23 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (8/Ende)

Zurück in der Hauptstadt

Langsam wollten wir uns wieder in Richtung Hauptstadt treiben lassen, die letzten Tage unseres Auslandsaufenthaltes im Trubel verbringen und gemeinsam wieder allmählich in unserer gewohnten Form der Zivilisation ankommen.

Symmetrisch zum Eintauchen in die Lebenswelt dieser fremden Zivilisation steigerte sich jetzt wieder langsam der Komfort, den wir in den Dörfern und bei den Unterkünften fanden. Elektrischer Strom war wieder eine Selbstverständlichkeit, Waschmöglichkeiten steigerten sich stufenweise von tuchumhangenen Wasserwannen im Hof über ein Hausbadezimmer bis zu einem Etagenbad mit Dusche. Einerseits war das eine schöne Sache, andererseits entfielen sukzessive unsere gemeinsamen Duschorgien und die improvisierten Chillout-Ecken ohne Beleuchtung.

Zunehmend wurden wir aber auch eher wie Touristen und weniger als Gäste behandelt. Die Wirte waren freundlich, aber das Vermieten der Zimmer, der Verkauf irgendwelcher Souvenirs und mehr oder weniger sinnloser Gimmicks standen für sie im Vordergrund. Schon eine Tagesreise vor der Hauptstadt erreichten die Speise- und Getränkepreise ein ungewohnt hohes Niveau. Es war unübersehbar, dass wir als reiche Goldesel angesehen wurden und entsprechend viel mehr zu zahlen hatten als die Einheimischen um uns herum.

Natürlich war auch das für uns immer noch bezahlbar, die Preise deutlich niedriger als in Deutschland, aber diese Differenzierung und die Erkenntnis, dass der Mehrpreis nicht bei denen ankam, die wirklich bedürftig waren, führte in unserer Gruppe zu lebhaften Diskussionen. Während die Mädchen sich mit dieser Ungleichheit arrangieren wollten erwachte in den Jungs ein gewisser Kampfgeist. Dieses ungerechte System wollten sie nicht einfach hinnehmen. Die Dispute wurden immer feuriger, angeregt von diversen Schnäpsen wurden die wildesten Aktivitäten erwogen, selbst Demonstrationen und Anschläge waren vorübergehend im Gespräch.

Hinter dem Horizont ging es weiter
So weit kam es Gott sei Dank nicht, denn mit Erreichen der Hauptstadt waren wir selbstverständlicher Teil der Touristen, die Einheimischen waren nicht mehr als konkurrierende Kunden, sondern als Gegenseite hinter den Verkaufsständen zu sehen. Irgendwie blieb zwar die Ungleichheit bestehen, wurde vielleicht noch viel größer, für uns aber nicht mehr so deutlich wahrnehmbar.

Wir zogen in ein recht schäbiges Hotel in der Stadtmitte ein und bekamen von einem ziemlich mürrischen Wirt ein paar heruntergekommene Zimmer. Abgesehen vom obligatorischen Deckenventilator, einem Waschbecken und einem pritschenartigen Bett, waren nur ein wackliger Tisch und ein ebenso wackliger Stuhl vorhanden.

Wir ließen uns nicht aufhalten und zogen in den Gassen umher, schauten uns um und tranken Kaffee oder wechselnde alkoholische Getränke. Auch hier gab es wieder viele Kontakte mit den Einwohnern, aber es war ganz anders als auf dem Land. Die beiden Mädchen wurden mehr oder weniger aggressiv angegraben und nur die Gegenwart von uns Jungs schien dafür zu sorgen, dass sie nicht in irgendeine dunkle Gasse gezerrt wurden.

Andererseits wurden wir Jungs von den einheimischen Mädchen umschwärmt. Sie flirteten was das Zeug hielt, wobei wir uns zunehmend fragten, ob unser Aussehen und unsere Art oder eher unser Geldbeutel etwas mit diesen Annäherungen zu tun hatte. Sie ließen sich von den anderen Mädchen unserer Reisegruppe nicht stören, setzten sich ungeniert auf den Schoß und erwarteten eingeladen zu werden.

