicher Edelmann, reich, liebevoll, treu, charmant, aktiv und so weiter. Aber alles das bin ich nicht, bestenfalls treu. Und genau das kam unserer Liaison massiv in die Quere.

Sie hielt sich ziemlich fest an meinem Arm und ich bildete mir nicht nur ein ihre Hand deutlich unterhalb meines Rückens zu spüren. Enttäuscht war sie, enttäuscht von Männern, von ihren Beziehungen und von ihrem Leben. Es schien ihr Schicksal, dass sich alles wiederholte, jede Zweisamkeit früher oder später im Desaster endete. 
Meine vorsichtigen Einwände, dass es möglicherweise gar nicht an all den bösen Männern, sondern an bestimmten ihr unbewussten Eigenschaften in ihrem eigenen Charakter liegen könnte, wollte sie gar nicht hören. Nein, das Unglück kam von außen und von dort auch immer wieder. Den Traumprinzen zu suchen, immer nur zu suchen und am Ende wieder gehen zu lassen, weil er zwar ein Traum, aber kein Prinz war.

Ich machte mich behutsam los, rutschte von meinem Barhocker und wähnte mich schon in Sicherheit, doch sie schlüpfte ebenso schnell von ihrem Hocker, hakte sich unter und schob mich zum Lift. Ohne mich zu fragen fuhren wir in den dritten Stock und torkelten ihrem Zimmer entgegen. Nein, sagte ich zu ihr, nein, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich liebe meine Zahnbürste und werde sie auch in den nächsten Minuten besuchen.
Ziemlich beleidigt versuchte sie noch mir einen Kuss auf die Wange zu drücken, murmelte Gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmer. Ich atmete auf, war ich doch knapp der Jagd entgangen und sah vor meinem geistigen Auge schon ein Bild von mir an Ihrer Trophäen-Wand hängen. Wenn es ihr nur wirklich wichtig gewesen wäre, aber sie hätte sich vermutlich morgen noch nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern können.

23 September 2022

Sommer, Sonne, Swimmingpool

Ich liege da, es ist so wunderschön warm und der ferne Geruch von sonnenbestrahltem Rosmarin dringt mir in die Nase. Schließe ich die Augen, dann bin ich auf einer fernen Insel, unter Palmen, unter mir weißer Sand und mit wenigen Schritten bin ich in azurblauem Wasser.

Sommer Sonne Swimmingpool
Eigentlich bin ich aber in Deutschland, in meinem Garten im Taunus und verbringe den Sommer etwas unfreiwillig ohne Auslandsreise.

Auch mein spontan eingerichteter Swimmingpool hilft meiner Phantasie weiter auf die Reise. Das kühle Wasser verwandelt sich in die Frische eines Gebirgsbaches, wie auch das Gurgeln des Wasserlaufs mich in die Nähe der Felsquelle führt.

Allein die Sonnenbestrahlung muss ich mir nicht anders vorstellen. Die Wärme und das wohlige Gefühl der Zeitlosigkeit gibt sie mir an jedem Punkt der Erde. Genießerisch drehe ich mich unter ihrem hellen Licht, setze mir eine Sonnenbrille auf und rücke den Sonnenhut zurecht.

Heute Abend geht es zum italienischen Restaurant. Ein wenig Mentalitätswechsel verträgt die Szene ja nun doch. Und bis dahin ist es schon mal ein Urlaubssommersonnentag.

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16 September 2022

Wiesbaden

Wiesbaden Marktkirche Rathaus

Als ich auf gebrochenen Freiersfüßen

Durch Wiesbaden wankte

Auf der Suche nach einem Werkzeug zum Herzzerreißen

Kam mir anlässlich der Sinnkrise eines nicht geworfenen Pflastersteins

Plötzlich die Frage nach der Sinnlichkeit des Lebens.

