Die grüne Lunge der Gegend war eine bemerkenswerte Ausnahme, weder breitete sich die hier anzutreffende Fauna weiter aus, noch hatten die Einwohner den Antritt, diese fruchtbare Parzelle zu verlassen. Ich empfand die Gegend wie eine eigene Welt, mehr noch als irgendwo anders hatte ich das Gefühl, mich vorübergehend in einem Traumland zu befinden.
Nach einer Woche hatte sich nichts an meiner Faszination geändert, bewunderte ich die real gelebte Gemeinschaft, die eine bemerkenswerte Balance zwischen Freiheit und Gleichtakt anbot. Doch trotz dieser arbeitsamen Geselligkeit zog es mich weiter, denn ich wollte auch noch andere Ecken des Landes kennenlernen. Dazu kam, dass hier die Moskitos ziemlich aggressiv waren und die Hitze einer Schwüle wich, was den Aufenthalt geradezu unerträglich machte.
Ein Bus war in den nächsten Tagen nicht zu erwarten, obwohl natürlich das Kommen genauso wenig abzusehen war wie das Nicht-kommen. Aber es war mir egal, ich organisierte mir ein paar Lebensmittel, füllte meine Flasche und wuchtete mir den Rucksack auf den Rücken. Nicht zurück Richtung Meer, sondern wieder ins Landesinnere, was allerdings auch bedeutete, dass es wieder trockener und heißer werden dürfte. Egal, mit dem Tuch, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte konnte ich einem Hitzschlag schon entgehen und wenn ich mich an der Piste orientierte musste früher oder später wieder irgendeine Siedlung oder ähnliches kommen.
Langsam stieg die Sonne am Himmel auf, wie erwartet wurde es heißer und heißer, mein Shirt war gewohnt verschwitzt, der Rucksack auf dem Rücken war der einzige Schutz vor den glühenden Sonnenstrahlen. Ich schaute meinem Schatten zu, der mich auf der Seite des Weges begleitete und dachte über diese merkwürdige Kommune nach, in der ich einige Tage verbracht hatte. Alle waren gleich, aber doch individuell, als zentrales Ziel schien sie die gemeinsame Suche nach einem zufriedenen Leben zu verbinden.
Auf der ständigen Suche nach Verbesserung, nach Karriere und Weiterkommen wäre solch ein Modell in Deutschland gar nicht denkbar. Wie unterschiedlich die Grundeinstellung der Menschen ist, wie sich Kultur und Führungsform gegenseitig beeinflussen. Und wie naiv man sein muss, wenn man einen bestimmten Umgang miteinander mit einer nicht dazu passenden Regierung verbinden will. Missionarisch und selbstherrlich kommen mir diese Ansätze vor.
Noch tief in diese Gedanken vertieft stand auf einmal ein junger Mann vor mir. Ich hatte ihn gar nicht gesehen, vielleicht weil ich gerade durch eine kleine Buschansammlung unterwegs war. Er musste im Verborgenen hinter einem der kargen Sträucher gehockt haben, jedenfalls war ich ein wenig überrascht, dass er plötzlich auf dem Weg vor mir auftauchte. Er hatte etwa meine Größe und Statur, ein ehemals weißes durchgeschwitztes T-Shirt an, sandalenartige Latschen und eine abgeschnittene Jeans.
Er schaute mir ins Gesicht, nicht unfreundlich begrüßte er mich. Wie es mir ginge, woher ich käme und ob wir uns nicht im Schatten ein wenig unterhalten wollten. Ich hatte alle Zeit der Welt, warum nicht mit einem Einheimischen klönen, zumal ich ohnehin eine Mittagspause einlegen wollte. Ich nahm meinen Rucksack ab und folgte ihm zu dem Gebüsch, das sich als recht dicht und damit schattenspendend herausstellte.
Eine Weile unterhielten wir uns, wir sprachen über Heimat, Hitze und Arbeit. Während wir uns mehr oder weniger intensiv austauschten und immer mal wieder an unseren Wasserflaschen zogen, gab es auf einmal eine Bewegung im Gebüsch hinter mir, und bevor ich mich versah drückte sich eine Person an meinen Rücken und drückte mir einen kalten Gegenstand an den Hals, ein Messer, wie mir schlagartig klar wurde. Ich war wie versteinert. Offensichtlich war ich einer Bande von Dieben in die Hände gefallen. Was tun?
Jetzt fühlte ich feuchten Atem in meinem Nacken, "Bitte, dein Geld." - Es war eine höfliche Bitte, gar kein wild ausgestoßener Befehl. Einen Moment nichts, dann wieder dieses "Bitte, dein Geld!", wobei das Wort Bitte mit einem Druck auf das Messer betont wurde. Ich saß auf meinem Rucksack, so dass ich erst aufstehen musste, um irgendetwas herauszugeben. Das erkannte auch der Mensch hinter mir und ließ es zu, dass ich ganz langsam aufstand. Dabei merkte ich, dass er sich recken musste, um mit dem Messer immer noch an meinen Hals zu kommen. Er musste als kleiner sein als ich. Im Zeitlupentempo richtete ich mich auf, drehte mich ein wenig zur Seite und konnte jetzt den Widersacher erkennen. Es war nur eine Person, nicht sonderlich muskulös, aber immerhin bewaffnet. Zudem sein Kumpan, der mich in das Gespräch verwickelt hatte. Zwei Gegner, resümierte ich und überlegte, ob ich das Geld herausgeben musste.
In Voraussicht solcher Erlebnisse hatte ich in meinem Rucksack zwei Geldbörsen, eine davon war tief in einer zugenähten Innentasche verborgen. In der anderen war nur ein wenig Tagesgeld, das hätte ich notfalls entbehren können. Andererseits wollte ich auch das nicht gerne hergeben und es war auch nicht klar, ob sie mich nach dem Raub einfach weiterziehen lassen würden. Da ich ansonsten ehrliche Menschen erlebt hatte und wir mitten auf dem Land waren, würden sie es vermutlich nicht riskieren, dass ich in der nächsten Siedlung von ihnen erzählte und sie dabei auch noch beschreiben konnte.
Während ich mich ganz langsam zu meinem Rucksack herunterbeugte musste ich aufpassen, dass das scharfe Messer nicht mehr als die bisher schon entstandene Schnittwunde an meinem Hals hinterließ. Jetzt keine ruckartigen Bewegungen, dachte ich und überlegte gleichzeitig, was ich dem Angriff entgegnen könnte. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass mein Gesprächspartner immer noch auf dem Boden hockte und keine Anstalten machte, sich in den Überfall einzumischen. Und zumindest im Gebüsch neben mir konnte ich keine weiteren Personen wahrnehmen. Also im ersten Moment nur ein Gegner, direkt danach dürften es dann zwei sein.
Ein paar Jahre lang hatte ich Jujutsu gemacht, aber das war schon eine Weile her. Weder war ich trainiert noch hatte ich die Techniken gut in Erinnerung. Sollte ich es wagen, mich aus dem Gedächtnis heraus auf eine Messerabwehr einzulassen, die ich seinerzeit mal im Training geübt hatte? Konnte ich mich mit den eingerosteten Bewegungen und halbvergessenen Schlägen und Tritten gegen zwei Personen wehren? Lief es schief, war ich mindestens verletzt, vielleicht schwer, schlimmstenfalls sogar tot. Lief es gut hatte ich da zwei Personen liegen, mit denen ich nichts anfangen konnte.
War es der Sportsgeist, eine gewisse Verzweiflung oder schlicht der Impuls des erneut gegen meinen Hals gedrückten Messers? Jedenfalls lief ab diesem Moment irgendein wahrscheinlich aus lange vergangenen Trainingszeiten programmierter Ablauf an. Ein beherzter Tritt auf seinen Fuß zur Ablenkung, das drehende Durchtauchen unter dem Messer und der Hebel, mit dem ich ihm den rechten Arm auf den Rücken drehte waren wie eine Bewegung.
Schon lag mein Gegner auf dem Boden, ich über ihm, fixierte seinen Arm und hatte sein Messer in der Hand. Er war völlig überrumpelt, hatte nicht mit meiner Gegenwehr gerechnet und versuchte nun, sich aus meinem Griff zu befreien. Auch in seinen Kumpel kam jetzt Bewegung, er sprang auf, wich aber zurück als ich mit dem Messer auf den unter mir liegenden Körper zielte und ihn anfauchte, dass er sich auf den Boden werfen solle.
Für ein paar Sekunden schien ich die Situation unter Kontrolle zu haben, aber dann wurde mir klar, dass ich das Problem nur verschoben hatte. Wie sollte ich mich alleine gegen zwei Personen wehren, ich konnte ja nicht unbegrenzt auf dem einen hocken und den anderen in Schach halten. Vielleicht konnte ich die beiden mit Verbandsmaterial aus meinem Rucksack fesseln, aber wie sollte das gehen?
An dieser Stelle kam mir der Zufall zur Hilfe. In weiter Entfernung in der Richtung aus der ich gekommen war, war eine Staubwolke zu sehen, die zügig näher kam. Es musste der Bus sein, der von der Grünsiedlung kommend diese Piste entlanggefahren kam. Tatsächlich, es war Bus, wie sich beim Näherkommen herausstellte, auf die Unzuverlässigkeit des Fahrplans war Verlass.
Die spontane Erleichterung wich schnell einer neuen Furcht, denn wie musste man eine Szene interpretieren, in der ein Ausländer mit einem Messer in der Hand auf einem Einheimischen sitzt und dessen Freund bedroht. Natürlich würden die zwei eine ganz andere Geschichte erzählen, sich gegenseitig bezeugen und mich als Täter darstellen.
Wenige Meter vor uns kam der Bus zum Stehen, ein paar kräftige Männer sprangen heraus, entrissen mir das Messer und hielten uns drei fest. Innerhalb weniger Augenblicke waren wir von einer Menschentraube umringt, alle redeten durcheinander und riefen sich gegenseitig Befehle zu, wie es weitergehen sollte.
In dem Durcheinander wurde auch ich zu Boden gedrückt, Dreck in Mund und Nase ließen mich schwer atmen, dazu die Hitze, vielleicht auch zu wenig Flüssigkeit und ein Anflug von Sonnenstich führten zu Sternchen vor meinen Augen. Meine Kraft ließ nach, ich wollte einfach raus aus diesen wechselnden Todesängsten.
Möglicherweise hatte ich einen kurzen Filmriss. Denn gefühlt im nächsten Moment saß ich im Bus, vor mir ein bemerkenswert hässlicher junger Mann mit übergroßer Nase und schiefen Zähnen, die er mir jetzt in einer Art Lächeln zeigte. „Guter Mann!“ sagte er zu mir und jetzt konnte ich mich auch wieder erinnern, dass wir vor ein paar Tagen zusammen in der Grünsiedlung gearbeitet hatten. Wir hatten Handwerkstipps ausgetauscht und ich hatte ihm ein paar Brocken deutsch beigebracht.
Von meinen beiden Widersachern sah ich nichts, aber ich bekam mit, dass der Bus langsam und umständlich wendete, während die Fahrgäste nach und nach wieder einstiegen. Offensichtlich war das Ziel geändert worden und wir schienen wieder zurück zu der Siedlung zu fahren, in der ich die vergangenen Tage verbracht hatte.