Allmählich wurde uns klar, was der Gastwirt mit der Zimmerbelegung gemeint hatte. Ohne Zweifel wären die Mädchen gegen ein paar Euro bereit gewesen, uns ins Hotel zu begleiten. Dem hätte höchstens der Wirt im Weg gestanden, der sich aber sicherlich auch mit einem kleinen Geldschein hätte umstimmen lassen.

Wir zogen es vor, unsere Party alleine zu feiern, durchkreuzten die letzten Tage die Stadt, trauten uns aber nicht, uns aufzuteilen. Die weniger aufdringlichen Lokale waren zum Teil recht atmosphärisch und die anderen Gäste amüsierten sich schon darüber, dass wir immer nur als kleine Truppe auftauchten. So kamen wir dann doch noch zu lustigen Gesprächen und langsam verfestigte sich der Eindruck, dass es auch in der Stadt zahlreiche nette Menschen gab.

16 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (7)

Ausklang am Meer

Nach den Wochen der Alleingänge schloss ich mich den anderen Trampern an. Es war eine lustige Truppe, ein bisschen weniger abenteuerlustig als ich, aber immer für eine Party gut. Mit ihrer fröhlichen Art und einer gewissen Spendierfreude waren sie überall willkommen und bildeten nach meiner Phase der einsamen Wanderungen und dem spartanischen Leben bei den Landesbewohnern eine willkommene Abwechslung.

Ganz allmählich neigte sich unser Aufenthalt im fremden Land dem Ende zu. Wir unterhielten uns über die bisherigen Erlebnisse und beratschlagten, was wir mit den verbleibenden Tagen machen wollten. Allzu aktiv sollte es nicht werden, in schöner Umgebung und natürlich irgendetwas Besonderes. Die fünf schwärmten mir von ihrem Aufenthalt am Meer vor, einsam, schön und natürlich in der Hitze auch immer wieder erfrischend. Ein guter Vorschlag, wie ich fand und so machten wir uns im Wechsel von Fußmarsch und Busfahrt auf den Weg. Ein glücklicher Zufall, dass wir schon nach zwei Tagen am Strand waren, ein wunderschöner Abschnitt mit ein paar Bäumen und ziemlich vielen Felsen .

Die ganze Gegend war menschenleer, aber das war uns nur recht, denn wir hatten Vorräte dabei und mit unseren Zelten konnten wir zwischen den riesigen Steinen sogar ein kleines sonnengeschütztes Eckchen aufbauen. Für die Nacht waren wir einigermaßen geschützt und hatten neben den Felsbrocken die Möglichkeit, ein Feuer anzufachen.

Und das taten wir auch, die Sonne war fast untergegangen, ein paar Holzstücke gaben Hitze für das Abendessen und danach schummriges Licht für den Ausklang. Einer der Jungs hatte tatsächlich eine kleine Ukulele in seinem Rucksack und eines der Mädchen ein Liederbuch dabei. Wir amüsierten uns darüber, wie altmodisch das war, aber am Ende ging die Stimmung hoch und wir grölten irgendwelche Lieder aus der Mundorgel.

Hinter dem Horizont ging es weiter 7

Die Tage verbrachten wir mit Schlafen, Schwimmen und dem Ausbau unserer Wohnecke. In der Hitze hatten wir nur das Nötigste an, im Schatten der Felsen und beim Baden ließen wir auch die letzten Hüllen fallen. Es war einfach traumhaft, irgendeiner von der Truppe hatte immer eine Idee für die nächste Aktion, zwar scheiterte unser Versuch, ein Surfboard herzustellen, aber immerhin gelang es uns nach zig Anläufen, einen fünfstöckigen Menschenturm zu bauen.

