Feingeistiges am Freitag: Prosa, Lyrik, Kürzestgeschichten, Gedanken, aktuelle Themen, zeitlose Texte.
23 Februar 2024
Lebensetappe 1: Willkommen auf der Welt
16 Februar 2024
Geschichten, die die Klinik schreibt (17-22)
Wessen Leben nicht
wirklich am seidenen Faden hängt, der darf keine Ärzte erwarten, die wie im
Fernsehen mit wehendem Kittel über den Flur eilen. Geduld und Humor erleichtern
den Aufenthalt in jeder Klinik.
17. Omm! Buddha
muss hier gewesen sein, um seine unendliche Geduld zu trainieren. Das Drücken
auf den Rufknopf sollte man nie herauszögern: Wer den roten Button erst
betätigt, wenn er in Not ist, ist schon verloren. Eine halbe Stunde geht um wie
nix, das würde ich in entspannter Stimmung und mit einem Glas Wein durchaus
unterschreiben, aber unter Schmerzen, mit angehängtem Tropf und gefüllter Blase
ist es eine Ewigkeit. Ich entschließe mich, die Füße aus dem Bett zu schwingen
und gemäß dem Motto dieses Hospitals („hilf dir selbst, dann wird dir
geholfen“) wanke ich – mich an dem Infusionsständer festhaltend – zum Bad. Wie
schön auf einmal die Kacheln wirken, wie freundlich mich die Toilette in
Empfang nimmt. Nur den Deckel hätte ich vielleicht nicht anheben sollen, da war
irgendjemand vor mir gewesen und hatte seine Spuren hinterlassen. Oder sind es
gar keine Fäkalspuren, sondern die Reste eines ehemaligen Patienten, der in
dieser Nasszelle beim Warten auf die Pfleger verwest ist?
18. Schichtwechsel ist immer eine ganz große Sache. Dann wird es ganz leer auf dem Flur, das ganze Team verschwindet im Aufenthaltsraum. Nach rund dreißig Minuten kommen sie wieder herausgeströmt, die eine Hälfte in Richtung Umkleide und Feierabend, die andere Hälfte auf der Suche nach einem Versteck für die nächsten acht Stunden. Was in dieser halben Stunde passiert ist bleibt ein Mysterium, ist doch die neue Schicht bestenfalls ansatzweise über die Ereignisse aus der Zeit ihrer Vorgänger informiert. Vielmehr müssen sie jedwede Information entweder im Stationszimmer nachhören oder besser noch: Den Stationsarzt fragen. Der ja bekanntlich nicht auf Station ist, auch wenn der Name das vermuten lassen würde.
19. Nachtschwester Martha nimmt den Dienst auf. Sie sieht aus wie sie heißt und erfüllt ihre Aufgabe mit körperlicher Hingabe. Ihre Stimme lässt ihr Umfeld in Deckung gehen, Patienten die tagsüber eine Behandlung abgelehnt haben werden lautstark zur Rede gestellt. Die Meinung des Stationsarztes ist für sie irrelevant, die Vorgabe des Oberarztes eher eine Richtschnur. Patienten sind ungezogene Kinder, die notfalls mit deutlichen Maßnahmen in die Schranken gewiesen werden müssen.
20. Das Krankenhaus besteht aus einem neuen und einem alten Teil, letzterer hat tatsächlich noch so etwas wie eine Turmuhr. Gespenstisch schlägt sie zwölf Mal, Geisterstunde, und kaum ist der letzte Ton verklungen klopft es leise an der Zimmertür. Licht vom Flur fällt herein, einem Geist gleich wird der Kopf der Nachtschwester sichtbar, in der Hand hält sie eine Infusionsflasche. Pünktlich alle acht Stunden ist Zeit für mein Antibiotikum, eine der Gaben also um Mitternacht. Ich wische mit der unverletzten Hand die Decke zur Seite, im Halbschlaf registriere ich den geist-lichen Bei-stand und die Kühle der frischen Infusion.
21. Nach reichlich Beruhigungspillen und Schlafmitteln hat mein Zimmernachbar die offizielle Kommunikation eingestellt. Stattdessen ist er in das Ausstoßen von Lauten übergegangen, die mit jedem Atemzug aus seinem Mund kommen. Er scheint nur noch einen einzigen Buchstaben zu kennen, so etwas wie ein „Ah“, das er in unterschiedlicher Tonhöhe, Lautstärke und Dauer intoniert. Zwischendurch räuspert er sich geräuschvoll und bildet damit einen interessanten Kontrapunkt in seiner stimmlichen Darbietung.
22. Es ist so weit. Der Tag des Abschieds ist gekommen, kein Feedbackbogen wird mir unter das Kopfkissen geschoben, keine Sehnsuchtsmelodie ertönt. Verwaltungstechnisch ein Behandlungsobjekt weniger, Verwahrung beenden, Abrechnungsprozess einleiten. Ich freue mich, weil ich die Datenbank entlaste, das überforderte Personal nicht weiter in Anspruch nehmen muss und meinem Körper nach ein paar unfreiwillig durchwachten Nächten die Ruhe gönnen kann, die er zur Erholung jetzt noch nötig hat.
