27 Januar 2022

Geiselnahme (2/3)

Ich erwache, weil die Sonnenstrahlen durch die Lamellenvorhänge nicht wirklich aufgehalten werden. Offensichtlich habe ich tief geschlafen, habe nicht mitbekommen, dass auf meinem Tisch jetzt Frühstück steht, Kaffee in einer Thermoskanne. Unverhofft kommt oft, denke ich mir, wasche mich und stürze mich hungrig auf die Brötchen. Niemand kommt, es ist nichts zu hören, ist es eine Zelle oder ein Ort der Meditation? Ich schaue mir die Bücher genauer an. War das Laptop gestern schon dort unten im Schrank? Ich schalte es ein und finde beim Öffnen von Word einige meiner eigenen Texte, dazwischen aber auch fremde Werke. Neugierig beginne ich, die Dokumente zu durchsuchen. Ausschnitte großer Weltliteratur finde ich, Nietzsche, Goethe, aber auch zahlreiche Texte von mir unbekannten Autoren. Es sind schöne Sachen dabei, richtige Schätze der Literatur, als wäre diese Kollektion just für mich zusammengestellt.

Der Morgen verfliegt, ich schmökere in den Texten, stehe manchmal auf, um wieder einen Blick auf den Bücherschrank zu werfen. Auch hier scheint die Auswahl auf mich abgestimmt zu sein. Gegen Mittag erscheint wieder die Frau, freundlich aber wortkarg, sie wolle nicht stören, nur den Lunch bringen, der Meister werde nachher zu Besuch kommen. Der Meister? Bevor ich nachfragen kann, ist sie verschwunden und nach kurzen Überlegungen esse ich, während meine Gedanken wieder in die Bücher eintauchen. Inspiriert klappe ich wieder das Laptop auf, fange an zu schreiben. „Ich habe hier ein Buch, das ich von Ihnen gelesen und neu geschrieben haben möchte“, sagt eine Stimme neben mir. Ich drehe mich zur Seite, der Scharfgesichtige steht da und hält ein kleines Bändchen in den Händen. Den Titel kann ich nicht erkennen, auf dem Cover meine ich eine Bank zu sehen.
„Sie wollen, dass ich ein Buch lese und es neu schreibe?“ Keine besonders intelligente Antwort, „dafür haben Sie mich entführen und hierherbringen bringen lassen?“ Eine Mischung aus Erleichterung aber auch Ärger steigt in mir auf. „Bitte beruhigen Sie sich, wenn wir Sie einfach nur gefragt hätten, hätten Sie noch nicht einmal zugehört, geschweige denn die Aufgabe übernommen. Und bitte betrachten Sie es nicht als Entführung, sondern als einen für Sie ungeplanten Ortswechsel.“ „Aber dieser Aufwand, ich werde von zig Leuten vermisst, die Polizei wird irgendwann auftauchen und dann ist Ihr mieses Spiel zu Ende.“ „Nein, die ganze Sache war von langer Hand geplant, ihr ganzes Umfeld weiß Bescheid, der einzige, der nichts mitbekommen hat, sind Sie. Wir haben es als Auszeit bezeichnet, und selbst Ihre Frau war der Meinung, dass Ihnen das gut tun würde.“
Eine Weile war Stille, das musste ich erst mal verdauen. Da war hinter meinem Rücken von Familie und Freunden also eine Entführung vorbereitet worden, ich wurde ja geradezu aus dem Weg geräumt. Und das unter dem Deckmantel der Literatur. Zugegeben, es passte schon zusammen, die Tagesarbeit laugte mich zunehmend mehr aus und mein neuer Aufenthalt war an und für sich sehr gemütlich. Dennoch fühlte ich mich überrumpelt, zwangsbeglückt, fremdbestimmt. „Sie können jederzeit gehen“, sagte mein Gegenüber im Aufstehen, „aber die Aufgabe können Sie nicht mehr loswerden. Wir werden Ihnen überall hin folgen und selbst in Ihren Träumen präsent sein.“ Ich blickte auf das Laptop vor mir, aus dem Augenwinkel sah ich meinen Gastgeber verschwinden, nachdem er das Büchlein auf die Ecke des Schreibtisches gelegt hatte.

