29 November 2024

Sechsender (1/4)

Intro

Am Kassenband im Supermarkt. Vor mir steht ein Mann mit Pferdeschwanz, Outdoorjacke und einer leicht verwitterten Mütze auf dem Kopf. Er lädt den Inhalt seines hoch gefüllten Einkaufswagens auf das Band, ohne Zweifel ist es ein Wocheneinkauf mit allerlei Gemüse, Obst, Brot und diversen Backzutaten. Ich male mir aus, was er wohl aus den Zutaten alles bereiten wird, stelle mir vor, ob er kochen und backen kann, oder ob es eine andere Person in seinem Haushalt gibt, die den Einkauf zu Malzeiten verarbeitet.

Ich hole mein Handy heraus, um die Kundenkarte aufzurufen und mich gleich auf das Be- und Entladen des Kassenbandes konzentrieren zu können. Nach dem Starten der App schaue ich wieder hoch und wundere mich darüber, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz verschwunden ist. Oder hat er sich in die Blondine verwandelt, die jetzt vor mir ist? Nein, tatsächlich ist der Outdoor-Man noch vor mir, nur dazwischen ist jetzt eine weitere Person in der Schlange. Ähm, wie konnte das sein?

Sechsender

Ende 1

Einen Moment denke ich überrascht nach, war die Frau vorher schon da und ich habe sie nicht gesehen? Aber das verwerfe ich wieder, schließlich fehlt das Trennholz zwischen unseren Einkäufen auf dem Kassenband. Ganz vorsichtig spreche ich den Rücken mit "Entschuldigung, hatte ich Sie vorgelassen?" an, aber keine Reaktion. Die Blondine schaut ungerührt nach vorne, legt noch die letzten Artikel aus ihrem Einkaufsbeutel auf das Band und tut so, als ob sie mich nicht gehört hätte.

Mein Blutdruck steigt, ich drücke mich um meinen Einkaufswagen herum und tippe der Frau auf die Schulter. Sie fährt herum, irgendwas zwischen überrascht und entrüstet, fast muss ich froh sein, dass ich keine Ohrfeige bekomme. In ihr wütendes Gesicht wiederhole ich meine Frage; Ohne darauf zu antworten keift sie lautstark herum und beschwert sich über meine Übergriffigkeit. Ohne mich aufzuregen will ich noch mal von ihr wissen, wie sie vor mich gekommen ist. Sie habe mich nicht gesehen, und was die Frage solle.

Ein Blick auf das langsam vorlaufende Kassenband zeigt ihre wenigen Artikel, es lohnt sich nicht, weiter mit ihr herumzustreiten. Da dreht sich der Pferdeschwanz vor ihr in Zeitlupentempo um. Schaut sie an, schaut mich an und sagt dann leise, aber völlig bestimmt "Der Mann war hinter mir, Sie haben sich vorgedrängelt. Stellen Sie sich hinten an." Jetzt ist es an der Blondine, irritiert zu schauen, eine überraschende Wendung der schon sicher geglaubten Mogelei. Maulend über die unrechtmäßige Verbündung der Männer schaut sie mich an, wohl erwartend, dass ich ihr Verhalten nachträglich legitimiere und ihr den Vortritt lasse.

Das hätte vorher vielleicht noch geklappt, aber weder möchte ich den Cowboy enttäuschen, noch ist ihre Art akzeptabel. "Sie haben es gehört, bitte stellen Sie sich hinten an" wiederhole ich die Aufforderung und schaue zu, wie sie schimpfend ihren Einkauf zurück in den Einkaufsbeutel packt. Vor mir entsteht jetzt eine Lücke und die Schlange hinter mir ist recht lang.

Wie zu erwarten bekommt sie jetzt Schützenhilfe von einer älteren Frau, die zwei Wagen hinter mir steht. Selbstverständlich lässt sie sie vor mit ihren paar Teilen und wie können die Männer heutzutage nur so unhöflich sein. Kein Wort davon, dass sie damit den Willen der hinter ihr wartenden Kunden ignoriert (die ja jetzt ungefragt auch die Blondine vorlassen müssen), kein Wort davon, dass meine ehemalige Vorgängerin mit ihrem Vormogeln erst den Ärger ausgelöst hat und damit die eigentlich Unhöflichkeit darstellte.