09 September 2022

Juli Kind (2/2)

[Teil 1]

Ich starre den kleinen Vorhang an, der vor dem Kellerfenster hängt. Vermutlich war er in den letzten Jahrzehnten nicht gewaschen worden, Rauch von Zigaretten, Schweiß vom Tanzen und Parfüm von paarungswilligen Kids haben ihre Spuren hinterlassen. Das Morgenlicht scheint hindurch, ich bilde mir ein Partymusik zu hören oder ist es ein Radio, das im Nachbarhaus spielt?

Mit guter Wahrscheinlichkeit wäre alles so weiter gegangen, die Trennung von Gabi und Jörg, möglicherweise ein Patchwork mit neuen Partnern und ein nach Jahren vorsichtig eingeleiteter Frieden. Doch diese Rechnung wäre ohne Juli gewesen. Unübersehbar war er nach der Grundschule ein kluger, aber auch sehr stiller Bub. Sein Interesse für Mädchen hielt sich in Grenzen, und obwohl er recht begehrt war wollte sich keine Beziehung entwickeln.

Mal hielt Jörg seinen Sohn für spätentwickelt, dann wieder stufte er ihn als Nerd ein, der für Geschlechtlichkeit überhaupt keinen Sinn hat. Selbst die Möglichkeit einer Homosexualität kam ihm heimlich in den Sinn. Aber selbst seine liberale Einstellung wurde auf eine harte Probe gestellt, als Juli mit seinem besten Freund aus einem mehrwöchigen Auslandsaufenthalt als Julia zurückkam.


An dieser Stelle der Geschichte musste Jörg immer wieder schlucken, seine Stimme zitterte ein wenig und ich wusste nicht, ob ich ihm einfach zuhören, ihn in den Arm nehmen oder ihn irgendwie trösten sollte. Im Grunde konnte ich nur bestätigend nicken und ihm versichern, dass die Bekennung zum Geschlecht und der Weg zur Selbstfindung ein wichtiger Abschnitt auf dem Weg durch die Pubertät sind.

Die Morgensonne war nun ganz aufgegangen und tauchte das Kellerzimmer durch den Vorhang in rotes Licht. Die ersten Tanzschritte hatten wir auf dem Teppichboden ausprobiert, schon damals recht fadenscheinig, heute mit unübersehbaren Lücken im Gewebe. Jörg war nie der große Tänzer gewesen, Gabi schon eher und ich hatte keine Gelegenheit ausgelassen, das auszunutzen und ihr beim Diskofox näher zu kommen.

Alle dachten, der Wechsel in die weibliche Rolle wäre ein Befreiungsschlag gewesen und nun sei das Leben im Lot: Fehlanzeige. Eine immer tiefere Traurigkeit erfasste Julia, sie wurde von Mitschülern gemobbt und die Leistungen in der Schule sackten immer weiter ab. In der Freizeit wollte sie nicht nach draußen, zog sich in ihr Zimmer zurück. Die wenigen verbliebenen Kontakte gingen durch dieses Eremitendasein verloren.

Das war die Zeit, in der ich diese Familie auch komplett aus den Augen verlor. Durch meinen Umzug in eine andere Stadt bekam ich nichts mehr von ihnen mit. Das war mir auch ziemlich Recht, weil mir die übertrieben detaillierte Schilderung mancher Dinge unangenehm war. Genauso wenig vermisste ich die ausführlichen Berichte über ihr Seelenleben. Immer mal zu seinem Geburtstag dachte ich an Jörg, aber das war es dann auch.

Julia, so erfuhr ich dann gestern, steigerte sich immer weiter in ihren Kummer, ging tagelang nicht mehr zur Schule und aß nur noch heimlich und nachts. Es war beängstigend, bei aller Dissonanz versuchten Gabi und Jörg, gemeinsam ihr Kind wieder auf die Beine zu bekommen. Vergebens, wie sich herausstellte, denn auf einen misslungenen Versuch folgte ein erfolgreicher Selbstmord. Ob es Tabletten waren oder Gift eine Rolle gespielt hat wurde nicht weiter untersucht.