Unser Gesang an den Abenden wurde immer musikalischer. Recht anspruchsvolle Interpretationen mit mehreren Stimmen hatten das lautstarke Singen der ersten Tage abgelöst. Mit selbstgebasteltem Schlagzeug, einer Art Flöte aus einem Zweig und Geräuschen, die man mit dem Mund erzeugen kann, kam eine durchaus hörenswerte Musik zu Stande.

Die Nächte schauten wir in den Sternenhimmel, erzählten uns mehr oder weniger gruselige Geschichten, kuschelten uns aneinander und schlummerten dann irgendwann ein, um recht früh von der Sonne und der sofort einsetzenden Hitze geweckt zu werden. Wir redeten über alles, von den persönlichen Problemen im Alltag über die Nachhaltigkeit der Gesellschaft, Konsum, Kriege und den deutschen Kapitalismus. Und auch Gespräche über Liebe und Intimität waren im Schutze der Anonymität dieser Gemeinschaft auf Zeit Teil der Unterhaltung.

In der ganzen Zeit kamen nur ein einziges Mal irgendwelche anderen Menschen vorbei, sie waren vielleicht mehr oder weniger überrascht, an dieser einsamen Stelle andere Personen zu treffen, aber sie winkten uns zu und waren kurz danach wieder verschwunden. Anders als befürchtet kamen uns auch keine möglicherweise giftigen oder sonst wie gefährlichen Tiere besuchen.

Ich denke, es war eine gute Woche, die wir meist nackt und unbekümmert herumgetollt hatten. Wir wollten uns vor dem Abflug nicht mehr trennen und entschieden, dass wir uns gemeinsam auf den Weg zur Hauptstadt machen wollten. In aller Gemütlichkeit packten wir unsere Sachen zusammen, verbuddelten unseren wenigen Müll und setzten uns in Richtung Piste und damit der Hoffnung auf einen Bus in Bewegung.

09 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (6)

Traumatisches Erlebnis

Der Überfall lag nun schon einige Tage zurück. Ich hatte Glück gehabt, denn ich war nicht nur unverletzt davon gekommen, auch die befürchtete Verurteilung oder gar Inhaftierung war mir erspart geblieben. In der Siedlung hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen versammelt, alt und jung wie ein repräsentativer Querschnitt der Bewohner. Sie hatten sich die Versionen unserer Geschichte angehört, beraten und waren dann zu dem Ergebnis gekommen meine Ausführungen für glaubwürdig zu halten. Zwar wog das bei mir aufgefundene Messer schwer als Beweis meiner Schuld, gleichzeitig wurde aber das fehlende Motiv berücksichtigt.

Da die beiden Räuber hier unbekannt waren wurden sie mit einem glühend heißen Eisen für ihre Tat gebrandmarkt, dann aber auch medizinisch versorgt und mussten eine Woche ohne Bezahlung für die Kommune arbeiten. Die Einwohner waren weniger überrascht als ich, als sie nach Ablauf dieser Zwangswoche darum baten weiter bleiben zu dürfen, sich jetzt auch offiziell zu ihrer Tat bekannten und versprachen, sie nicht zu wiederholen. Keine Ahnung, wie es weiterging, denn jetzt wollte ich doch endlich mein Abenteuer fortsetzen und mich aufmachen zu neuen Erlebnissen.

Die meisten Wege legte ich jetzt zu Fuß zurück, wanderte von Dorf zu Dorf und Siedlung zu Siedlung. Je nach Strecke gab es auch gar keine Straßen, eher Wege, die man mehr oder weniger komfortabel benutzen konnte. Mangels Karte musste ich mich mehr auf den Kompass verlassen, bewegte mich im Laufe der Wochen insgesamt in Richtung Norden, was ich auch an der zumindest ein wenig nachlassenden Temperatur merkte. Kam ich doch mal an einer Häusersammlung vorbei, die die Einwohner als Stadt bezeichneten, dann konnte ich pausieren und mich orientieren. Meistens gab es dann einige Kilometer weit auch echte Straßen, nach und nach in Wege und schließlich in Pfade übergehend.

