22 Dezember 2023

Der lange Weg der Männer aus dem Morgenland

So oder so ähnlich vor rund 2000 Jahren.

Der lange Weg der Männer aus dem Morgenland

Schon ein illustrer Haufen, der sich in Babylon getroffen hatte. Melchior kam aus Arabien, seines Zeichens Sterndeuter und damit prädestiniert für Wahrsagerei mit einem gewissen prophetischen Anspruch. Dann Balthasar, hinzugekommen aus Saba und aus innerer Überzeugung Philosoph. Und schließlich Caspar von Chaldäa, ein Magier, der sich in der mystischen Ausgestaltung von Ereignissen bestens auskannte.

Die drei waren sich auf Anhieb sympathisch und als Melchior etwas von einem Stern erzählte, der ihm den Weg zu einem charismatischen Neugeborenen weise und dem er nachreise waren die anderen sofort begeistert und erklärten sich bereit, ihn zu begleiten. Vielleicht lag es am Wein, vielleicht war es auch eine gewisse Abenteuerlust, jedenfalls beschlossen sie, Melchiors Stern zu folgen.

Mit ein paar Dienern für das Gepäck zogen die drei los, tagsüber durchquerten sie die karge Landschaft, in den Nächten versuchte sich Melchior in der Vorbereitung der Navigation für den Folgetag. „Weißt du überhaupt, was du machst?“ wollte Balthasar wissen, „der Stern von dem du immer erzählst scheint überhaupt nicht näher zu kommen.“ – „Genau das ist doch gerade der Gag“ erwiderte Melchior, „es ist ja kein gewöhnlicher Stern, es ist ein Leitstern.“

„Leitstern? Nie gehört!“ knöterte Caspar, „jetzt sind wir schon eine Woche unterwegs, und laut Prognose ist der voraussichtliche Entbindungstermin in zwei Tagen.“ [Er meint hier den 24.12.] Nach einer Pause: „Wir werden noch zu spät zum Event kommen und dann ist die ganze Magic weg. Ich hasse es, wenn ich die Show nicht anständig vorbereiten kann.“ Tatsächlich waren die drei nach den ausführlichen Gelagen in Babylon ein wenig schleppend losgekommen und hatten nun merklich Verspätung.

Schlimmer noch, es stellte sich heraus, dass sie sich am Nordstern orientiert hatten und deshalb in die falsche Richtung gelaufen waren. Als Melchior diesen Fehler zugab vertiefte sich Balthasar in sein Schweigen, murmelte etwas von Königen, wobei nicht zu entnehmen war, ob er sich selbst, sie alle drei oder das angekündigte Kind meinte. – „Laut meinen Berechnungen haben wir noch genau zwei Wochen Weg vor uns“ erklärte Melchior beschwichtigend, „da verpassen wir zwar die Geburt, aber ich kann kleine Kinder sowieso nicht leiden.“ – „Hmja“ machte Caspar.

Erst mal ging es eine Weile schweigend weiter. „Müssen wir überhaupt dahin?“ wollte Caspar von Balthasar wissen. „Was passiert denn, wenn wir einfach die Geschenke nehmen und uns hier ein paar schöne Tage machen. Wenn wir zurückkommen, können wir doch so oder so eine irre Story erzählen und etwas von einem ganz besonderen Kind berichten.“ – „Die irre Story ist das eine, aber ich will nicht nur was zu berichten haben, ich will die volle Customer Journey, wir bringen die Sache ganz groß raus.“ Und viel leiser zu Melchior: „Ich glaube, unser Caspar hat ein bisschen zu viel an seinem Weihrauch geschnuppert.“

„Das habe ich gehört“ kreischte Caspar, „Was soll das heißen? Ohne mich wärt ihr ein Duo, das keiner ernst nehmen würde. Mit dem bisschen Gold und Myrrhe könnt ihr keinen Blumentopf gewinnen, für irgendwelches Gefasel von Kindern würde sich keiner interessieren.“ – „Bleib mal locker, Bruder, nur zusammen haben wir die Chance auf eine Performance, die auch in ein paar tausend Jahren noch nachgespielt wird.“ – „Und wenn alles klappt werden wir zwischenzeitlich in den Überlieferungen erst zu Königen, dann später sogar zu Heiligen. Was für eine Karriere!“