Erst jetzt fiel mir auf, dass das Fenster durch die Jalousie zwar verdunkelt war, durch die Ritzen aber heller Sonnenschein fiel. Ich lief hin, zog an der Verstellung und raffte die Lamellen zur Seite. Tatsächlich bot sich ein Blick auf eine durch und durch grüne Landschaft, vielleicht ein großer Garten, ein Park oder einfach nur bewirtschaftete Natur. Der Anblick lies mich wieder zur Ruhe kommen, ich spazierte durch mein Zimmer, ignorierte dabei aber das Büchlein und stöberte ein wenig im Bücherschrank. Dann wurde ich doch neugierig; ohne weiter auf Titel oder Autor zu achten schlug ich das mitgebrachte Buch auf, Hardcover, große Schrift auf kleinen Seiten. Kapitel eins war schnell gelesen, eine Alltagsgeschichte umrahmte eine dem Autor wichtige philosophische Erkenntnis. Der Grundgedanke gefiel mir, aber die Sprachbilder wollten in meinem Kopf nicht zum Leben erwachen und die Dialoge waren hölzern. Nein, so redet kein Mensch, sagte ich mir, da hat der Scharfgesichtige Recht, das kann man nicht überarbeiten, das muss man neu schreiben.

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21 Januar 2022

Geiselnahme (1/3)

Ich lag zusammen mit den anderen auf dem Boden. Über uns liefen ein paar Männer mit Strumpfmasken herum, fuchteln mit irgendwelchen Waffen. Irgendwie hatte ich mir solch eine Szene immer anders vorgestellt. In einer Bank vielleicht, von mir aus in einem Restaurant. Aber jetzt lag ich auf dem Bauch in Gang 8 eines Baumarktes. Das ist nicht der Ort, um Geld vom Kassierer in Geldsäcke packen zu lassen.
Einer der Gangster hat jetzt einen Zettel aus der Tasche gezogen und beginnt, ihn vorzulesen. Deutsch ist nicht seine Muttersprache, manche Betonungen stimmen nicht, der Akzent lässt osteuropäische Herkunft vermuten. Wir sollen uns keine Sorgen machen, wenn wir uns benehmen, wird uns nichts passieren.
Aber was bedeutet es, sich zu benehmen? Ich meine, aus Sicht eines Gewalttätigen. Und was passiert, wenn wir uns nicht benehmen? Werden wir dann verschleppt, gefoltert, umgebracht? Vorerst liegen wir noch da, keiner wagt, sich zu bewegen, die Männer – wieviele mögen es sein? – stehen ein wenig unschlüssig herum. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch eine vermummte Gestalt dazu kommen. Kurzes Flüstern mit den Anderen, dann spricht er mit barscher Stimme, scharfe Aussprache und keinen Widerspruch duldend. Ich höre meinen Namen. Warum ich? Was, wenn ich mich einfach nicht melde? Wieder mein Name. „Ich weiß, dass du hier bist. Ich weiß, dass du Farbe kaufen wolltest. Steh auf jetzt!“
Zugegeben, das Heldentum überlasse ich gerne anderen Menschen. Aber jetzt beginnt der Anführer, jeden Mann auf dem Boden umzudrehen, ihm ins Gesicht zu sehen und einen Ausweis zu verlangen. Die Frauen hat er mit dem Gesicht zu den Türmen aus Innenwandfarbe aufstehen lassen. Ich schaue mich verstohlen um, keine Chance, zu flüchten, der Gang ist vorne und hinten abgeriegelt, unter das Regal passe ich nicht und überhaupt wird jede Bewegung sorgfältig beobachtet. „Okay“, sage ich mit krächzender Stimme, „ich bin das“
Sofort kommt Leben in den Trupp, die anderen Geiseln spielen keine Rolle mehr, schon habe ich einen Knebel im Mund und ein Tuch über die Augen, stolpere vorangedrängt durch den Gang vermutlich auf den Notausgang zu, denn jetzt wird es kalt und eine Autotür öffnet sich für mich und eine Fahrt mit mir unbekanntem Ziel beginnt.

„Hatten Sie eine angenehme Fahrt, ich meine so angenehm, wie die Umstände es zulassen?“ Vorsichtig wird mir die Augenbinde entfernt und mein Gegenüber entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten und insbesondere den Knebel. „Wir wollen nur reden. Sie sollen für uns eine bestimmte Aufgabe erledigen.“ Das, denke ich mir, hätte diese Mafia doch nun wirklich einfacher haben können. Mir im Baumarkt aufzulauern, mich und ein Dutzend andere Kunden zu bedrohen, möglicherweise schon die Polizei im Nacken. „Sie wollen nur reden?“, etwas verdattert bin ich schon, anscheinend ist diese Geiselnahme völlig anders als ich es immer in den Fernsehfilmen gesehen habe. Und wenn sie genug geredet haben, wie geht es dann weiter? Werde ich dann doch noch ermordet?
Ich betrachte den Mann, der mir am Schreibtisch gegenüber sitzt. Er sieht sehr gepflegt aus, auch wieder abweichend vom Bild, das ich mir von Entführern mache. Scharfe Gesichtszüge und flinke Augen lassen ihn intelligent wirken. Er ist ziemlich gut informiert, kennt ein paar wenig publike Details aus meinem Leben, fragt mich nach Naturwissenschaften und Handwerk. Was will er denn nun eigentlich von mir?

Ich bin jetzt allein in meinem Zimmer, ich denke schon mein Zimmer, dabei bin ich gerade erst unfreiwillig hierhin gekommen. Aber es ist gemütlich, an einer rund vier Meter langen Seite ist ein Bücherschrank, überwiegend psychologische und physikalische Fachliteratur, ein paar Bildbände mit Landschaftsfotografie, ein Musikspieler. Während ich ihn noch betrachte und mich frage, welche Musik er abspielen soll, fällt mir mein Handy ein. Diese Dummköpfe haben vergessen es mir abzunehmen und jetzt kann ich Hilfe herbeiholen und mich befreien lassen. Aber befreien wovon? Ich stecke das Handy wieder zurück in die Tasche. Die Lage ist ungeplant und ich gehe ein Risiko ein, aber im Grunde ist es auch spannend und gar nicht so unangenehm. Wie zur Antwort auf meine Zweifel geht die Tür auf, eine Frau etwa in meinem Alter kommt herein, stellt eine Flasche Wein auf den Schreibtisch, eine Karaffe mit Wasser und ein Glas dazu. Weg ist sie wieder, kein Wort, keine Misshandlung, keine Folterdrohung.

Neben dem Bücherschrank steht in der Ecke ein Klappbett, ich öffne es, gehe hinüber zu einer schmalen Tür und stehe erwartungsgemäß in einem kleinen WC. Es hat sogar ein Fenster, also Angst vor Flucht scheinen meine Entführer nicht zu haben. Oder es ist so einsam, von Hunden bewacht oder aus anderen Gründen völlig aussichtslos? Ich höre auf, darüber nachzudenken, putze mir die Zähne und lasse mich auf das Feldbett fallen, der Wein hat mich müde gemacht.

14 Januar 2022

Emotionale Intelligenz

Was heißt hier emotionale Intelligenz?
Schöpfen Sie aus der Kraft der Gefühle. Sie ergänzen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten.
Auch der EQ ist wichtig für Erfolg – er muss kultiviert werden.
Und rationale Intelligenz alleine ist noch kein Garant für Erfolg.
Auch Emotionen verlangen einen Platz – Sie müssen ihn bereitstellen.
Und Raum schaffen für den gefühlvollen Umgang mit eigenen und fremden Erwartungen.

Sind Sie sich Ihrer Gefühle bewusst?
Vertrauen Sie auf Ihre Intuition. Verborgenes bahnt sich den Weg an die Oberfläche.
Auch die Sinne haben eine Stimme – sie wollen gehört werden.
Und Gefühle kann man zur Sprache bringen, sie sind ein Teil der Kommunikation.
Auch der Körper will sich offenbaren – er lügt nicht.
Und Signale wie Überforderung und Versagensängste müssen ernst genommen werden.

Sind bei Ihnen Gedanken, Worte und Werke im Einklang?
Akzeptieren Sie Ihre Gefühle. Sie sind eine wichtige Ergänzung bei komplexen Entscheidungen.
Auch Gedanken entscheiden über das Glück – Sie können sie steuern.
Und den Umgang mit seinen eigenen Gefühlen kann man üben.
Auch Standortwechsel sind notwendig – neue Perspektiven bereichern.
Und von jedem alten Standort sollten Sie ein positives Erinnerungsbild behalten.

Können Sie sich einfühlen?
Hören Sie genau hin. Dafür haben Sie vier Ohren.
Auch die emotionale Ebene erfährt man – dafür müssen Sie aufmerksam sein.
Und aktives Zuhören ermöglicht das Pacing und Leading.
Auch Sachziele sind oft emotional – das müssen Sie nur erkennen.
Und damit herausbekommen, welche Ziele der Andere wirklich verfolgt.

Kennen Sie Ihre Glaubenssätze?
Geben Sie den Parteien im Kopf eine Bühne. Sie wollen eine Geschichte erzählen.
Auch innerer Widerstreit ist wichtig – mancher will Sie beschützen.
Und jedes vermeintliche Hindernis hat oder hatte einen guten Kern.
Auch Gewohnheiten kann man ändern – wenn Sie die Basis herausbekommen.
Und Verhalten ist ein wichtiger Teil der Außenwirkung.