Ein Leben voller Stolpersteine breitete Jörg vor mir aus, so viel hatten wir gar nicht getrunken, aber alles drehte sich vor mir. Wie konnte denn jede Handlung so schief gehen, jede Aktion in Misserfolg enden und gleich auch noch das Umfeld in Mitleidenschaft ziehen? Fast zärtlich klopfte ich ihm auf den Rücken, versicherte ihm mein Mitgefühl und fragte mich heimlich, ob ich weit genug von ihm entfernt sei, um nichts von seiner Pechsträhne abzubekommen.

Zeit jetzt, sagte ich mir, aufzustehen, den Vorhang zur Seite zu ziehen und die Sonne zu betrachten. Diese schier unerschöpfliche Energiequelle zu bewundern, die seit Menschengedenken jeden Morgen aufgeht und abends mit dem Versprechen untergeht, am nächsten Tag mit neuer Energie zu starten.

02 September 2022

Juli Kind (1/2)

In meine Nase dringt der Geruch von Staub, vermischt mit altem Sofa. Langsam steigt die Erinnerung in mir auf, Jugend vermischt mit der letzten Nacht. Ich hatte mich mal wieder mit Jörg getroffen, nachdem ich ihn aus Zufall und einer vorausgehenden Laune heraus bei Facebook wiedergefunden hatte. Ein wirklich alter Freund, ein halbes Menschenleben haben wir uns nicht gesehen und nach vorsichtiger Kontaktaufnahme hatte sich dann der Wunsch entwickelt, mal wieder einen Abend miteinander zu verbringen.

Jörg war gar kein so ganz enger Freund gewesen, aber als Jugendliche hatten wir doch viel Kontakt miteinander. Es war eher Gabi, die uns verband. Eine süße Blondine, bei der ich es auch versucht hatte, ziemlich hartnäckig sogar, aber sie wollte leider nichts von mir wissen. Anders bei meinem Freund, für den sie merklich schwärmte. Ich war schon mächtig eifersüchtig, wenn die beiden Schmuseblues tanzten und unter der rot umhängten Stehlampe im Partykeller knutschten.

Das ging eine ganze Weile so, aus Liebelei wurde Freundschaft wurde Beziehung. Für mich schien es eine unendlich lange Zeit, in der ich bei jedem Treffen von seiner Gabi erzählt bekam. Dann wurde die Hochzeitsplanung eingeleitet. Die Suche nach der richtigen Location, Catering, Unterhaltung der Gäste, Musik, Getränke, Einladungslisten und Tischordnungen wurden durch endlose Abwägungen zur perfekten Kleidung ergänzt. Und erst die eigentliche Zeremonie mit Gabis Sprung aus dem Rathaus in die Arme von Jörg.

Fast war ich ein wenig erleichtert, als dann endlich die liebevoll ausgeknobelte Einladungskarte kam und die Planung der ängstlichen Vorfreude Platz machte. Der Hochzeitstag war natürlich vom Feinsten, nein, da wurde an keiner Stelle gespart, geradezu krampfhaft sollte es der schönste Tag und überhaupt ein spektakuläres Ereignis werden.

Hatte ich gedacht, diese Geschichte wäre der ultimative Höhepunkt und ab diesem Zeitpunkt könnte Ruhe einkehren hatte ich mich getäuscht. Liefen wir uns in den nächsten Monaten über den Weg bekam ich ausführlich erklärt, wie sie mit ihrem Kinderwunsch umgingen. Die mathematische Berücksichtigung des Zyklus, geeignete Liebespositionen und Details über die gewählten Praktiken waren mir mehr oder weniger peinlich.