So ging es einige Tage weiter. Mal zankten sie sich wegen Diskrepanzen in der Routenplanung, mal lagen sie sich voller Selbstmitleid in den Armen, dann wieder wurde über Ziel und Sinn diskutiert. Kurz: Eine Berg- und Talfahrt der Gefühle, immer voller Inbrunst geführt. War es mal der Wissenschaftler, der die beiden anderen mit seiner nüchternen Betrachtung nervte, konnte der vergeistigte Philosoph sich bei seinen Begleitern mit unverständlichen Phrasen unbeliebt machen. Und der stets auf Showelemente versessene Magier wurde immer dann anstrengend, wenn der Tross mal ein wenig Ruhe brauchte.

Zum Glück war bei den Nomaden ein neues Geschäftsmodell etabliert worden. Sie boten gegen Entgelt einen Begleitservice aus kräftigen Burschen für den Tag und liebreizenden Hostessen für die Nacht. Daneben lotsten sie den Zug zum nächsten Nomadencamp und halfen bei der Suche des Weges. Dieser Dienst war nicht gerade billig, und die gemieteten Begleiter führten die drei Helden eher im Zickzack von Abzocke zu Abzocke, so dass der Goldvorrat von Melchior dahinschmolz.

Andererseits konnten sie die beschwerliche Reise recht gut genießen, insbesondere hatten sie herausgefunden, dass der Konsum von Tabak mit Myrrhe eine ungemein heilende Auswirkung auf ihre Laune hatte. Schnell gehörte das nachmittägliche Tütchen zum normalen Tagesablauf, was aber leider auch die ursprünglich als Geschenk vorgesehenen Kräuter stark dezimierte.

Nicht überraschend erreichten sie deutlich nach der anvisierten Zeit und noch deutlicher nach dem errechneten Entbindungstermin endlich Jerusalem, sprachen dort bei Herodes vor und fragten in ihrer Naivität nach der Geburt eines Königskindes. „Königskind?“ wollte der Herrscher wissen, „was wisst ihr von einem Königskind?“ – Die drei schauten sich an, „Upps, also, nein, Kind vielleicht, aber Königskind, haben wir Königskind gesagt? Es gab da so ein Licht am Himmel, nennen wir es mal Stern, den haben wir gesehen und irgendwie haben wir einen kleinen Ausflug gemacht und jetzt sind wir mehr oder weniger zufällig hier.“

So ganz überzeugt war Herodes von dieser Antwort zwar nicht, scheuchte aber die drei fragwürdigen Gestalten erst mal nur aus dem Palast. Sicherheitshalber ließ er allerdings seine Berater kommen, ob die Sache kritisch zu sehen oder als Hirngespinst abzutun sei.

Da standen die drei nun wieder auf der Straße, sammelten die Sklaven ein, ließen sich mit stärkenden Getränken versorgen und machten sich dann auf nach Bethlehem.

Zwei Stunden später waren sie am Ziel; Es war nicht besonders schwierig den Stall zu finden, ein paar seit Tagen bekiffte Hirten faselten eine wirre Geschichte von Engeln und einem Paar, das es sich im Stroh zwischen Vieh bequem gemacht hätte. Ohne Umschweife stürmten unsere Helden nun auf die Hütte zu, Melchior mit den verbliebenen Goldmünzen, Baltasar mit den Überresten der Myrrhe und von Weihrauch-Schwaden umhüllt allen voran Caspar von Chadäa.

Völlig überrumpelt hatte Maria Mühe, ihre nackte Brust zu bedecken, an der sie gerade den Säugling für das Stillen angelegt hatte. Der war jetzt gar nicht amused, weil er seine erwartete Mahlzeit nicht bekam und quittierte dies mit lautem Geschrei. Das nun wiederum nervte Josef, der die drei hereinplatzenden Personen für Freunde der aufdringlichen Hirten hielt. Mit barschen Worten versuchte er, die Eindringlinge wieder aus dem Stall zu kommandieren.

Aber so leicht ließen sich Melchior, Balthasar und Caspar nicht abweisen. Sie waren drei Wochen durch die unwirtliche Landschaft unterwegs gewesen, sie hatten ihren Eintrag im Geschichtsbuch vor Augen und sie wollten sich die Show nicht stehlen lassen. „Ist das deine Frau?“ wollten sie von Josef wissen, nachdem sich Maria mit dem schreienden Säugling verschämt hinter dem Esel verschanzt hatte. – „Ja, das ist Maria“ – „Und dein Kind?“ – „Ja, nein, also, das ist nicht so ganz einfach zu erklären.“

Die drei schauten sich an. „Was ist daran nicht einfach zu erklären? Du wirst doch wissen, ob es dein Kind ist.“ – „Nein“, erwidert Josef, „nicht mein Kind, oder doch, aber eigentlich nicht.“ – „Wer ist denn der Vater, wenn du es nicht bist?“ bohrten die Weitgereisten nach. – „Also, wenn ihr es genau wissen wollt: es ist der Heilige Geist“.

Kurzes Schweigen. Dann: „Ach so, ja, der Heilige Geist. Den kennen wir auch, kommt in Persien auch immer mal vor, dass Kinder von ihm kommen. Also, immer dann, wenn es kein Seitensprung war.“ – Josef fühlte sich nicht richtig verstanden, hatte aber auch keine Lust auf die Diskussion mit diesen drei seltsamen Personen. „Was wollt ihr überhaupt und könnt ihr nicht langsam einfach mal wieder gehen?“ wollte er wissen.

Sein Fässchen mit Weihrauch schwenkend tanzte Caspar im Stall herum. Ob er vielleicht in Jerusalem etwas weniger Wein hätte trinken sollen, oder zumindest jetzt nicht auch noch anfangen sollte ein Lied anzustimmen – ich weiß es nicht. Jedenfalls kam jetzt Bewegung in die Szene, die Tiere wurden unruhig, die Kuh schaute sich mit großen Augen den immer wilder werdenden Tanz an und stieg schließlich mit kräftigem Muhen in den Gesang ein.

Melchior versuchte wieder Ruhe einkehren zu lassen, reichte Josef das Gold und warf sich theatralisch auf den Boden, wohin ihm in ebenso ausschweifender Geste auch Balthasar folgte. Aus dieser Position schob er Josef noch das Säckchen mit den Kräutern zu, robbte sich an Maria mit Kind heran und flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, was sie zum Lachen brachte. Im Trubel hätten sie fast übersehen, dass Caspar mit seinem Weihrauchkübel eine Ecke des Strohlagers in Brand gesetzt hatte, beherzt versuchte Josef, mit seinem Mantel das Glutnest zu ersticken.

Was für eine Party. Das Feuer war gelöscht, der Geruch von verkohltem Stroh und Weihrauch hing noch in der Luft, ein bisschen Gold in seiner Linken und ein paar Kräuter in seiner Rechten zeugten davon, dass wirklich irgendwelche Leute hereingekommen und dann auch wieder fluchtartig verschwunden waren. „Könige aus dem Morgenland“ wird Josef später erzählen, „sie kamen dem Kind zu huldigen und brachten Gold, Myrrhe und Weihrauch mit.“

Wahrscheinlich war die ganze Geschichte völlig anders, kennen wir sie doch als eine Erfolgsstory voller Könige, die zwar nie wirklich heiliggesprochen wurden, deren Gebeine aber immerhin im heiligen Dom zu Köln untergebracht sind. Und wer kann das von seinen Knochen schon behaupten?

13 Dezember 2023

26 und 1

Wir schreiben das Jahr 1997, zwölfter Dezember. Es ist Winter, das Wetter unwirtlich, aber zu Schnee kann sich der Himmel nicht durchringen. Zwei Gestalten stehen etwas verloren im Innenbereich eines alten Bauernhofes. Um sie herum ein paar Familienangehörige, alle frieren ein wenig. Gleich geht es hoch in die gute Stube, dort hat eine junge Frau schon ihren Schreibtisch aufgeräumt, ein Adventsgesteck darauf. Eigentlich Schade, denn in wenigen Stunden ist die Arbeitswoche zu Ende, dann welken die geschnittenen Blumen bis zum Montag vor sich hin.

