23 Februar 2024

Lebensetappe 1: Willkommen auf der Welt

Ein Auge riskiere ich, das war die Botschaft, mit der du auf die Welt gekommen bist. Nach getaner Arbeit, aber noch vor dem ersten Schrei hast du gelugt, dann erst kam der Laut, der deine Lunge aufgebläht hat. Das ging so weiter. Als Säugling skeptisch, da waren es nicht die Augen, da war es wohl eher die Nase, die du befragt hast, bevor du mit der Mutterbrust Kontakt aufgenommen hast. Die Umstellung auf die Flasche scheiterte anfangs am fremden Geruch.

Lebensetappe 1
Ich erinnere mich an den ersten Tag im Kindergarten, kein Widerstand, aber zielstrebig in die Ecke und von dort aus die anderen Kinder beobachtet. Dabei war keinerlei Ängstlichkeit festzustellen, vielmehr ein Umschauen, Einschätzen und Nachdenken. Zur Mittagszeit wurde die Erzieherin ein wenig unruhig, es war ungewohnt für sie, dass ein neues Kind sich weder vor der Gruppe fürchtete noch sich einbringen wollte. Du warst dir genug und wolltest nur bei dem mitmachen, was dich ansprach.

Nun hätte man sich vorstellen können, dass es andere Kinder gereizt hätte, dich zu dominieren. Aber jeder Versuch, dich von außen zu motivieren, zu überreden oder gar zu erpressen scheiterte an deiner Eigenwilligkeit. Am Ende der Kindergartenzeit warst du ein beliebter Spielkamerad, der aufmerksam alle möglichen Spiele kannte, wegen der ausgeprägten Gerechtigkeit als Schiedsrichter gern gesehen war und gefragt wurde, wenn etwas beim Basteln nicht klappen wollte.

Das wiederholte sich in der Grundschule und auch in der Oberschule. Den Lehrern fiel auf, dass du eine andere Dynamik als deine Kameraden hattest. Zuhören und manchmal sehr langes Nachdenken kam vor jeglicher Äußerung, sei es von Sprache oder auch von Gefühlen. Das war weder durch Aufforderung noch durch Druck zu beeinflussen. Wolltest du eine Lösung noch nicht preisgeben, dann konnte man dich auch mit der Androhung einer schlechten Note nicht dazu bewegen, den Mund aufzumachen. Nicht jede Klassenarbeit war bei Abgabe fertig, aber der bearbeitete Teil in allen Fächern nahezu immer fehlerfrei.

Es war faszinierend, dir zuzuschauen. Vor einer Matheaufgabe schienst du immer zu meditieren, mit geradezu schläfrigem Blick schienst du dich in die Zahlen zu verlieren, im Kopf musste ein ungeheures Schachspiel von Lösungswegen ablaufen. Dann mit einem mal ein Stift in deiner Hand, er flog über das Papier und du konntest kaum schnell genug schreiben, um die komprimierte Lösung auf die Zettel zu bringen. Ähnlich verlief das auch in Fremdsprachen, in denen die Formulierung von Texten standardmäßig eine Weile auf sich warten ließ, dann aber in bemerkenswert schöner Sprache daherkam.

Andererseits waren natürlich nicht nur die Erzieher und die Lehrer irritiert, auch den Mitschülern warst du suspekt um nicht zu sagen unheimlich. Freunde waren dir willkommen, aber für Mutproben, Herumhacken auf Unbeliebten oder gar Mobbing warst du nicht zu haben. Ein Sonderling in den Augen der anderen Jungs, scheinbar unnahbar. Das störte dich weniger, aber die Distanz der Mädchen belastete dich. Die meisten schwankten zwischen heimlicher Bewunderung und Unsicherheit, jedenfalls war scheinbar alles anders als bei den Alterskameraden, manche hielten dich für schwul.

Diese komplizierte Gestaltung von Bindung wurde noch mal komplizierter, weil du auch über deine Gefühle für Mitmenschen erst mal sehr sorgfältig brüten musstest. Wer dein Wohlwollen errang, der konnte sich herzlicher Freundschaft und bei Mädchen leidenschaftlicher Zärtlichkeit sicher sein. Aber nicht wie ein kurz aufflackerndes Strohfeuer, sondern wie eine langsam in Gang kommende Stichflamme. Immerhin machte auch diese Eigenschaft die Runde und zum Ende der Jugendzeit gab es einige Freundinnen, die ihre Erfahrung mit dir nicht mehr missen wollten.

Zum Ende der Pubertät habe ich dich dann aus den Augen verloren. Ich habe noch mitbekommen, dass du zum Studieren weggezogen bist, vermutlich lief es auch dann wieder in gewohnter Weise behutsam herantastend, um dann von jetzt auf gleich eine konkurrenzlose Schaffenskraft zu entwickeln.

[Lebensetappe 2: Lass mich mal durch!]

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