21 April 2020

Kirschen


Vorhin haben wir mit den Nachbarskindern auf der Straße gespielt. Zuerst Räuber-und-Gendarm, dann Mau-Mau. Langsam kommt der Nachmittag, wir sind in eurem Garten und liegen im Schatten unter dem Kirschbaum. Über uns ziehen ein paar Wolken dahin, Du erzählst mir, welche Figuren Du darin siehst. Ich bin ein wenig abwesend, rieche das Gras, irgendwelche Kräuter und die Hitze des Sommers.
Während Du Dich auf die Seite drehst und den Kopf aufstützt, redest Du weiter, berichtest von Wolkenungetümen, Monstern und Feen am Himmel. Deine Haare leuchten in der Sonne und einzelne Strähnen schimmern wie Goldfäden.
Ich sage „Mund auf, Augen zu“ und stecke Dir eine heruntergefallene Kirsche in den Mund. Kichernd spuckst Du den Kirschkern aus und blinzelst mich an. Ich schaue auf Deine Lippen und frage mich, ob die nach Kirschen schmecken. Wo habe ich das eigentlich mal gehört. Meine Gedanken kommen durcheinander. Eine kleine Wolke schiebt sich vor die Sonne und Du drehst Dich wieder auf den Rücken, um sie zu betrachten.
Irgendwas ist heute anders, eigentlich will ich Dich fragen, ob Du weißt, warum Lippen nach Kirschen schmecken sollen. Aber ich kriege kein Wort raus, mein Gesicht wird immer wärmer und meine Gedanken beginnen zu kreisen.
Jetzt hast Du gemerkt, dass ich ungewöhnlich still bin, mit flinker Bewegung sitzt Du auf mir und spielst „Totdrücken“. Deine Haare fallen in mein Gesicht, kitzeln meine Nase, riechen nach Dir und nach Sommer und nach Kirschen. Das Karussell in meinem Kopf beschleunigt, die Wolken durch Deine Haare vermischen sich mit der Hitze und den Kirschen, immer wieder Kirschen.
Du beugst Dich vor, Dein Mund kommt näher, ob Du etwas gemerkt hast? Neugierig schaust Du mir in die Augen, einen Moment lang, einen sehr langen Moment, nimmst meinen Kopf zwischen Deine Hände. Überall sind Haare, die Wolke ist weg und sie strahlen wieder golden. Noch einmal blinzelst Du mich an, dann richtest Du Dich ruckartig auf, wirfst den Kopf in den Nacken und rufst „Bonanza“, während Du mit den Fäusten auf meine Brust trommelst.
Im nächsten Moment springst Du auf und läufst und hüpfst in Richtung Haus, um uns eine Limonade zu holen. Ich schaue Dir nach und sehe die roten Flecken, die die zerdrückten Kirschen auf Deinem Kleidchen hinterlassen haben. Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.

13 April 2020

Ostern – dieses Jahr verhalten optimistisch


Tja, liebe Geistliche, was soll ich sagen: Was ihr im besten Wortsinne seit Jahrhunderten predigt, ist dieses Jahr mal für alle fühlbar. Die gesamte Ostergeschichte für menschliches Zwangsverständnis aufbereitet.
Die biblische Überlieferung in ihrer komprimierten Form zählt drei Tage auf, vom letzten Abendmahl (letzter gewohnter Alltag) über den Leidenstag (Karfreitag) weiter zur Hoffnung und schließlich der Einstieg in eine neue Phase durch ein nie dagewesenes Ereignis: Die Auferstehung von den Toten.

In der deutlich verlängerten Fassung erleben wir derzeit nichts Anderes. Das Leben auf der Welt lief so vor sich hin, jedes Land, jedes Individuum hatte mehr oder weniger seinen Alltag. Dann trat ein Virus in die menschliche Population und führt zu überraschend umfangreichen Reaktionen. Es kam und kommt zum Stillstand ganzer Wirtschaftszweige, Ärzte haben alle Hände voll zu tun, Politiker auch und – zumindest in den Kulturnationen – ist keine Person von den Auswirkungen ganz verschont.

Wir haben also den Corona-Karfreitag hinter uns, der Corona-Samstag zieht sich dahin. Wir beten und bangen und hoffen, wir schauen hilflos, wenngleich nicht tatenlos, der aktuellen Entwicklung zu. Und sehnen uns nach dem erlösenden Fortschritt, dem Corona-Ostersonntag, an dem wir wiederauferstehen.

Und tatsächlich: Zumindest für Deutschland scheint Stand der heutigen Zahlen des Robert-Koch-Instituts Licht am Ende des Tunnels, erhält unsere Hoffnung auf ein Ende der schweren Zeit wie durch Zufall gerade am christlichen Osterwochenende Nahrung. Wir dürfen verhalten optimistisch sein.

