Gestern Nacht war ich unterwegs. Es war zwischen Abend und Mitternacht, ich hatte Lust, noch mal an die frische Luft zu kommen. Schon wenige Schritte nach dem Verlassen des Hauses empfing mich die Dunkelheit, nur wenig später erreichte ich den Waldrand. Die frühlingsdürren Bäume verschatteten das spärliche Licht, das der Mond über die Landschaft streute. Hier und da schaute er aber hindurch, nur wenige Tage noch bis zum ersten Frühlingsvollmond, und kurz danach dann Ostern.
Der erste Teil meiner Wanderung führte mich über einen Trampelpfad durch das Unterholz. Ich war den Weg schon oft gegangen und konnte die Spur trotz der schlechten Lichtverhältnisse erraten. Dort vorne begann der deutlich besser befestigte Hauptweg, recht ausgefahren von allerlei Forstfahrzeugen und an einigen Stellen sogar mit Schotter versehen. Jetzt hatte ich den Weg erreicht, der Boden unter meinen Füßen wurde härter, ich musste mich nicht mehr auf Stolperfallen konzentrieren.
Tief durchatmend sog ich die kalte Luft ein. Ein Hauch von Frühling, trotz der Kälte, trotz der noch weitgehend schlafenden Natur. Der Modergeruch des Herbstes war dem neutralen Aroma des Winters gewichen und wurde nun langsam von den Ausdünstungen der knospenden Pflanzen überdeckt. Die hohen Tannen um mich herum streckten in ihren Wipfeln schon die einen oder anderen frischen Triebe in den Himmel, die vereinzelt stehenden Eichen und Buchen allerdings noch weitgehend winternackt.
Unter meinen Füßen knackte es, ein Ast wahrscheinlich, auf den ich getreten war, da wieder. Ich schaute herunter, hier auf dem ausgeschlagenen Weg gab es etwas mehr Mondlicht, eine Anzahl kleiner Ästchen verlief wie eine Spur über meinen Weg. Eher ungewöhnlich, dachte ich, blieb stehen und versuchte diese Spur rechts und links vom Weg zu verfolgen. Die ersten Meter konnte man noch erkennen, hier gab es nur schütteres Gras und ein paar kleine Pflänzchen, dahinter begann das Unterholz. Von meinem Standort aus war dort nichts mehr zu erkennen als immer dichter werdendes Kleinholz und naturbelassener Baumschlag.
Das machte mich neugierig. Ich dachte kurz nach und entschied mich dann, den Weg zur rechten Seite zu verlassen. Hinter dem Grün wusste ich eine Siedlung, allzu weit konnte ich also nicht kommen oder mich gar verlaufen. Es war kein richtiger Weg, eher ein tiergemachter Trampelpfad, Rehe vielleicht oder Wildschweine. Meine dunkelheitsgewöhnten Augen konnten immerhin eine gewisse Richtung erkennen, kaum auszumachen zwischen verschiedenen Büschchen und heruntergefallenen Ästen.
Vorsichtig tastete ich mich vor, neugierig einerseits, ein wenig ängstlich andererseits. Warum war ich überhaupt losgegangen, hatte das warme Haus verlassen, mitten in der Nacht einen Waldspaziergang eingelegt? Und damit nicht genug war ich von der mir bekannten Strecke abgebogen und schlich jetzt durch das Unterholz. Hier gab es auch andere Geräusche, war es auf dem Schotterweg weitgehend still gewesen, herrschte hier ein unüberhörbares Leben. Kaum wahrnehmbar knackte und raschelte es ununterbrochen, mal ausgelöst durch meine Schritte, mal vermutlich von irgendwelchen Bodentieren.
Weiter weg hörte ich jetzt auch das deutliche Kruspeln von größeren Tieren. Nein, es schien mir nicht das Schnaufen und Graben von Wildschweinen zu sein, auch das Knabbern von Rotwild schied aus meiner Sicht aus. Eher von wilden Katzen oder Hunden, oder vielleicht Wölfen. Und tatsächlich war da ein Laut zu hören, der wie das Heulen eines Wolfs klang. Und dieser Laut kam sogar aus recht geringer Entfernung.
Ich blieb stehen, hielt den Atem an. Da wieder diese Art Husten, die in ein Heulen überging. Es kam etwa von vorne, wo ich eine Lichtung zu erkennen glaubte. Ganz vorsichtig und jeden Schritt sorgfältig platzierend setzte ich mich wieder in Bewegung. Die Neugierde überwog die Angst, Schritt für Schritt näherte ich mich der Lichtung und damit dem Geräusch.
Und dann stand er plötzlich vor mir. Ein zotteliger Wolf, vielleicht noch zwanzig Meter von mir entfernt. Es schien so, als wären wir beide über unser Treffen überrascht. Nicht erschrocken, aber ungeplant. Das Tier starrte mich an, keine Bewegung im Körper oder seinem Gesicht verriet irgendetwas darüber, was es als nächstes machen würde. Auch ich bewegte mich nicht, starrte zurück und suchte in meiner Erinnerung, was ich über Wölfe gehört und gelesen hatte.
