07 Februar 2025

Erzähl mir deine Geschichte

Erzähl mir deine Geschichte
Ich sitze im Hotelzimmer, ein Arbeitstag liegt hinter mir, eine einsame Nacht vor mir. Auf dem kleinen Bürotisch mein Laptop, Maus und ein Notizblock. Daneben ein paar Pillen, die mir den Aufenthalt verschönern sollen. Keine wilden Dinge, aber was man so im Drogeriemarkt bekommt: aufhellende Koffeintabletten, nervenberuhigendes Johanniskraut, einschläfernder Hopfen. Ein paar der Tabletten sind heruntergefallen, liegen jetzt verstreut auf dem Boden, ich bücke mich, um sie aufzuheben.

Gerade ist ein Reporter bei mir, will für irgendein Lokalblatt ein Interview mit mir führen. Meine spannende Lebensgeschichte hören, sie ein wenig spektakulärer ausarbeiten und den Lesern zum Fraß vorwerfen. Er hält mir sein Mikrofon unter die Nase, "erzählen Sie mir Ihre Story". Doch es gibt kaum etwas zu erzählen, ich lasse ich ihn an wenig aufregenden Erinnerungen aus meiner Kindheit teilnehmen, berichte ein paar Erlebnisse meiner Schulzeit. Gelangweilt hört er mir zu, wartet auf exklusive Enthüllungen, sensationelle Erfahrungen oder einzigartige Szenen.

Die großen Taten kann ich ihm nicht anbieten, es sind die kleinen Lebensgeschichten, die mich geformt haben. Die Vielzahl von fast selbstverständlichen Szenen, die am Ende eine Veränderung in mir bewirkt haben. Er schaut aus dem Fenster, "ja", sagt er, "das ist wirklich höchst interessant" und will dann wissen, wie viele Klicks ich denn mit meinen Veröffentlichungen erreiche, wie viele Follower ich habe. Langsam werde ich unsicher, ob er mir überhaupt zugehört hat. Oder liegt es an mir, und ich werde langsam verrückt?

Auf dem kleinen Bürotisch findet sich noch eine Flasche Whiskey, ein paar Eiswürfel sind im Glas, es scheint mich anzulachen. Ein kräftiger Schluck rinnt mir durch den Hals, ich fühle, wie mich eine tiefe Gleichgültigkeit erfasst. Soll er doch schreiben, was er will. Was gut für ihn ist, was seine Leser lesen wollen.

"Oh", sage ich, "mein Bestseller ist über fünftausendmal aufgerufen worden. Über die Anzahl der Likes, der Kommentare, Erwähnungen und Verknüpfungen kann ich leider nichts sagen." Was ich auch gar nicht möchte. Es ist ein ganz eigener Kosmos, die Online-Konsumenten sind ein scheues Wild, lassen sich höchst ungern beim Lesen beobachten. Und wenn sie sich schon äußern, dann vorwiegend anonym. Niemand weiß so genau, warum der eine Artikel viral geht und der andere kaum Beachtung findet. An der inhaltlichen Qualität scheint es jedenfalls nicht zu liegen.

Mittlerweile dämmert es, der Reporter gähnt dezent, klappert seine typischen Themen ab und versucht nach besten Möglichkeiten, meinem langweiligen Leben einen Hauch von Extravaganz zu verpassen. Vielleicht ist mein Liebesleben ja berichtenswert, habe ich schockierende Praktiken, die ich heimlich auslebe. Oder es gibt ein Parallelleben, in dem ich nachts zum Werwolf werde. Drogen schmuggle. Kleine Kinder erschrecke. Oder eingängliche Tipps für das tägliche Leben oder eine außergewöhnliche Karriere in Petto habe.

Einen Schluck später bin ich soweit. Ich gebe ihm alles, was er will, phantasiere von exotischen Wertpapieren, erläutere ihm von nahezu unbekannten Sportarten, berichte ihm, wie ich auf Hawaii bei einem Ausflug einen uralten Eingeborenen kennengelernt habe, der mir einen magischen Zahn geschenkt hat. Und von der bildhübschen Latina, die mir diesen magischen Zahn gegen ihre Jungfräulichkeit abgeknüpft hat.

Jetzt wacht er auf, hält mir wieder sein Mikrofon unter die Nase, murmelt etwas von Vertrauen und will wissen, ob ich etwas von meiner Aura und meiner esoterischen Energie weitergeben könnte. Was wäre die Botschaft, die er seinen Lesern mitgeben soll? "Der Leser", sage ich, "der Leser ist der König. Er bestimmt, was geschrieben wird. Nicht umgekehrt." Verdutzt schaut er mich an. Es dauert einen Moment, bis er sich wieder fängt, dann meine ich zu erkennen, dass er zum ersten Mal an diesem Abend etwas verstanden hat. Mein Mitleid mit ihm. Vielleicht auch meine Arroganz, jedenfalls aber meine Resilienz gegen seinen impertinenten Wissensdurst.

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