Intro
Am Kassenband im Supermarkt. Vor mir steht ein Mann mit Pferdeschwanz, Outdoorjacke und einer leicht verwitterten Mütze auf dem Kopf. Er lädt den Inhalt seines hoch gefüllten Einkaufswagens auf das Band, ohne Zweifel ist es ein Wocheneinkauf mit allerlei Gemüse, Obst, Brot und diversen Backzutaten. Ich male mir aus, was er wohl aus den Zutaten alles bereiten wird, stelle mir vor, ob er kochen und backen kann, oder ob es eine andere Person in seinem Haushalt gibt, die den Einkauf zu Malzeiten verarbeitet.
Ich hole mein Handy heraus, um die Kundenkarte aufzurufen und mich gleich auf das Be- und Entladen des Kassenbandes konzentrieren zu können. Nach dem Starten der App schaue ich wieder hoch und wundere mich darüber, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz verschwunden ist. Oder hat er sich in die Blondine verwandelt, die jetzt vor mir ist? Nein, tatsächlich ist der Outdoor-Man noch vor mir, nur dazwischen ist jetzt eine weitere Person in der Schlange. Ähm, wie konnte das sein?
Ende 1
Variation / Ende 2
Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Aber das verwerfe ich wieder, schließlich fehlt das Trennholz zwischen unseren Einkäufen auf dem Kassenband. Ganz vorsichtig spreche ich den Rücken mit "Entschuldigung, hatte ich Sie vorgelassen?" an, die Frau wirbelt herum und wird rot. "Oh", stammelt sie, "ich war wohl in Gedanken und habe Sie gar nicht gesehen." Mit einem verführerischen Augenaufschlag setzt sie nach "darf ich trotzdem von Ihnen bleiben?"
Wie sollte ich da wiederstehen, es war zwar ein ziemlich plumper Antritt, aber naja, ich verliere nicht viel Zeit und mit dem Abnehmen meiner Verblüffung habe ich jetzt Gelegenheit, mich als großzügiger Mensch zu zeigen. "Das war zwar eigentlich nicht so vorgesehen“, sage ich ganz leise zu ihr, fast flüsternd, „aber wo sie schon mal da stehen und mit den paar Einkaufssachen dürfen Sie vor.“
Tatsächlich schafft sie es, noch einmal rot zu werden, also entweder ist sie eine begnadete Schauspielerin oder es ist ihr wirklich unangenehm. Jedenfalls schaue ich sie noch mal an, freue mich über meine Großherzigkeit, kann jetzt auch ihre hübschen Haare noch mal genießen und bin fast der Meinung, dass sie auch angenehm duftet. So in Gedanken versunken registriere ich nur am Rand, das meine Artikel jetzt vollständig auf dem Band sind, die App gestartet ist und der Kassiervorgang begonnen hat. Meine unfreiwillige Vorkundin dreht sich noch mal um, nickt mir freundlich zu und wünscht einen guten Tag – den ich jetzt bestimmt haben werde.
Variation / Ende 3
Ganz vorsichtig spreche ich den Rücken mit "Entschuldigung, hatte ich Sie vorgelassen?" an, aber keine Reaktion. Ich wiederhole meine Frage noch einmal, wieder keine Reaktion. Das finde ich ja jetzt schon ziemlich ärgerlich, erst vordrängeln und sich dann auch noch blind und taub stellen.
Einen Schritt vor, ich tippe der Frau auf die Schulter. Sie dreht sich zu mir um, Sonnenbrille im Gesicht, aber sie scheint mich nicht zu sehen. Hat sie Drogen genommen oder sonstwie ausgeschossen? In diesem Moment sehe ich die Binde an ihrem Arm, die gelben Punkte signalisieren ihre Augenprobleme. „Ja?“ fragt sie, „Was ist denn?“
Es ist mir ziemlich peinlich, dass ich die Binde nicht vorher wahrgenommen habe, natürlich kann sie gar nicht gesehen haben, dass ich vor ihr am Kassenband stand. Natürlich kann ich sie jetzt nicht wegscheuchen, ihre paar Einkaufsteile soll sie mal vor mir bezahlen. Und ich kann sie auch nicht auf den Fehler hinweisen, vermutlich ist es ihr unangenehm, wenn ich sie darauf hinweise, dass sie durch ihre körperliche Einschränkung etwas falsch gemacht hat.
Ich suche nach einer Ausrede für mein Verhalten und sage: „Ach, ich wollte nur sehen, ob Sie noch mehr Platz für Ihren Einkauf auf dem Kassenband brauchen.“ Nicht ganz überzeugend, ich weiß, aber immerhin ist das Thema damit erledigt. Sie dreht sich wieder nach vorne und rückt ganz langsam in Richtung Kasse vor. Von dort kommt ihr jetzt ein junger Mann entgegen, der sich an dem Mann mit Pferdeschwanz vorbeidrückt und bei ihr stehenbleibt. „Wie bist du denn plötzlich so schnell nach vorne gekommen?“ will er wissen.
„Ich habe mal gefühlt und das Band war leer, da habe ich meine Sachen draufgelegt – wieso fragst du?“ – „Schon ok“, sagt der junge Mann, wendet sich zu mir mit entschuldigendem Gesichtsausdruck und will schon den Mund aufmachen, als ich nicke und eine beschwichtigende Handbewegung mache. „Alles gut“, sage ich. „alles gut.“