Doch nicht nur das, wir lernen aus der Ostergeschichte auch, dass sie zur Entstehung einer einzigartigen Verbreitung von Religionen, Kirchen, Glaubensrichtungen geführt hat. Der Aufbruch in eine kulturell andere Ordnung. Was nach dem Tal der Tränen für Jesus Christus für die Christenheit folgte, kann uns also durchaus Vorbild sein

Nach dem Durchstehen der Corona-Pandemie haben wir die Chance, neue und im Idealfall auch noch bessere Ordnungen, Zusammenarbeiten und nachhaltige Zukunftsgestaltungen hinzubekommen. In diesem Sinne wünsche ich allen Frohe Ostern – verhalten optimistisch.

10 April 2020

Was am Ende der Tage übrigbleibt


Du bist schon von uns gegangen. Ein paar Tage noch – vielleicht – und auch Dein Körper wird die Gemeinschaft der Menschheit verlassen.

Nach vielen Jahrzehnten, geradezu grotesk lange Zeit über Perioden der Bekanntschaften, Jahrzehnte mit Verwandten und Weggefährten hinaus, wirst Du als Rädchen im großen Getriebe dieses Planeten, auf ein Leben zurückblicken können, das, wie mir ein Freund einmal erklärte, nicht nur, wie er sich ausdrückte lebenswert, sondern auch inhaltsreich und ereignisreich im Sinne ständiger Bewegung und aufmerksamer Begleitung in und mit der Familie zu sehen sei, was ich naturgemäß als Teil der Familie und damit auch Bestandteil des Systems nur bedingt beurteilen kann.

Jedoch ist es für mich unstrittig, dass mehr als ein Tagwerk, vielmehr ein Lebenswerk hinter Dir liegt, welches Du wie immer wieder betont als Geschenk Gottes, an dem Du in Deinem festen Glauben durch alle Irrungen und Wirrungen festgehalten hast, zu sehen pflegtest und dabei neben einer gelebten Frömmigkeit dennoch, und zwar in besonderem unter Einfluss Deines Mannes, meines Vaters, die Religiosität nie in Starrheit ausgeübt hast.

Überhaupt war mein Vater einer der wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste Anteil an Deinem Leben, als Partner von unschätzbarem Wert, in seiner Intellektualität unentbehrliche Ergänzung und die finanzielle, kulturelle und geistige Triebfeder für ein ansonsten sehr bodenständiges Leben, das Du in Deiner Sorge um den Aufbau von Distanz gegenüber einfacheren Mitmenschen, im oberbergischen Heimatdorf wie auf den Straßen und dem Wochenmarkt, ansonsten unter Niveau geführt hättest.

Der Tag endet so sanft, wie Du es Dir unter Eindruck des Ablebens Deiner Mutter gewünscht hast, vergleichbar unaufgeregt kommt in gemessenem Schritt der Tod zu Dir, hat sich schon vor einiger Zeit an Dein Bett gesetzt und schaut Dir in aller Ruhe, die er sich für jede Seele nimmt, zu, während Du in den letzten Monaten noch einmal die Gelegenheit genutzt hast, wegen des versagenden Augenlichtes auf die Erinnerung angewiesen und damit in vielfältiger Form mit der Vergangenheit beschäftigt, noch einmal das Revue passieren zu lassen, was Du in zunehmender Demenz noch abrufbar hattest.

Durch Dein Leben zieht sich neben der Vielfalt kleiner und großer Erlebnisse ein Charakter, der mal mehr, mal weniger ausgeprägt für zahlreiche Irritationen, Verstimmungen und sicher aus Deiner Sicht, die manchmal geprägt von gut gemeinten Glaubenssätzen nur einen Teil der Realität erfassen wollte, oder in manchen Fällen auch gezielt, wenngleich selten offenkundig angriffslustig, überraschende Konflikte hervorrief und damit an breiter Front Abwendung bis zu nachhaltiger Feindschaft hervorgerufen hat.

Ein Ende also am letzten Deiner Tage, das begleitet wird von wenigen Menschen, die Dir aus Pflichtgefühl, aus verwandtschaftlichem Grund oder aus Höflichkeit etwas erweisen, was der Volksmund als letzte Ehre bezeichnet, was in Deinem Fall ein schönes Bild ist, macht es doch Anspielung auf die Verdienste von Kriegern, die auf einem Schlachtfeld ihr Leben gelassen und damit den offensichtlich für sie bestimmten Lebenszweck erfüllt haben, wie Du Deinen Lebenszweck im Dienste, gleichzeitig aber auch unter Nutzung der Fürsorge durch die engste Familie, erfüllt hast.

Womit ich Dir abschließend in meinen Gedanken, die ich Dir seit vielen Jahren regelmäßig widme, die wir in unzähligen tiefen Gesprächen ausgetauscht und gerade auch nach dem Tod meines Vaters intensiv diskutiert haben, zurufe, Du mögest in Frieden ruhen und die Verwerfungen, die durch Dich entstanden sind mitnehmen in Dein Grab, um so den Weg freizumachen für eine Zukunft Deiner Kinder in einer Harmonie, die Du zwar immer propagiert, aber oft durch Taten konterkariert hast.