Hinter dem Horizont ging es weiter (6)
Auf solch einer Straße war ich unterwegs, die Mittagszeit war schon merklich vorüber und die Sonne stand schon ziemlich tief, so dass sie mich blendete. Vermutlich war das der Grund, warum ich das Auto nicht direkt bemerkte, das neben der Fahrbahn vor einem Baum stand. Es dauerte auch einen Moment, bis ich realisierte, dass das Fahrzeug dort nicht geparkt war, sondern einen Unfall hatte und gegen den Baum gefahren war. Noch einen Moment später begriff ich, dass es Verletzte geben müsste und ich beschleunigte den Schritt, um zu dem Gefährt zu kommen.

Und tatsächlich sah ich jetzt das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Front war komplett eingedrückt, die Windschutzscheibe geborsten und eine Person hing auf dem Fahrersitz mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Auf dem Armaturenbrett war Blut, der Kopf des Fahrers ebenfalls blutig und ein kleines rotes Rinnsal ging von der Stirn über die Wange bis zu den Schultern. Alles sah völlig unwirklich aus, so als ob ich in einem Kinofilm wäre und der Regisseur gleich aus dem Unterholz träte und der Szene ein Ende machte.

Aber es gab keinen Regisseur, alles war echt. Jetzt sah ich, dass der Mann sich ganz leicht bewegte, ich kam näher und überlegte fieberhaft, was ich machen könnte. Ich bin kein Arzt, selbst erste Hilfe hatte ich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr angewendet. Beim Öffnen der Tür kam mir der Oberkörper entgegen, er war nicht angeschnallt gewesen und war beim Zusammenstoß mit dem Baum mit seinem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt. Jetzt lag er mir in den Armen, der ganze Körper völlig schlaff, ich legte meine Arme um seinen Brustkorb und ein leichtes Wimmern machte mir klar, dass auch dort vermutlich einiges kaputt gegangen war.

Trotzdem schleppte ich ihn aus dem Auto, legte ihn auf den Boden und überlegte hektisch, wie ich Hilfe bekommen sollte. Ich rekapitulierte die Verletzungen, Rippenbrüche wären ja erst mal nicht so schlimm, aber da könnten innere Verletzungen hinzukommen, dann aber insbesondere auch der mächtig angeschlagene Kopf. Immer noch tropfte Blut, jetzt sah ich auch, dass es nicht nur eine Platzwunde war, sondern der Schädel selbst verletzt war. In diesem Moment machte der Mann den Mund auf, auch die Augen öffneten sich ein Stückchen. Er rang nach Luft, dann kamen Laute aus seinem Mund, die ich allerdings nicht verstehen konnte.

Panik stieg in mir auf. Was konnte ich bloß machen, die Wunde versorgen, aber womit? Oder vielleicht irgendwie bequem lagern und loslaufen, um Hilfe zu holen. Aber selbst wenn ich das nächste Dorf erreichte hieß das ja nicht unbedingt, dass dort so etwas wie ein Arzt war. Der Verbandskasten kam mir in den Sinn und ich legte ganz vorsichtig den Kopf auf dem Boden ab, um zum Auto zu laufen. Der Mann fing jetzt an lauter zu stöhnen, ich war hin- und hergerissen zwischen Dableiben und Verbandszeug holen.

Wieder machte er den Mund auf, flüsterte irgendetwas in fremder Sprache, es war mehr ein Gurgeln als ein Sprechen. Ich lief zum Auto und suchte nach Verbandsmaterial, natürlich ohne Erfolg. Als ich wieder zu dem Mann zurückkam hatte er sich ein kleines Stück gedreht, jetzt lief auch aus seinem Mund Blut heraus, es war ein furchtbarer Anblick. Und diese Hilflosigkeit, die in mir aufstieg, ich schaute ihn an, ganz klar, er lag im Sterben und ich konnte nichts mehr tun, als ihm dabei zuzusehen. Er holte rasselnd Luft, wieder und wieder, die Zeit schien stillzustehen.