Fast schienen Minuten zu vergehen, während der wir uns wie Skulpturen gegenüberstanden. Ich dachte an das Kinderspiel „Wer sich zuerst bewegt hat verloren“, rechnete jeden Moment mit einem Angriff und überlegte, ob ich weglaufen oder versuchen sollte, auf einen Baum zu klettern. Oder vielleicht doch besser einen Ast schnappen und mich wehren.
Endlich – fast wie eine Erleichterung – kam Bewegung in die Szene. Der Wolf schob sich ganz langsam rückwärts. Auf mich wirkte es nicht wie ein Weglaufen, eher wie das souveräne Verlassen einer Bühne. Keine Ängstlichkeit, ganz sicher aber auch keine Aggression. Fast wollte ich meinen flachen Atem wieder entspannen, da sah ich, dass der Wolf wieder stehen blieb, und jetzt seitlich ging.
Lieber blieb ich stehen, meine Gedanken überschlugen sich. Was war das für ein Verhalten, gibt es bei Wölfen Hormone, wie gut kann er mich sehen, hat er Angst vor Menschen, bin ich aus seiner Sicht Beute oder Eindringling, fühlt er sich als Herr der Lage oder als unterlegenes Opfer?
Währenddessen hatte sich das Tier weiter um mich herum bewegt, war jetzt seitlich und viel näher als vorher, lies mich dabei aber nicht aus den Augen. Da er jetzt nicht mehr im Schatten irgendwelcher Bäume war, konnte ich im Mondlicht deutlich sein Gesicht sehen. Die lange Nase schaute weit aus seinem pelzigen Gesicht, das auf mich böse wirkte. Die Ohren gespitzt, die Augen mit einem Funkeln im fahlen Licht. Die ganze Erscheinung hatte etwas Bedrohliches, wie die Mischung aus einer kampfbereiten Katze und einem wütenden Hund.
Jetzt hörte ich auch seinen Atem, so nah hatte er sich inzwischen an mich herangearbeitet. Aber wenn er mich anspringen wollte, dann hätte er das doch schon längst machen können, dachte ich. Da er um mich herumgelaufen war versperrte er mir nun den Pfad zurück zum Hauptweg. Eben hielt er an, senkte den Kopf und schaute mich von unten her an. Das sah jetzt nicht mehr so gruselig aus, aber ich wusste nicht, was in seinem Gehirn vorging.
Bevor ich eine Antwort gefunden hatte kam er jetzt recht zügig auf mich zu, plötzlich seine Nase an meiner Hand, sehr deutlich höre ich das Schnuppern und dann – als ob er eine Neugierde befriedigt hätte – drehte er sich um und lief zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Im nächsten Moment war er verschwunden, ich stand immer noch leicht zitternd und wie erstarrt, wagte noch nicht, mich wieder zu bewegen. Aber der Wolf kam nicht zurück und auch sonst bewegte sich nichts mehr um mich herum im Unterholz. Sehr langsam und immer wieder mit Blick nach hinten ging ich zum geschotterten Hauptweg zurück. Auch hier keinerlei Leben, selbst das leise Rascheln von vorhin war jetzt nicht mehr zu hören.
Einen Augenblick lang blieb ich stehen, dann setzte ich mich in Richtung Haus in Bewegung. Dabei dachte ich über die unerwartete Begegnung nach, fragte mich, ob ich in Gefahr gewesen war und besonders, was jetzt wohl im Wolfshirn vor sich ging. Ob er bei seinem Rudel irgendwie von dem Treffen mit mir berichten konnte und was er dann wohl darüber mitteilen würde? Welche Emotion ich wohl in ihm ausgelöst hatte und wie diese Erfahrung in sein weiteres Wolfsleben aufgenommen würde?
Ich fühlte mich jedenfalls erleichtert, als ich die Haustür erreichte, den Schlüssel herumdrehen konnte und kein behaarter Vierbeiner an mir vorbei in die Wohnung schlüpfte. Einen kleinen Drink später und in Gedanken versunken ließ ich mich auf mein Bett fallen und war auch schon in meiner Traumwelt angekommen, in der das Treffen mit dem Wolf wieder und wieder in verschiedenen Variationen durchgespielt wurde.
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Was für ein bildgewaltiger Bericht Deiner Begegnung mit einem Wolf! Mit meiner schamanischen Sicht auf die Dinge würde ich sagen: Der Wolf hat Dich gerufen... Als Seelenführer lehrt er uns, der eigenen Vision zu folgen und Wünsche in die Realität umzusetzen. Auch wenn es vielleicht nicht Deine Welt sein mag (?), so denke ich, dass er eine klare Botschaft für Dich hat. Also wäre es spannend, auf die Träume zu achten ;-)
AntwortenLöschenWundervoll. Ich freue mich, weitere Texte von Dir zu lesen.
Berit