[Siehe auch: Natürliche Intelligenz, Künstliche Intelligenz]

[Andere Blogs: Interdisziplinäre GedankenDienstliche Glossen] 

07 Januar 2022

Let it Snow!

Getroffen haben wir uns in dieser Hütte, in der wir im Sommer bei den Wanderungen auch immer mal Halt gemacht haben. Ich habe sie für das Wochenende gemietet und ich bin mit dem Auto die kurvige Straße vom Dorf hier hochgefahren, um ein paar Lebensmittel und Utensilien transportieren zu können.

Jetzt sind wir also hier, ein paar Schneeflocken belegen, dass es noch Winter ist. Wir haben den Kamin angeheizt, einen großen Korb mit Holz ins Zimmer geschleppt. Für den Herd habe ich ein paar Briketts mitgebracht, das reicht zur Bereitung einfacher Mahlzeiten, für aufwändige Menüs ist das natürlich nur eingeschränkt geeignet.

Aber das ist auch egal, wir genießen die Ruhe, ziehen unsere Jacken fest zu und laufen um das Haus über die Wiese zum Schuppen. Was bei warmem Wetter ein Treffpunkt für allerlei Tiere ist, liegt bei frostigen Temperaturen eher einsam. Wir füllen zwei Säcke mit Stroh, eine Tüte Heu noch und dann zurück in die Hütte. Die Strohsäcke sorgen für eine urige Atmosphäre, wir hüpfen darauf herum, albern und überlegen, wie wir daraus Betten machen. Das Heu duftet in der Ofenwärme und unterstreicht die Heimeligkeit.

Mittlerweile hat der Schneefall zugenommen, dicke Flocken rieseln durch die Dämmerung. Wir schauen durch die kleinen Fenster nach draußen, zu den Bergen, während hinter uns das Holz im Kamin knistert. Abendessen und Rotwein lockern die Zunge, verstärken den Eindruck der Natur vor der Tür noch mehr. Wir schieben die Säcke zu einer Art Sofa zusammen, liegen händchenhaltend darauf und staunen, woher nur so viel Schnee kommen kann.

 In der Morgendämmerung sieht die Landschaft wie verzaubert aus. Vom Auto ist unter seiner Schneehaube nichts mehr zu sehen, an die eigentlich geplante Abfahrt nicht zu denken. Wir machen eine kleine Inventur und stellen fest, dass wir alle lebensnotwendigen Dinge für mindestens eine Woche haben. Nur mit dem Rotwein müssen wir vielleicht ein wenig haushalten, aber auch ohne Alkohol fühlen wir uns wie benebelt.

Schon ein bisschen verrückt, nach draußen zu stürmen, Laute von sich zu geben und das Echo abzuwarten. Dann die Jacke vom Leib, einfach alles und nackt im Schnee wälzen. Prustend raffen wir die verstreuten Kleidungsstücke zusammen, rutschen zur Hütte und hocken fröstelnd vor dem Holzfeuer im Kamin. Erst nach einer Weile hat es uns wieder aufgetaut, in der Zeit habe ich mit den Briketts auf dem Herd richtig heißes Wasser gemacht. Wir improvisieren aus einer Viehtränke eine Badewanne, eng ist es, wir quetschen uns rein und plantschen wild herum, während die Hitze langsam auch innen ankommt.

Noch mal ein Blick in die inzwischen aufkommende Abenddämmerung: Nein, an Abfahren ist nicht zu denken, das Wochenende muss ungeplant verlängert werden. Ohne Handyempfang kommen wir auch nicht in Versuchung, irgendwen anzurufen und uns abzumelden. Aber im Vorfeld hatten wir unseren Ausflug angekündigt, wer uns vermisst muss halt eins und eins zusammenzählen. Und mit diesem entspannten Gedanken entkorken wir dann doch noch mal eine Flasche, Spaghettiwasser kocht auf, das Abendessen in Sicht, eingenommen auf Strohsäcken, auf halber Berghöhe, unbeschwert.

Nacht ist es inzwischen, die Öllampe ist aus, das Feuer im Kamin glimmt nur noch, in wenigen Stunden wird sich die Kälte durch die Außenwände gearbeitet haben. Wir ziehen die Decke eng um uns, kuscheln uns aneinander und ganz leise singst Du diesen alten Sinatra-Song:

The fire is slowly dying
And, my dear, we're still goodbyin'
Long as you love me so
Let it snow, let it snow, let it snow!