Ich setzte mich auf den Boden, nahm ganz vorsichtig seinen Kopf vom Boden und legte ihn auf mein Bein. Vorsichtig streichelte ich ihn und fing an, ein Kinderlied zu singen. Nichts besseres fiel mir ein. Mit schweren Lidern öffnete er nochmals seine Augen, schaute mich an, ich glaube, er wollte wieder etwas sagen, aber diesmal kam kein Laut mehr aus ihm heraus. Er schaute mich an, vielleicht versuchte er in seinen Schmerzen zu lächeln, der Mund verzog sich ein wenig, aber das war schon alles.

Es musste doch irgendetwas geben, was ich tun konnte. Irgendwas. Aber mir fiel nichts ein, obwohl ich krampfhaft in meinem Gedächtnis kramte. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich einfach nicht helfen konnte, bestenfalls noch die letzten Minuten seines Lebens begleiten. Noch einmal zuckte er, versuchte wohl den Kopf zu bewegen, was ihm aber nicht gelang. Seine Beine bewegten sich noch einmal, dann kehrte Ruhe ein. Ich schaute ihn an, legte mein Ohr an seinen Mund, aber da war nichts mehr zu hören. Mit nervösen Fingern griff ich den Arm, doch da war kein Puls mehr, hatte ich vielleicht an der falschen Stelle probiert, nein, der Puls war weg.

Einen Moment blieb ich noch so sitzen, einen leblosen Körper in meinen Armen, ein Toter, wie mir klar wurde. Es lief mir kalt den Rücken herunter, trotz der Hitze fing ich an zu frösteln. Unendliche Minuten später hatte ich mich gefangen, zog den Leichnam vorsichtig wieder zum Auto, zerrte ihn auf den Rücksitz und drückte alle Türen zu. Nochmal hielt ich mein Ohr an seinen Mund, tastete ich nach seinem Puls - er war tot, das konnte auch ein Laie wie ich sicher feststellen.

Was für ein verstörendes Erlebnis. Noch nie hatte ich einen Toten so nah gesehen, noch nie einen Sterbenden in den Armen gehalten. Mich noch nie so hilflos gefühlt. Und alles in der Fremde, alleine. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, es war wohl eher ein Automatismus, der mich zum nächsten Dorf führte. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass mir die Einheimischen sofort ansahen, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Sie rannten auf mich zu, belagerten mich und bestürmten mich mit Fragen. Kaum hatten sie von meinem furchtbaren Erlebnis erfahren machte sich eine Handvoll Männer auf den Weg, um Auto und Fahrer zu holen.

Dann flößten sie mir irgendeinen hochprozentigen Schnaps ein, trösteten mich und versuchten, mich auf andere Gedanken zu bringen. Völlig im Tran von Alkohol und Erschöpfung verlor ich langsam mein Bewusstsein und kam erst am nächsten Morgen wieder zu mir, diesmal selbst in den Armen einer alten Frau, die mir zärtlich durch das Haar strich und auf mich in ihrer Sprache immer wieder mit "mein liebes Kind, mein armes Kind" einredete. Als sie sah, dass ich meine Augen öffnete strahlte sie mich an, sprang auf und verschwand eilig aus dem Zimmer. Um im nächsten Moment mit einer Gruppe junger Leute zurückzukommen, die sich als die deutsche Reisegruppe vom Anfang meiner Reise entpuppte.

Das war eine schöne Überraschung, sofort kam ich auf andere Gedanken, während mir die fünf von ihren Erlebnissen erzählten. Nein, weder einen Überfall noch einen Autounfall hatten sie erlebt, aber am Meer waren sie gewesen, hatten dort relaxt, viele Einheimische kennengelernt und schließlich auch in der Oase gearbeitet. Den Rest des Tages verbrachten wir mit zunehmend mehr Alkohol im Blut, der uns die Hitze vergessen ließ, die zur Mittagszeit zunahm, um zum Abend wieder langsam nachzulassen.

