„Mir ist kalt“, sagt der Schneemann und wendet sich so gut er kann mit seinen langen Ast-Armen an den Eiszapfen. „Was soll ich denn erst sagen“, erwidert dieser, „ich hänge schon seit Tagen hier herum, und im Gegensatz zu dir hat mich auch noch keiner angeschaut.“
Dabei fröstelt es ihn von innen heraus. Ach, wenn doch das Tauwetter käme, das würde dem Dauerfrieren ein Ende machen. Er weiß, dass es sein Tod ist, wärmer wäre es, aber sein Dasein als Eiszapfen hätte auch ein Ende.
„Freust du dich auf das Abnehmen?“, will er vom Schneemann wissen, dessen Figur nun wirklich nicht gerade vorbildlich ist. „Das kannst du wohl laut sagen, irgendwie liegt meine Unförmigkeit in meiner Natur, steckt wohl in den Genen. Schon als die Kinder mich aus dem Schnee entstehen ließen, als sie mich gerollt und gekugelt haben, den kugeligen Oberkörper auf den kugeligen Unterleib gehievt, schon da hätte mich mir ein paar Hände gewünscht, die mir eine schlanke Hüfte und ansehnliche Beine modellieren.“
„Ach Gott, ja“, meint der Eiszapfen, „man hat ja nie die Figur, die man sich wünscht. Meine schlaksige Erscheinung ist mir auch in die Wiege gelegt, viel zu lang, viel zu dürr, ein kaum messbarer BMI und jedes Abnehmen ist lebenskritisch.“ Dabei gibt ihm die Dachrinne Halt, versorgt ihn und seine Kameraden immer mal wieder mit flüssigem Nachschub, der unverzüglich vereist und damit seine Existenz schon seit Wochen sichert.
„Mir ist kalt“, wiederholt der Schneemann, „auch wenn ich den Winter liebe und mit den anderen Jahreszeiten überhaupt nichts anfangen kann.“ – Einen Moment herrscht Stille, dann hört man Kinder in der Nähe spielen, johlen, fahren sie Schlitten? oder machen sie sich einen Spaß daraus, unsere beiden Helden zu necken und mit ihnen ein Spiel zu treiben?
Tatsächlich trifft ein Schneeball jetzt den Schneemann, „in Deckung!“ ruft er dem Eiszapfen zu, aber der kann sich so wenig von seiner Dachrinne lösen, wie der Schneemann davonlaufen kann. Wieder ein Schneeball „Autsch!“, das hätte leicht ins Kohle-Auge gehen können, schlimmer noch: beinahe hätte es die Rübennase erwischt.
„Wenn sie uns doch in Ruhe ließen, der Winter dauert noch ein paar Tage, so klar und frostig hier, da frieren wir doch gerne. Immer mal ein paar Schneeflocken von oben, ein paar Tropfen Wasser aus der Rinne, was will man mehr?“ Der Eiszapfen hat die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als auch ihn ein Schneeball trifft. Sein magersüchtiger Körper kann dem Aufprall nichts entgegensetzen, mit trockenem Knack! bricht er ab, stürzt hinunter in die Schneewehe unter dem Dachvorsprung.
„Wie geht es dir, so sag doch was, ist alles in Ordnung?“ will der verängstigte Schneemann wissen. Er schert sich nicht darum, dass die Buben und Mädchen jetzt ihn als Ziel ausgemacht haben, er mit Schnee beworfen, eingeseift, verunstaltet wird. Wenn das Wetter es zulässt, wird er sich sofort auf den Weg machen, dahinschmelzen für seinen lieben Eiszapfen und mit den dann abgesunkenen Zweigarmen im verbleibenden Schnee nach ihm stochern.
[Andere Blogs: Interdisziplinäre Gedanken, Dienstliche Glossen]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen