Die Arbeitssiedlung
Am nächsten Morgen erwachte ich relativ erfrischt, in diesem grünen Streifen des Landes war die Luft etwas kühler und damit die Nacht ein kleines bisschen erträglicher. Das Moskitonetz hatte mich vor den Angriffen der durstigen kleinen Biester geschützt und vom zahnlosen Alten hatte ich auch nichts weiter mitbekommen. Ich drehte mich noch mal um, betrachtete in der zunehmenden Helligkeit das Zimmer mit seinen kahlen Wänden die Andeutung einer Gardinenstange und natürlich den Deckenventilator.
Die nächste Runde des Faulenzens konnte beginnen. Ich schlich aus dem Zimmer und fand zu meiner Überraschung eine Art Badezimmer mit einer Art Dusche, also einer Einrichtung, aus der ich eine durchaus messbare Menge Wasser über meinen Körper laufen lassen konnte. Und auch das folgende Frühstück überstieg deutlich meine Erwartung. Ein junges Mädchen bediente mich und fragte mich charmant aus. Woher ich käme, wollte sie wissen, was ich vom Land schon gesehen hätte und wie lange ich in der Oase bleiben wolle.
Wenige Augenblicke, nachdem sie in Richtung Theke verschwunden war, stand schon der Wirt vor mir, genauso freundlich aber nicht ganz so wissbegierig, vermutlich, weil das Mädchen ihm schon alle möglichen Informationen weitergegeben hatte. Er setzte sich zu mir und erläuterte mir die Besonderheiten dieses Ortes. Wie ich ja schon gemerkt hätte wäre das Klima hier völlig anders, ein wenig tropisch geradezu, und entsprechend gäbe es hier viele Pflanzen, Obst, Gemüse und Kräuter. Zusätzlich auch eine ausgeprägte Viehzucht, konnten sich die Tiere hier doch ohne Aufwand vom üppigen Graswuchs ernähren. Das alles sei ein Geschenk der Natur, wie mir der Wirt erklärte, und so wäre es nicht nur ein Segen, sondern gleichzeitig auch eine Verantwortung, diese reichen Gaben zu pflegen und sie auch Menschen zu geben, die nicht so ein Glück gehabt hätten.
Kurzum, es wäre seit vielen Jahren üblich, dass in dieser Region jeder mit anpackte. Alle gesunden Männer und Frauen, gleich welchen Alters - bis auf Kleinkinder und Greise - wären verpflichtet, sich an der Gemeinschaftsarbeit zu beteiligen. Schmunzelnd bezeichnete er diese Organisationsform als "freiwillige Zwangsarbeit", zwinkerte mir zu und gab mir zu verstehen, dass ich auch als Reisender nicht von dieser Regelung ausgenommen wäre. Selbstverständlich könnte ich erst mal ein paar Tage ausruhen, danach würde ich aber beim Mithelfen erwartet.
Erst mal war ich überrascht, war es möglich so ein ungewöhnliches Konstrukt seit vielen Jahrzehnten zu leben, ohne dass es Widerstand gab, sich irgendwer hervortat oder den Dienst verweigerte? Selbstverständlich gäbe es neben den handwerklichen Aufgaben auch andere Berufe, jeder solle seine Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen. Ob ich vielleicht Arzt wäre oder Lehrer, denn Kranke und Verletzte müssten versorgt werden und sie hätten eine recht gute Schule, wie er mir voller Stolz berichtete. Also, ich solle mich erst mal ein wenig umschauen, er wäre der Organisator und könnte mir natürlich auch bei Fragen weiterhelfen. Sobald ich die Arbeit aufnähme, wäre die Übernachtung kostenlos, nur für das Essen müsste ich dann einen kleinen Betrag bezahlen. Und selbstverständlich würde ich für jede Tätigkeit auch bezahlt, und zwar mit demselben Entgelt, das auch jeder andere Arbeiter erhielte.
Erzwungener öffentlicher Dienst also, jeder war hier sozusagen beamtet, sollte sein Scherflein beitragen. Und das Ganze ohne feste Organisation, nur ein primus inter pares, der sich um die Einweisung von Neulingen und das Beantworten von Fragen kümmerte. Jetzt wurde mir auch klar, warum der zahnlose Alte hier war. Er würde hier arbeiten, einen Teil seiner Bezahlung für Ernährung ausgeben, aber dabei kostenlos wohnen und seinen persönlichen Fähigkeiten entsprechend tätig sein können. Eigentlich ein interessantes Modell, ich freute mich auf die praktische Erfahrung dieses im weiteren Sinne kommunistischen Antritts.