09 Februar 2024
Geschichten, die die Klinik schreibt (10-16)
Hurra, ich lebe noch!
Und das trotz zahlreicher Einstiche, Angriffe mit Röntgenstrahlen und einem gewöhnungsbedürftigen
Verständnis von leichter Vollkost. Nachmittag und Abend in der Klinik.
10. Aller guten Dinge sind sieben. Das scheint hier die magische Zahl zu sein, der sich viele Prozesse beugen. Es ist die Zahl der Erinnerungen, die notwendig sind, wenn man den Arzt sprechen will, ist aber gleichzeitig auch die Anzahl der Anläufe, bis der Speiseplan umgestellt wird. Laut Strichliste sind es schließlich auch sieben zum Teil erfolglose Versuche, mir einen Zugang (Kanüle) zu legen. Ich sehe mittlerweile aus wie ein Drogenabhängiger, weil mein Arm übersäht ist mit Einstichen und Pflastern über ehemaligen Einstichen, von denen manche von einem rot-blau-gelben Kreis innerer Blutergüsse umgeben sind.
11. An der ansonsten nüchternen Wand hängt eine farbenfrohe Patienteninformation über „Reinigungskontrollpunkte“ und die Organisation der Reinigung mit Hilfe von Farbcodes. Es bleibt mir verborgen, warum es für mich als Patient wichtig ist, dass für jedes Zimmer ein Leistungsverzeichnis vorliegt. Vermutlich wird hier den Vorgaben irgendeiner DIN genüge getan. Interessanter wäre die Darlegung, warum ein völlig überarbeiteter Stationsarzt trotz ausführlicher Patientenbesprechung auch noch für jede weitere Mikroentscheidung gefragt werden muss.
12. Es rumpelt erst vor und dann direkt an der Zimmertür und hinter einem Putzwagen erscheint eine vermummte Person mit einem Feuchtwischer, den sie mit erhobenem Feudel wie eine Standarte vor sich her trägt. Das Toilettenbecken wird gemäß standardisiertem Verfahren mit einem roten Tuch gereinigt, das Waschbecken mit dem gelben Tuch, Tisch und sonstiges Mobiliar mit dem blauen Tuch, für den Rest scheint es keine farbigen Tücher zu geben. Dafür tritt jetzt der Feuchtwischer in Aktion, das Bad ist nass, der Zimmerboden ebenso, nur den eingetrockneten Blutfleck hat der Putzgeist geflissentlich ausgelassen.
13. Abendessen. Meine leichte Vollkost („D – Das Herzhafte“) steht vor mir, aber sie lacht mich gar nicht an. Vielmehr glaube ich an den leicht hochgerollten Rändern der Käsescheibe einen vorwurfsvollen, geradezu depressiven Ausdruck wahrzunehmen. Der Kräuterquark steckt noch in seinem Minischälchen, auch die Butter hat sich noch nicht aus ihrer Verpackung gewagt. Ich schwinge das Messer, steche auf die Brotscheibe ein und verteile auf ihr im ersten Gang die Leberwurst, die meiner Katze bestimmt große Freude bereitet hätte. Mein Zimmergenosse keucht vernehmlich, der Raucherhusten geht in den bellenden Versuch über, mir „Guten Appetit“ zu wünschen.
14. Zum Nachtisch gibt es eine Thrombosespritze. Das hat der Arzt so angeordnet, irgendein Arzt, unsichtbar wie aus einer anderen Sphäre erteilt er Anordnungen. Das führt zu einem ganz neuen Verständnis für den Begriff „Halbgott in Weiß“. Aus göttlichen Höhen der Hierarchisch regnen Anweisungen herunter, die die Helfer und Helfershelfer umsetzen, ohne weitere Fragen zu stellen. Wer in diesem System bestehen will hört besser auf Fragen zu stellen, jede Diskussion wird als Angriff auf die Struktur oder eine Form der Blasphemie verstanden.
15. Jetzt könnte es gemütlich werden, es ist noch recht früh und mein Lesebuch nicht weit. Aber es wird laut auf dem Flur, ein Besucher verlangt Informationen zum Zustand seines kranken Vaters. Wie naiv kann man nur sein, dafür die Pfleger zu fragen. Entweder wissen sie es nicht oder sie wollen es nicht sagen. Ein Arzt muss her, der darf die gewünschte Auskunft erteilen. Aber das ist ja gerade die Mangelware hier, der Stationsarzt ist das Reibeplätzchen im Mahlwerk zwischen Patienten, Oberarzt, und Angehörigen. Und wie es sich für eine lame duck gehört, wird er heimlich auch noch von den Pflegern (m/w/d) untergraben.