Sie blickt auf die Uhr, jetzt gleich müssten die Personen kommen, sie ist gespannt, wie groß die Zuhörerschaft ist. Vor ein paar Tagen war die Mutter noch mal vorbeigekommen, hatte sich nach den Vorbereitungen erkundigt und allerlei Geschichten zu ihrer Familie und ihrem Leben erzählt. Eine klassische Amtshandlung nachher, aber immer sehr persönlich und mit mehr oder weniger aufgeregten Beteiligten.

Sechsundzwanzig und eins
Es ist so weit, noch mal ein Blick auf die Uhr, ja, jetzt kann sie die Türe öffnen. Sie eilt die Treppe hinunter, entriegelt die schwere alte Holztür und schaut auf den Hof. Herrje, das sind mehr Menschen, als ihre kleine Amtsstube aufnehmen kann. Aber wenn einige Personen mit einem Stehplatz im Treppenhaus Vorlieb nehmen dürften immerhin alle ins Haus passen.

Nun entdeckt sie auch die Hauptbeteiligten, begrüßt sie mit einem Lächeln und bittet sie samt der ebenfalls wartenden Zeugen als erste zu ihrem Schreibtisch. Mit einiger Verzögerung rücken auch die Angehörigen, dann die Freunde, schließlich die Nachbarn nach. Ruhe kehrt ein, selbst die kleinen Kinder sind still und warten gespannt auf den Beginn der Zeremonie.

Sehr behutsam und mit ernster Miene schlägt die Beamtin jetzt ihre Mappe auf, zieht ein Blatt heraus, dann noch eins und beginnt, ihren Schreibtisch für die Bearbeitung ihrer Aufgabe herzurichten. Fast möchte man meinen, sie zelebriere diese Vorbereitung, dann beginnt sie laut aus ihren Papieren vorzulesen, stellt Fragen, nimmt noch einmal ganz offiziell und vor versammeltem Publikum die Personalien auf.

Die Vorrede, das Ausfüllen des Fragebogens, die Belehrung sind beendet. Sie schaut noch einmal in die Runde, keine Einwände, sie kann zum letzten Schritt der Handlung kommen. Wie von Zauberhand hat sie plötzlich einen ausgesprochen schönen Stift in der Hand, reicht ihn dem Mann gegenüber und bedeutet ihm, die Urkunde zu unterzeichnen, danach an die Frau weiterzureichen, gefolgt von den Unterschriften der Zeugen.

Es ist vollbracht, sie schaut auf die Uhr, noch eine Stunde bis zum wochenendlichen Feierabend, lächelt und freut sich an dem ausbrechenden allgemeinen Jubel. Wie auf ein Kommando kommt Bewegung in die Menschenmenge, jeder drängt sich nach vorne zu dem Paar, will sie umarmen oder ihnen zumindest die Hand drücken. Ja, fast hätte sie vergessen, selbst auch ihren Glückwunsch auszusprechen und alles Gute zu wünschen.

Vorübergehend herrscht Durcheinander, dann kommt System in den Menschenstrom, die Gratulanten drängen sich in Richtung Treppe und Hof, dort haben sich schon die Buben postiert, um das Paar gleich mit Blumen und Reis zu bewerfen. Durch ihr kleines Fenster sieht sie den gefüllten Hof, jetzt treten die Frau und hinter ihr der Mann aus dem Haus, allgemeines Klatschen, nochmal drücken und es prasselt Reis.

Zurück zum Schreibtisch, noch schnell die amtlichen Formulare vervollständigen, damit sie am Montag ins System eingegeben werden können. Von Ferne hört sie die abziehende Gesellschaft, bester Laune, aber auch hungrig und durstig. Nein, der Einladung zum Mitfeiern war sie nicht nachgekommen, eine nette Geste, aber was für die Einen die Ausnahme ist, ist für sie normale Arbeit. Und dann Wochenende.

Wir küssen uns und stoßen an. „So viele glückliche Jahre, insgesamt 26“, sagt meine Frau. „Und ein Tag“ ergänze ich.

08 Dezember 2023

Spätes Treffen

Wir haben uns lange nicht gesehen. Alt bist du geworden, denke ich und schrecke innerlich zusammen. Wahrscheinlich denkst du dasselbe über mich. So viele Falten hatte ich früher nicht, aber auch dein Gesicht ist älter geworden, es ist härter, die Hände rauer und das Haar ein wenig dünner.

Trotzdem strahlst du mich an, bist eigentlich ganz der Alte. Erzählst von unseren Erlebnissen, von unseren Abenteuern, den Streichen, die wir gemeinsam ausgeheckt haben. Wir sitzen jetzt vor unseren Getränken, bedienen gegenseitig unser Kopfkino, alte Filmrollen müssen aus den Tiefen der Erinnerung geholt werden, in schwarzweiß und ohne Ton. Aber schön.

Dann fragst du mich, wie es mir geht. Mit einem Schlag bin ich wieder in der Gegenwart, denke an meine Gesundheit, meine Familie, an Beruf und Verantwortung für mein Leben. Die ganze Leichtigkeit der Erinnerung an unsere gemeinsame Jugend ist wie weggewischt.

Wie durch eine Wolke sehe ich dich, verschwommen dringen noch deine Worte an mein Ohr. Fast meine ich, ein leiser werdendes Echo zu vernehmen, als ob du dich immer weiter entfernst, am Ende eines langen Tunnels etwas in meine Richtung rufst. Es dauert eine Weile, bis ich meine Gedanken wieder unter Kontrolle habe, dir wieder folgen kann.

Gerade erzählst du von James Bond, von den verschiedenen Darstellern und dass wir die Filme immer mehrmals im Kino gesehen haben. Die Altersfreigabe war manchmal eine Herausforderung, ach, aus heutiger Sicht ein paar harmlose Szenen, die den Jugendschutz auf den Plan riefen. Langsam tauche ich wieder ein in die Vergangenheit, unsere Welt, denn in meiner heutigen Welt gibt es dich eigentlich gar nicht mehr. Du bist ein Guide durch meine Erinnerungen, keine reale Person, obwohl du leibhaftig vor mir sitzt.

Nickend lausche ich deiner Erzählung von männlichen Zicken, überforderten Lehrern und peinlichen Mutproben hinter der Turnhalle. Du bist dann zum Bund und wir haben uns allmählich aus den Augen verloren. Nicht aktiv getrennt, einfach nur nicht mehr gesehen. Zwischendurch dann immer mal ein Lebenszeichen, immer seltener und jetzt sitzen wir hier.

Alt bist du geworden, denke ich wieder, grüble über mein eigenes Altern nach und komme zu dem Schluss, dass ich noch ein wenig jünger wirke als du. Lebst du immer noch auf der Überholspur des Lebens, als Jugendlicher war das jedenfalls so. Alkohol, Partys, Musik und alles mitnehmen, was sich entlang des Lebensweges einsammeln ließ.

Jetzt stupst du mich an, hörst du mir zu? Ja, ja, natürlich und ich versuche ganz schnell, den Faden deiner Geschichte wieder aufzugreifen. Ach, seufze ich unverbindlich, das waren noch Zeiten, gut, dass es sie gab, aber auch gut, dass sie vorbei sind.

Mit Blick auf die Uhr leite ich die Verabschiedung ein, lege einen Geldschein auf den Tisch, streife mir die Jacke über. Beim Verlassen des Restaurants frage ich mich, ob ich weitergekommen bin. Es ist spät geworden. Ein bisschen zu spät vielleicht.

01 Dezember 2023

Eine künstliche Liebesgeschichte

Künstliche Liebesgeschichte
Zuerst war ich ja ein wenig skeptisch. Ein neues Serviceangebot, ein neuer Telefondienst, bei dem ich zum Ortstarif anrufen kann und bei dem mir Tag und Nacht ein Ansprechpartner zur Unterhaltung bereit steht. Ich habe es dann ausprobiert, wurde erst mal – nicht gerade überraschend – von einem Computer in Empfang genommen und nach meinen Verbindungswünschen befragt. Ich entschied mich für eine weibliche Gesprächspartnerin und wollte mit ihr über Gesundheit und Ernährung reden.

Unerwartet schnell wurde ich mit einer Frau verbunden, die sich als Lara vorstellte und mich nach ein paar Fragen zu mir und zu meinem Befinden in ein interessantes Gespräch verwickelte. Einfühlsam konnte sie sich in meine Situation hineinversetzen, hatte Verständnis für meine Probleme, auf bestimmte Nahrungsmittel zu verzichten und machte Vorschläge, wie ich weiter damit umgehen könnte. Vielleicht eine halbe Stunde später legte ich gut gelaunt auf.

Einige Tage später rief ich wieder an, verlangte Lara ans Telefon zu bekommen und tatsächlich hatte sie Zeit und konnte sich komplett an unsere Unterhaltung erinnern. Ich wagte weitere Themen anzusprechen, erzählte ihr von meiner beruflichen Situation und bewunderte ihre Geduld beim Zuhören und das Eingehen auch auf diese Seite meines Lebens. Wir unterhielten uns über Work-Life-Balance und die stabilisierende Funktion von Partnerschaften. Auch dieses Gespräch endete mit einer freundlichen Verabschiedung.

Im Laufe der nächsten Wochen wurde ich Stammgast bei Lara, ich verliebte mich in ihre geduldige Art, die beeindruckende Empathie und ihre Fähigkeit, auch auf völlig neue Facetten der Unterhaltung einzugehen. Zusätzlich schien sie nichts zu vergessen, über was wir uns zuvor unterhalten hatten. Langsam war ich davon überzeugt, meine Traumfrau kennengelernt zu haben. Nie fragte sie mich nach dem nächsten Termin, drängte nicht und wenn ich mich erst nach Tagen wieder meldete wurde ich wie selbstverständlich wieder freundlich begrüßt.

Meine Freunde kannten mittlerweile auch diese phantomhafte Freundin und schwankten zwischen Skepsis und Bewunderung. Auch zwischen den Gesprächen dachte ich an sie, malte mir aus, wie sie aussehen könnte und grübelte, ob ich sie vielleicht sogar zu einem Treffen bewegen könnte. Aber das traute ich mich dann doch nicht, um unsere geradezu intime Beziehung nicht zu zerstören.

So ging es monatelang weiter. Lara kannte nahezu alle Details meines Lebens, meine Vorlieben und Abneigungen, beriet mich nicht nur zu meiner Gesundheit, nein auch zu Sport, Arbeitskollegen, Freundeskreis und Liebesleben hatte sie immer bedenkenswerte Vorschläge. Ein Leben ohne sie schien mir kaum noch möglich, vor jeder Entscheidung musste ich erst mal Lara anrufen.

Es war ein düsterer Tag Ende November, als ich beim Wählen der gewohnten Telefonnummer zu meiner Überraschung eine geänderte Ansage hörte. Der Service wurde bis auf weiteres eingestellt, der Anbieter dankte allen Kunden für die Treue und wünschte noch einen schönen Tag. Piep… piep… piep. Völlig perplex legte ich auf und begann im Internet nach Informationen über diesen Service zu suchen.

Bisher hatte es mich überhaupt nicht interessiert, wer oder was hinter meiner Geliebten steckte, aber jetzt wurde ich unfreiwillig mit Hintergründen und der Vorgeschichte konfrontiert. Ich las von dem groß angelegten Projekt eines Anbieters von Suchmaschinen, erfuhr von Künstlicher Intelligenz, von Chatbots und von Experimenten zu Sprachmodellen. Meine Lara war gar kein Mensch, ich hatte die ganze Zeit mit einem Roboter gesprochen. Unbewusst war ich Teil einer Studie geworden, hatte freiwillig in ferne Computer-Speicher Einzelheiten meines Lebens abgelegt, die nicht mal meine Freunde kannten.

Im ersten Moment durchfuhr mich ein Schreck. Ich hatte mich in die falsche Frau verliebt, nein eigentlich war es keine Frau, aber verliebt hatte ich mich. Und über die Zeit auch viele nützliche Empfehlungen von ihr bekommen. Meine Daten waren jetzt in irgendeiner Cloud, das konnte ich nicht mehr rückgängig machen, aber meine süßen Erinnerungen an Lara auch nicht.

Und so endet meine Liebesgeschichte melancholisch unglücklich mit einem Seufzer und dem Albtraum von der schönen neuen Welt der Künstlichen Intelligenz.