[Episolde 7 -> Ausklang am Meer]

02 August 2024

Hinter dem Horizont ging es weiter (5)

Überfall

Die grüne Lunge der Gegend war eine bemerkenswerte Ausnahme, weder breitete sich die hier anzutreffende Fauna weiter aus, noch hatten die Einwohner den Antritt, diese fruchtbare Parzelle zu verlassen. Ich empfand die Gegend wie eine eigene Welt, mehr noch als irgendwo anders hatte ich das Gefühl, mich vorübergehend in einem Traumland zu befinden.

Nach einer Woche hatte sich nichts an meiner Faszination geändert, bewunderte ich die real gelebte Gemeinschaft, die eine bemerkenswerte Balance zwischen Freiheit und Gleichtakt anbot. Doch trotz dieser arbeitsamen Geselligkeit zog es mich weiter, denn ich wollte auch noch andere Ecken des Landes kennenlernen. Dazu kam, dass hier die Moskitos ziemlich aggressiv waren und die Hitze einer Schwüle wich, was den Aufenthalt geradezu unerträglich machte.

Ein Bus war in den nächsten Tagen nicht zu erwarten, obwohl natürlich das Kommen genauso wenig abzusehen war wie das Nicht-kommen. Aber es war mir egal, ich organisierte mir ein paar Lebensmittel, füllte meine Flasche und wuchtete mir den Rucksack auf den Rücken. Nicht zurück Richtung Meer, sondern wieder ins Landesinnere, was allerdings auch bedeutete, dass es wieder trockener und heißer werden dürfte. Egal, mit dem Tuch, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte konnte ich einem Hitzschlag schon entgehen und wenn ich mich an der Piste orientierte musste früher oder später wieder irgendeine Siedlung oder ähnliches kommen.

Langsam stieg die Sonne am Himmel auf, wie erwartet wurde es heißer und heißer, mein Shirt war gewohnt verschwitzt, der Rucksack auf dem Rücken war der einzige Schutz vor den glühenden Sonnenstrahlen. Ich schaute meinem Schatten zu, der mich auf der Seite des Weges begleitete und dachte über diese merkwürdige Kommune nach, in der ich einige Tage verbracht hatte. Alle waren gleich, aber doch individuell, als zentrales Ziel schien sie die gemeinsame Suche nach einem zufriedenen Leben zu verbinden.

Auf der ständigen Suche nach Verbesserung, nach Karriere und Weiterkommen wäre solch ein Modell in Deutschland gar nicht denkbar. Wie unterschiedlich die Grundeinstellung der Menschen ist, wie sich Kultur und Führungsform gegenseitig beeinflussen. Und wie naiv man sein muss, wenn man einen bestimmten Umgang miteinander mit einer nicht dazu passenden Regierung verbinden will. Missionarisch und selbstherrlich kommen mir diese Ansätze vor.

Noch tief in diese Gedanken vertieft stand auf einmal ein junger Mann vor mir. Ich hatte ihn gar nicht gesehen, vielleicht weil ich gerade durch eine kleine Buschansammlung unterwegs war. Er musste im Verborgenen hinter einem der kargen Sträucher gehockt haben, jedenfalls war ich ein wenig überrascht, dass er plötzlich auf dem Weg vor mir auftauchte. Er hatte etwa meine Größe und Statur, ein ehemals weißes durchgeschwitztes T-Shirt an, sandalenartige Latschen und eine abgeschnittene Jeans.

Er schaute mir ins Gesicht, nicht unfreundlich begrüßte er mich. Wie es mir ginge, woher ich käme und ob wir uns nicht im Schatten ein wenig unterhalten wollten. Ich hatte alle Zeit der Welt, warum nicht mit einem Einheimischen klönen, zumal ich ohnehin eine Mittagspause einlegen wollte. Ich nahm meinen Rucksack ab und folgte ihm zu dem Gebüsch, das sich als recht dicht und damit schattenspendend herausstellte.

Eine Weile unterhielten wir uns, wir sprachen über Heimat, Hitze und Arbeit. Während wir uns mehr oder weniger intensiv austauschten und immer mal wieder an unseren Wasserflaschen zogen, gab es auf einmal eine Bewegung im Gebüsch hinter mir, und bevor ich mich versah drückte sich eine Person an meinen Rücken und drückte mir einen kalten Gegenstand an den Hals, ein Messer, wie mir schlagartig klar wurde. Ich war wie versteinert. Offensichtlich war ich einer Bande von Dieben in die Hände gefallen. Was tun?

Jetzt fühlte ich feuchten Atem in meinem Nacken, "Bitte, dein Geld." - Es war eine höfliche Bitte, gar kein wild ausgestoßener Befehl. Einen Moment nichts, dann wieder dieses "Bitte, dein Geld!", wobei das Wort Bitte mit einem Druck auf das Messer betont wurde. Ich saß auf meinem Rucksack, so dass ich erst aufstehen musste, um irgendetwas herauszugeben. Das erkannte auch der Mensch hinter mir und ließ es zu, dass ich ganz langsam aufstand. Dabei merkte ich, dass er sich recken musste, um mit dem Messer immer noch an meinen Hals zu kommen. Er musste als kleiner sein als ich. Im Zeitlupentempo richtete ich mich auf, drehte mich ein wenig zur Seite und konnte jetzt den Widersacher erkennen. Es war nur eine Person, nicht sonderlich muskulös, aber immerhin bewaffnet. Zudem sein Kumpan, der mich in das Gespräch verwickelt hatte. Zwei Gegner, resümierte ich und überlegte, ob ich das Geld herausgeben musste.

In Voraussicht solcher Erlebnisse hatte ich in meinem Rucksack zwei Geldbörsen, eine davon war tief in einer zugenähten Innentasche verborgen. In der anderen war nur ein wenig Tagesgeld, das hätte ich notfalls entbehren können. Andererseits wollte ich auch das nicht gerne hergeben und es war auch nicht klar, ob sie mich nach dem Raub einfach weiterziehen lassen würden. Da ich ansonsten ehrliche Menschen erlebt hatte und wir mitten auf dem Land waren, würden sie es vermutlich nicht riskieren, dass ich in der nächsten Siedlung von ihnen erzählte und sie dabei auch noch beschreiben konnte.

Während ich mich ganz langsam zu meinem Rucksack herunterbeugte musste ich aufpassen, dass das scharfe Messer nicht mehr als die bisher schon entstandene Schnittwunde an meinem Hals hinterließ. Jetzt keine ruckartigen Bewegungen, dachte ich und überlegte gleichzeitig, was ich dem Angriff entgegnen könnte. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass mein Gesprächspartner immer noch auf dem Boden hockte und keine Anstalten machte, sich in den Überfall einzumischen. Und zumindest im Gebüsch neben mir konnte ich keine weiteren Personen wahrnehmen. Also im ersten Moment nur ein Gegner, direkt danach dürften es dann zwei sein.

Ein paar Jahre lang hatte ich Jujutsu gemacht, aber das war schon eine Weile her. Weder war ich trainiert noch hatte ich die Techniken gut in Erinnerung. Sollte ich es wagen, mich aus dem Gedächtnis heraus auf eine Messerabwehr einzulassen, die ich seinerzeit mal im Training geübt hatte? Konnte ich mich mit den eingerosteten Bewegungen und halbvergessenen Schlägen und Tritten gegen zwei Personen wehren? Lief es schief, war ich mindestens verletzt, vielleicht schwer, schlimmstenfalls sogar tot. Lief es gut hatte ich da zwei Personen liegen, mit denen ich nichts anfangen konnte.

War es der Sportsgeist, eine gewisse Verzweiflung oder schlicht der Impuls des erneut gegen meinen Hals gedrückten Messers? Jedenfalls lief ab diesem Moment irgendein wahrscheinlich aus lange vergangenen Trainingszeiten programmierter Ablauf an. Ein beherzter Tritt auf seinen Fuß zur Ablenkung, das drehende Durchtauchen unter dem Messer und der Hebel, mit dem ich ihm den rechten Arm auf den Rücken drehte waren wie eine Bewegung.

Schon lag mein Gegner auf dem Boden, ich über ihm, fixierte seinen Arm und hatte sein Messer in der Hand. Er war völlig überrumpelt, hatte nicht mit meiner Gegenwehr gerechnet und versuchte nun, sich aus meinem Griff zu befreien. Auch in seinen Kumpel kam jetzt Bewegung, er sprang auf, wich aber zurück als ich mit dem Messer auf den unter mir liegenden Körper zielte und ihn anfauchte, dass er sich auf den Boden werfen solle.

Für ein paar Sekunden schien ich die Situation unter Kontrolle zu haben, aber dann wurde mir klar, dass ich das Problem nur verschoben hatte. Wie sollte ich mich alleine gegen zwei Personen wehren, ich konnte ja nicht unbegrenzt auf dem einen hocken und den anderen in Schach halten. Vielleicht konnte ich die beiden mit Verbandsmaterial aus meinem Rucksack fesseln, aber wie sollte das gehen?

An dieser Stelle kam mir der Zufall zur Hilfe. In weiter Entfernung in der Richtung aus der ich gekommen war, war eine Staubwolke zu sehen, die zügig näher kam. Es musste der Bus sein, der von der Grünsiedlung kommend diese Piste entlanggefahren kam. Tatsächlich, es war Bus, wie sich beim Näherkommen herausstellte, auf die Unzuverlässigkeit des Fahrplans war Verlass.

Die spontane Erleichterung wich schnell einer neuen Furcht, denn wie musste man eine Szene interpretieren, in der ein Ausländer mit einem Messer in der Hand auf einem Einheimischen sitzt und dessen Freund bedroht. Natürlich würden die zwei eine ganz andere Geschichte erzählen, sich gegenseitig bezeugen und mich als Täter darstellen.

Wenige Meter vor uns kam der Bus zum Stehen, ein paar kräftige Männer sprangen heraus, entrissen mir das Messer und hielten uns drei fest. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir von einer Menschentraube umringt, alle redeten durcheinander und riefen sich gegenseitig Befehle zu, wie es weitergehen sollte.

In dem Durcheinander wurde auch ich zu Boden gedrückt, Dreck in Mund und Nase ließen mich schwer atmen, dazu die Hitze, vielleicht auch zu wenig Flüssigkeit und ein Anflug von Sonnenstich führten zu Sternchen vor meinen Augen. Meine Kraft ließ nach, ich wollte einfach raus aus diesen wechselnden Todesängsten.

Möglicherweise hatte ich einen kurzen Filmriss. Denn gefühlt im nächsten Moment saß ich im Bus, vor mir ein bemerkenswert hässlicher junger Mann mit übergroßer Nase und schiefen Zähnen, die er mir jetzt in einer Art Lächeln zeigte. „Guter Mann!“ sagte er zu mir und jetzt konnte ich mich auch wieder erinnern, dass wir vor ein paar Tagen zusammen in der Grünsiedlung gearbeitet hatten. Wir hatten Handwerkstipps ausgetauscht und ich hatte ihm ein paar Brocken deutsch beigebracht.

Von meinen beiden Widersachern sah ich nichts, aber ich bekam mit, dass der Bus langsam und umständlich wendete, während die Fahrgäste nach und nach wieder einstiegen. Offensichtlich war das Ziel geändert worden und wir schienen wieder zurück zu der Siedlung zu fahren, in der ich die vergangenen Tage verbracht hatte.

[Episode 6 -> Traumatisches Erlebnis]