Zwei Tage gönnte ich mir noch das liebgewordene Herumhängen, aber in einem Umfeld der allgemeinen Aktivität fühlte sich mein Nichtstun einfach nur schlecht an. Am dritten Tag lief ich dann zu dem Wirt und ließ mich von ihm zu geeigneten Arbeiten beraten. Besonders muskulös bin ich nicht, aber Schnitt und Pflege von ziemlich exotischen Pflanzen mit stacheligen, aber im Kern sehr aromatischen Früchten interessierten mich. Wenig später machte ich mich mit einer Gruppe Gleichgesinnter auf den Weg zu meinem Arbeitseinsatz.
Ich hatte nicht damit gerechnet so lange unterwegs zu sein, wir wanderten den halben Morgen, bevor wir in unserer Plantage ankamen. Bei der Fahrt im Bus war mir die Gegend gar nicht so weiträumig vorgekommen, jetzt zog sie sich ziemlich hin.
Immerhin wurde dann erst mal Rast gemacht, die mitgebrachten Messer und Sägen geschärft und dann nahm mich einer der Einheimischen zur Seite und zeigte mir, was ich genau machen sollte. Wie ich erfuhr war er der Spezialist für diese Früchte, seine Familie bewirtschaftete diesen Teil der Oase seit vielen Generationen. Er konnte gut erklären und nach wenigen Minuten hatte ich die entscheidende Armbewegung heraus, mit der man ohne viel Aufwand gezielt die fruchtlosen Zweige entfernen konnte. In dieser Phase sollte die Pflanze nämlich ihre ganze Kraft in die Entwicklung von Früchten stecken und möglichst wenig Blattwerk ausbilden.
Die Sonne brannte herunter, pünktlich zu Mittag versammelten wir uns unter einem hohen Baum in der Mitte der Plantage, aßen, tranken und einige machten ein Nickerchen. Nein, ausgelaugt ging hier niemand heim, die Arbeit war weder Hetze noch Überanspruchung, vielmehr ein gemächliches Dahinarbeiten. Es war das Gemeinschaftserlebnis, das tägliche Schaffen und Machen, das die Bewohner zu einer Gemeinschaft machte. Wir erzählten uns Geschichten, sie wollten wissen, wie ich die Gegend fände, oder ihren Lebensstil. Mit etwas nachlassender Hitze verließen wir wieder unseren Schattenplatz und schlugen weiter überflüssige Äste von den niedrigen Bäumen ab.
Ich konnte nicht erkennen, wie die Menschen hier die Zeit messen konnten, denn Uhren gab es nicht und doch kamen sie wie auf Kommando am späten Nachmittag nahezu gleichzeitig wieder an unseren zentralen Platz zurück. Es war offensichtlich ein Ritual, dass jetzt jeder reihum von dem Ergebnis seiner Arbeit erzählte und sich alle gegenseitig für das Erreichte lobten.
Langsam kam Bewegung in die Gruppe und mit einheimischen Liedern, die ich nur teilweise verstand, ging es wieder zurück zur Siedlung. Der Weg schien mir viel kürzer als am Morgen, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass es jetzt erheblich kühler geworden war. Während es in der Plantage trocken geblieben war, wurde es auf dem Weg zur Siedlung immer feuchter. Ich hätte nicht gedacht, dass es in diesem Land überhaupt regnen könnte, und das auch noch so heftig. Regentropfen dick wie Haselnüsse verwandelten die staubige Piste innerhalb von Minuten in eine schlammige Piste.
Nach getaner Arbeit und zurück in der Siedlung gab ich meinen Gefährten ein paar Runden Schnaps aus. Die Stimmung war ausgelassen, während nach und nach auch die anderen Gruppen in der Dorfmitte zusammenkamen. Als wäre es kein Arbeitstag, sondern ein Feiertag wurde gesungen, gelacht und getanzt. Inmitten der Party entdeckte ich meinen zahnlosen Alten wieder. Ein wenig erschöpft von der körperlichen Arbeit, aber bester Laune hatte er sich unter eine Ansammlung Jugendlicher gemischt, die sich nach dem Gelächter zu urteilen gegenseitig Witze erzählte.
Ein Tag voller neuer Erfahrung, dem Erlebnis einer ungewohnten Solidargemeinschaft und nach langer Zeit mal wieder körperlicher Arbeit ging zu Ende. Heute würde ich jedenfalls als erster aufs Zimmer verschwinden, unter mein Moskitonetz krabbeln und der einschläfernden Langsamkeit meines Deckenventilators zuschauen. Mit Gedanken über kulturelle Unterschiede und der Übertragbarkeit in mein deutsches Leben versank ich todmüde in der Traumwelt.
-> [Episode 5]
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