Immerhin – im Dezember war es endlich soweit und die Beiden strahlten wie kleine Kinder, als sie in großer Runde über Gabis Schwangerschaft berichten konnten. Für alle armen Kinderlosen gab es noch kostenlose Ratschläge, dabei verwechselten sie munter Offenheit mit Exhibitionismus. Gott sei Dank dauerte aber auch bei diesem Paar die Zeit bis zur Geburt nur neun Monate, prall gefüllt mit der Auswahl eines Kinderwagens, Babyspielzeug, Herrichten eines Zimmers und Organisation von Vorbereitungs- und Säuglingsspielkreisen.

Julius, so sollte der Nachwuchs heißen, genannt Juli, damit er namentlich zwischen dem J von Jörg und dem i von Gabi landete. Dabei störte nicht, dass Juli erst im September zur Welt kam.


All dies zog wieder an meinen Augen vorbei, während ich auf dem alten Sofa im längst stillgelegten Partykeller unter Jörgs Wohnung lag. Ich zog noch mal die Luft ein, der Geruch des in die Jahre gekommenen Polsters war auch durch den aufgelegten Bettbezug wahrzunehmen. War da nicht noch ein anderes Mädchen gewesen, das Jörg schöne Augen gemacht hatte? Ich habe nie verstanden, was die Frauen an ihm attraktiv fanden, weder war er besonders hübsch noch bemerkenswert intelligent. Vielleicht weckte er in der einen oder anderen einen gewissen Jagdtrieb.

Der Name fällt mir nicht mehr ein, aber an die Szene kann ich mich noch erinnern, die sie gemacht hat, weil Gabi ihr angeblich den Rock nachgekauft hatte, so dass sie wie die Zwillinge auf der Party auftauchten. Männer können die Dramatik einer solchen Situation gar nicht recht einschätzen, aus nahezu heiterem Himmel brach ein Streit aus wie der dritte Weltkrieg.

Davon war gestern Abend nicht mehr die Rede gewesen, Jörg berichtete von Erlebnissen in jenen Jahren, die ich in der Ferne verbracht hatte. Juli war kaum auf der Welt, als sich die Spannungen zwischen den Eltern verstärkten. Zank um Kleinigkeiten, Gerangel um Verantwortung, zähes Ringen um jede Entscheidung. Ein weiteres Kind war geplant, aber eine Fehlgeburt beendete den Traum vom Geschwisterchen.

Das wiederholte sich mehrmals, auch ärztlicher Rat und allerlei Therapieversuche führten nicht zum Erfolg. Gabi nahm das sehr mit, die Vorwürfe gegenüber Jörgs vermeintlicher Impotenz nahmen immer seltsamere Facetten an. Doch unabhängig vom Auslöser mussten die Zwei der Tatsache ins Auge schauen, dass sie wohl nur ein Einzelkind haben würden.

Mir gegenüber stritt Jörg heftig ab, seiner Gabi fremdgegangen zu sein. Und auch seine Gattin konnte über Jahre hinweg verhindern, dass ihre heimliche Liebschaft ans Licht kam. Ein sportlicher Junge kickte ein wenig mit Juli, brachte ihn ins Bett und nutzte gerne mal die Gelegenheit, seine Auftraggeberin ebenfalls ins Bett zu begleiten.

Nicht gerade überraschend wurden dann auch der Rosenkrieg und die sich anschließende Scheidung für alle Umstehenden in vollem Umfang ausgelebt. Die sehr subjektive Wahrnehmung jeweils einer Partei und die Liste der Beziehungsmängel nahmen viel Platz in den gemeinsamen Gesprächen ein.

Gabi hat das eigentlich alles gut gemacht, findet Jörg nach Entkorken einer Flasche Wein auf alte Freundschaft. Sie waren zu der Zeit noch jung, konnten noch mal neu ansetzen. Eigentlich hätte man sich einen neuen Partner vorstellen können, aber erst mal ging es nicht, dann war das Kind im Weg und schließlich fehlte im entscheidenden Moment der Mut.

[Fortsetzung: Teil 2]

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