Hurra, ich lebe noch!
Und das trotz zahlreicher Einstiche, Angriffe mit Röntgenstrahlen und einem gewöhnungsbedürftigen
Verständnis von leichter Vollkost. Nachmittag und Abend in der Klinik.
10. Aller guten Dinge sind sieben. Das scheint hier die magische Zahl zu sein, der sich viele Prozesse beugen. Es ist die Zahl der Erinnerungen, die notwendig sind, wenn man den Arzt sprechen will, ist aber gleichzeitig auch die Anzahl der Anläufe, bis der Speiseplan umgestellt wird. Laut Strichliste sind es schließlich auch sieben zum Teil erfolglose Versuche, mir einen Zugang (Kanüle) zu legen. Ich sehe mittlerweile aus wie ein Drogenabhängiger, weil mein Arm übersäht ist mit Einstichen und Pflastern über ehemaligen Einstichen, von denen manche von einem rot-blau-gelben Kreis innerer Blutergüsse umgeben sind.
11. An der ansonsten nüchternen Wand hängt eine farbenfrohe Patienteninformation über „Reinigungskontrollpunkte“ und die Organisation der Reinigung mit Hilfe von Farbcodes. Es bleibt mir verborgen, warum es für mich als Patient wichtig ist, dass für jedes Zimmer ein Leistungsverzeichnis vorliegt. Vermutlich wird hier den Vorgaben irgendeiner DIN genüge getan. Interessanter wäre die Darlegung, warum ein völlig überarbeiteter Stationsarzt trotz ausführlicher Patientenbesprechung auch noch für jede weitere Mikroentscheidung gefragt werden muss.
12. Es rumpelt erst vor und dann direkt an der Zimmertür und hinter einem Putzwagen erscheint eine vermummte Person mit einem Feuchtwischer, den sie mit erhobenem Feudel wie eine Standarte vor sich her trägt. Das Toilettenbecken wird gemäß standardisiertem Verfahren mit einem roten Tuch gereinigt, das Waschbecken mit dem gelben Tuch, Tisch und sonstiges Mobiliar mit dem blauen Tuch, für den Rest scheint es keine farbigen Tücher zu geben. Dafür tritt jetzt der Feuchtwischer in Aktion, das Bad ist nass, der Zimmerboden ebenso, nur den eingetrockneten Blutfleck hat der Putzgeist geflissentlich ausgelassen.
13. Abendessen. Meine leichte Vollkost („D – Das Herzhafte“) steht vor mir, aber sie lacht mich gar nicht an. Vielmehr glaube ich an den leicht hochgerollten Rändern der Käsescheibe einen vorwurfsvollen, geradezu depressiven Ausdruck wahrzunehmen. Der Kräuterquark steckt noch in seinem Minischälchen, auch die Butter hat sich noch nicht aus ihrer Verpackung gewagt. Ich schwinge das Messer, steche auf die Brotscheibe ein und verteile auf ihr im ersten Gang die Leberwurst, die meiner Katze bestimmt große Freude bereitet hätte. Mein Zimmergenosse keucht vernehmlich, der Raucherhusten geht in den bellenden Versuch über, mir „Guten Appetit“ zu wünschen.
14. Zum Nachtisch gibt es eine Thrombosespritze. Das hat der Arzt so angeordnet, irgendein Arzt, unsichtbar wie aus einer anderen Sphäre erteilt er Anordnungen. Das führt zu einem ganz neuen Verständnis für den Begriff „Halbgott in Weiß“. Aus göttlichen Höhen der Hierarchisch regnen Anweisungen herunter, die die Helfer und Helfershelfer umsetzen, ohne weitere Fragen zu stellen. Wer in diesem System bestehen will hört besser auf Fragen zu stellen, jede Diskussion wird als Angriff auf die Struktur oder eine Form der Blasphemie verstanden.
15. Jetzt könnte es gemütlich werden, es ist noch recht früh und mein Lesebuch nicht weit. Aber es wird laut auf dem Flur, ein Besucher verlangt Informationen zum Zustand seines kranken Vaters. Wie naiv kann man nur sein, dafür die Pfleger zu fragen. Entweder wissen sie es nicht oder sie wollen es nicht sagen. Ein Arzt muss her, der darf die gewünschte Auskunft erteilen. Aber das ist ja gerade die Mangelware hier, der Stationsarzt ist das Reibeplätzchen im Mahlwerk zwischen Patienten, Oberarzt, und Angehörigen. Und wie es sich für eine lame duck gehört, wird er heimlich auch noch von den Pflegern (m/w/d) untergraben.
16. Der Flur
füllt sich, ich luge durch den Spalt der Tür hinaus. Schwester Claudia hat die
Tür vorhin nicht richtig geschlossen, jetzt werde ich unfreiwillig Zeuge der
langsam anwachsenden Menschenansammlung. Der Besucher redet auf die Schwester
ein, die schaut hilfesuchend zum Pfleger, eine ältere Patientin mischt sich ein
und versucht zu vermitteln, während ein weiterer Patient sich auf die Seite des
Angehörigen schlägt. Die Lage wird endgültig unübersichtlich, als nun auch noch
ein junger Patient mit Krücken dazustößt und wild mit seinen Gehstöcken
gestikuliert. Schließlich kehrt doch wieder Ruhe ein, der Angehörige folgt zum
Stationszimmer und ich kann nicht mehr hören, wie die Geschichte ausgeht.
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