16. Der Flur
füllt sich, ich luge durch den Spalt der Tür hinaus. Schwester Claudia hat die
Tür vorhin nicht richtig geschlossen, jetzt werde ich unfreiwillig Zeuge der
langsam anwachsenden Menschenansammlung. Der Besucher redet auf die Schwester
ein, die schaut hilfesuchend zum Pfleger, eine ältere Patientin mischt sich ein
und versucht zu vermitteln, während ein weiterer Patient sich auf die Seite des
Angehörigen schlägt. Die Lage wird endgültig unübersichtlich, als nun auch noch
ein junger Patient mit Krücken dazustößt und wild mit seinen Gehstöcken
gestikuliert. Schließlich kehrt doch wieder Ruhe ein, der Angehörige folgt zum
Stationszimmer und ich kann nicht mehr hören, wie die Geschichte ausgeht.
02 Februar 2024
Geschichten, die die Klinik schreibt (5-9)
Der Aufenthalt im
Krankenhaus ist nur für Ärzte und Pfleger normaler Alltag. Für alle Patienten
tut sich ein neuer Kosmos auf, in dem andere Gesetze zu gelten scheinen. Ein
Blick hinter die Kulissen.
6. Nun ist der Platz neben mir erst mal leer. Aber nur für einen kurzen Moment, schon öffnet sich die Tür, eine Frauschaft aus drei bekittelten und kopfbetuchten Personen stürzt sich auf das verwaiste Bett, entfernt das Kopfkissen, zieht das Laken ab und sorgt für die Reinigung der Matratze. Der Boden schwimmt, allein der hinterlassene Blutfleck des Bettgenossen ist unbehelligt geblieben. Wie gekommen so gegangen sind die drei Geister wieder verschwunden. Pause. Tür auf, diesmal sind es zwei junge Krankenschwestern mit Smiley-Stickern, die das Bett aus dem Zimmer manövrieren, nicht ohne mehrfach gegen mein Bett zu fahren dass es kracht. Ich strahle die beiden an, wünsche ihnen mit ihrer Beute alles Gute und freue mich auf die Ruhe nach den Stürmen. Der Fleck ist unberührt.
7. Um diese Uhrzeit wird normalerweise meine Infusion angehängt und richtig, es klopft wieder an der Tür. Es ist aber nicht die erwartete Arznei für mich, sondern der neue Zimmergenosse. Er wird in einem Bett hereingeschoben, kann zwar offensichtlich nicht selbst laufen, ist aber auch nicht so desolat, dass er einfach nur wortlos auf seinem Bett läge. Vielmehr redet er mit den Pflegekräften, erinnert vorausschauend an die Inbetriebnahme des Fernsehers und lässt auch mich nicht in Ruhe. Was ich da mit meinem Laptop machte, verlangt er zu erfahren. „Ich schreibe Kriminalromane. Im aktuellen Kapitel geht es darum, wie ein Patient seinen plappernden Zimmernachbarn durch Abstellen seiner Atempumpe ersticken lässt. Mitten in der Nacht und ohne dass die Pfleger es merken.“ Vermutlich findet der Neue diese Aussage nicht so lustig wie ich, jedenfalls quatscht er mich danach nicht mehr an.
8. Ich bin im Zirkus gelandet. Gegenüber aus dem Zimmer höre ich das Bellen eines heiseren Wolfs, der wohl für seinen Auftritt übt. Der blaugekleidete Dompteur mit dem Rückenaufdruck „Physiotherapeut“ kommt den Flur entlanggelaufen, überredet einen älteren Mann, sich von seinem Rollator zu trennen und ein paar wacklige Schritte auf den eigenen Beinen zu machen, was beinahe für einen doppelten Rittberger gesorgt hätte. Eine besondere Rolle kommt dem Stationsarzt zu, der mit seiner schmucken OP-Kleidung und dem Arm voller Patientenakten den perfekten Zirkusdirektor abgibt. Nach seiner täglichen Visite kündigt er noch Clown Harry an, der in seiner liebenswürdig-tapsigen Art wirklich nicht eine einzige Thrombosespritze pannenfrei gesetzt bekommt.
9. Jetzt kommt doch noch die Infusion. Schwester Anna, lese ich auf dem Namensschild am Smiley-Bande und muss innerlich schmunzeln. Zu meinem Glück hat die Personalabteilung die junge Frau nicht nur nach dem Aussehen, sondern auch nach ihrer handwerklichen Qualität ausgesucht, denn die Braunüle sitzt nach winzigem Pikser, die Infusion läuft. Tatsächlich hätte es mich gewundert, wenn mein Zimmernachbar, nennen wir ihn mal B., nicht wieder angefangen hätte zu reden. Ob es an seinem hohen Alter, seinem nahenden Tod oder schlicht an seinem Charakter hängt bleibt mir verborgen. Aber vermutlich hat er schon immer alle Frauen angemacht, die nicht bei drei auf den Bäumen waren. Leicht pikiert schlüpft Anna aus dem Zimmer und ich bin froh, dass sie weg ist, damit das Fremdschämen für B. ein Ende hat.