Wenige Augenblicke später ist der Mann abkassiert, meine Waren wechseln mit flinken Händen vom Band in den Wagen, ich bezahle und verlasse den Laden, ohne mich noch einmal umzuschauen. Im Theater würde man sagen "der Vorhang fällt", Ende der kleinen Szene, die aber in mir auch während der Heimfahrt nachwirkt.

22 November 2024

Das Märchen vom Zauberer und seinem Raben

Es war einmal ein Zauberer, der hatte einen großen schwarzen Raben. Eigentlich war der Zauberer überhaupt kein Zauberer, denn er konnte keine Wunder vollbringen, den Menschen keinen Zaubertrank verabreichen oder magische Vorgänge einleiten. Aber es gefiel ihm, einen spitzen schwarzen Hut zu tragen und mit seinem hageren Gesicht und dem langen Bart wirkte er tatsächlich ein wenig unheimlich.

Dazu kam, dass er in einem rustikalen Holzhaus wohnte, das am Waldesrand stand und von Zeit zu Zeit mit dem Rauch aus dem Ofen auf sich aufmerksam machte. Seine Leidenschaft war die Anfertigung von natürlichen Heilgetränken, er mischte Zutaten, zerkleinerte Kräuter und kochte allerlei Essenzen, die äußerlich oder innerlich Linderung bei den verschiedensten Krankheiten brachten. Die Rezepturen bekam er aus seiner über die Jahrzehnte zusammengetragenen Literatur, aber auch aus Experimenten, die er an sich, Tieren und manchmal Dorfbewohnern durchführte.

Wegen seines behutsamen Vorgehens und aufgrund seines enormen Wissensschatzes war er allseits beliebt und wurde gerne konsultiert, wenn es um die Behandlung körperlicher Gebrechen ging. Das war den Ärzten zwar ein Dorn im Auge, aber da es ihm immer gelang zumindest keine Verschlechterung, meist sogar eine deutliche Verbesserung herbeizuführen kamen sie in der Praxis nicht an ihm vorbei.

Eine sehr wichtige Hilfe war ihm sein Rabe. Diesen hatte er vor vielen Jahren schwer verletzt gefunden, weil er sich in einer Schlinge verfangen hatte. Irgendein böser Mensch hatte ihm eine Falle gestellt und er war mit einem seiner Füße in der Schlinge hängengeblieben. Beim Versuch sich zu befreien hatte er dann vor lauter Panik das Beinchen so stark verletzt, dass es sich nicht mehr bewegen ließ. In diesem bedauernswerten Zustand hatte der Zauberer ihn gefunden, aus der Schlinge herausgeschnitten und mit nach Hause genommen, wo er ihn wieder aufpeppelte.

Der Rabe war zunächst voller Groll über die gemeine Tat, die ihm zum Verhängnis geworden war. Noch während er in seinem provisorischen Nest langsam wieder zu Kräften kam, schimpfte er den lieben langen Tag über die Bösartigkeit der Menschen und seine Schmerzen. Sein Leben war zerstört, seine Lebensfreude genommen.

Abgesehen vom permanenten Geschrei des Vogels war der Zauberer über dieses traurige und lebensmüde Jammern sehr betrübt. Er begann, auf den Raben einzureden, auch wenn dieser ihn natürlich nicht verstand. Aber die Botschaft, die fortwährende Beschäftigung mit ihm und die beruhigende Stimme erzielten nach einiger Zeit eine heilende und aufbauende Wirkung. Nach einigen Tagen ließ das Geschrei nach und der Rabe begann, dem Zauberer zuzuhören.

Es dauerte Monate, bis er erste Brocken der menschlichen Sprache verstehen konnte, aber nach und nach kamen immer wieder einige neue Wörter dazu. Was er schon früh verstand, war die Aufforderung, sich nicht weiter in den nun mal unvermeidlichen Schmerz zu steigern. Vielmehr hatte der Zauberer eine neue Aufgabe für ihn ersonnen und wollte ihn als Bote neuer Rezepturen einspannen. Dafür wäre das zweite Bein zwar vielleicht hilfreich gewesen, es war aber nicht unbedingt notwendig.

Erste Flugversuche und halbwegs sanfte Landungen verliefen vielversprechend. Dem Raben wurde klar, dass er mit seiner neuen Aufgabe etwas Einzigartiges für den Zauberer erledigen konnte. Sein Leben bekam wieder einen Sinn, die Trauer über sein früheres Leben verblasste zusehends. Stattdessen übte er in dem kleinen Haus des Zauberers das Aufstehen mit einem Bein, Abflug und Landung. Und saß nun jeden Tag auf der Schulter des alten Mannes und schaute dabei zu, wie er Kräuter häckselte, zum Trocknen aufhängte oder den Mörser befüllte.

Es mag ein ganzes Jahr nach dem tragischen Unfall gewesen sein, als er auf Geheiß des Zauberers vorsichtig durch offene Tür hüpfte und mit ein paar unbeholfenen Sprüngen zum Start ansetzte. Und tatsächlich, er konnte fliegen, sah das kleine Holzhaus unter sich liegen, drehte eine Runde und orientierte sich in der näheren Umgebung. Vorher hatte er sorgfältig die Karten auf dem Küchentisch studiert und konnte so nicht nur den Weg zum Dorf, sondern auch die Häuser, Kirche und Gasthaus erkennen.

Zunächst waren die Menschen überrascht, wenn sie den Raben sahen, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn, nahmen ihm von seinem steifen Bein die Botschaft ab, die der Zauberer ihm mitgegeben hatte und beluden ihn für den Rückweg mit kleinen Päckchen oder Papierrollen. Nach und nach wurde er zu einer Brücke zwischen dem Eigenbrötler in seinem Holzhaus am Waldesrand und der lebhaften Geselligkeit auf dem Dorfplatz. Die Kinder winkten ihm schon von weitem zu und er war sehr beliebt bei allen.

So hatte sich sein Leben komplett gedreht. Einen kurzen Moment lang war er mit jungen Jahren schon dem Tode geweiht, hatte dann aber Glück gehabt und eine Chance erhalten, ein ganz außergewöhnliches Leben zu führen. Ein glückliches Leben, das er ohne sein furchtbares Schicksal nie kennengelernt hätte.

Und so konnte er dem Zauberer noch mehrere Jahrzehnte hilfreich zur Seite stehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

15 November 2024

Herbstspaziergang

Es ist alles nebelfeucht. Die Kälte dringt nach wenigen Schritten hinter der Haustür schon durch meine Jacke, schonungslos kühlt sie meine Hände aus. Auf der Straße die Blätter, an einigen Stellen als dünne Schicht, dann wieder als kleine Haufen. Die Bäume kahl, wie um Gnade bettelnd strecken sie ihre dürren Äste in den Himmel.

Herbstspaziergang
Die Luft ist frisch, scharf spüre ich sie, wenn ich sie durch die Nase einsauge. Vor meinem Gesicht steigt sie beim Ausatmen als dichter Nebel auf, noch schlechter die Sicht dann, fast möchte ich die Augen schließen, sehe ich doch ohnehin kaum etwas. Da vorne ein geparktes Auto, das muss ich noch umrunden, bevor ich in den Wald abbiege.

Ein kleiner ausgetrockneter Bachlauf trennt mich jetzt vom feuchten Waldboden, Pilze hier und da, aber selbst der Geruch scheint sich durch den Nebel zurückgezogen zu haben. Alles ist tot und was nicht tot ist liegt im Sterben. Die Baumgipfel sind nicht zu erkennen, zu nebelig ist es hier, fast kann ich sprichwörtlich die Hand nicht vor den Augen sehen.

Die Gedanken sind träge, auch in meinem Kopf fehlt die sommerliche Bewegungslust, ist es die Kälte oder der Nebel, jedenfalls ein wenig orientierungslos irren die Gedanken umher. Es ist diese Orientierungslosigkeit, die solch einen Nebeltag ausmacht, nur wenige Schritte voraus ist überhaupt ein Weg zu erkennen, und den kann ich auch nur laufen, weil ich ihn schon so oft zurückgelegt habe.

Ich schaue mich um, ebenfalls diese trübe Suppe, immerhin ein paar Lichter zu erkennen, die von der Siedlung wohl bis in den Wald strahlen. Um nicht gegen einen Baum zu laufen schaue ich wieder nach vorne, aber meine Gedanken bleiben zurück, werden ebenso trübe wie die Welt um mich herum. Ich stolpere in Stufen der Melancholie in einen Trauermodus, komme vom Wetter auf das Leben im Allgemeinen und dieses Jahr im Besonderen.

Bin ich am Sommer vorbei, frage ich mich und schon fällt mir auf, wie orientierungslos auch der Lebensherbst sein kann. Nichts Aufblühendes, nichts Sonnenstrahlendes, einfach nur Niedergeschlagenheit wegen der fehlenden Perspektive. Kein Baum, an dem man sich in der Landschaft orientieren könnte, kein Feld, das bestellt werden müsste, kein erkennbares Ziel, das es zu erreichen gilt.

Lohnt es sich, weiterzulaufen, die deutlich stechende Kälte zu ertragen oder den Rückzug anzutreten in das warme Haus. Schwermütig, geradezu depressiv schwanken die Überlegungen weiter zwischen meinem aktuellen Umfeld und der Betrachtung meines Lebens. Ist die Rückkehr ins Haus der Versuch, in den Schoß meiner Mutter zurückzukommen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen jedenfalls? Oder ist es wie mit den Pflanzen der Eintritt in eine neue Phase, in der ich mich von den Strapazen des Sommers erhole, Kraft schöpfe und mit neuer Energie in das Frühjahr starte?

Immer tiefer versinke ich in Selbstmitleid, traurigen Erinnerungen an Sommer, Sonne, Fröhlichkeit. Und in genau diesem Moment kommt mir auf einmal ein wärmender Gedanke in den Sinn. Sonne, das ist Antriebskraft, nicht nur für die Pflanzen, auch für mich, auch für meine Laune. Fast scheint der bloße Gedanke mich jetzt wieder ein wenig zu erwärmen, weicht ein bisschen Kälte aus meinen Knochen. Die Stimmung hellt sich auf, ein wenig scheint sich selbst der Nebel um mich zu lichten.

Sonne also, ein Lichtblick, wörtlich genommen, eine Orientierung wieder in der Gleichförmigkeit der nebelgrauen Landschaft. Brüder, zur Sonne flüstere ich leise vor mich hin, niemand kann mich hier hören, oder vielleicht doch, denn unbemerkt bin ich wieder aus dem Wald herausgetreten, fühle, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breit macht und die Haut spannt in der Kälte.

08 November 2024

Erwachen

Noch ein wenig verschlafen.
Nach den neun Monaten im Bauch meiner Mutter
Blicke ich auf den jungen Morgen meines Lebens.

Ein erster Schrei hallt durch das Zimmer.
Nur kurz erschrecke ich vor dem Klang meiner Stimme
Und schaue mich verträumt um.

Erwachen

Noch erscheint mir alles ein Wunder.
Das kleinste Detail betrachtenswert
Und alles voller Seele.

Ist es nur Nahrung, ist es Liebe.
Eine zarte Berührung führt mich durch den Morgen
Wo alles um meine Aufmerksamkeit buhlt.

Die Sonne steigt, schon wird es Tag.
Am Wegesrand merkwürdige Gewächse
Sie wiegen sich und winken mir zu.

Und alles scheint gut.
Will geliebt werden von der Sehnsucht eines Kindes
Die man durch harte Schule lenkt.

Verwickelt in den Anzug der Träume.
Durch geschlossene Augen zu sehen
Wie die dunkle Seite wächst.

Es muss das Ende sein der Kindheit.
Mit aller Macht ergreift es mich
Nur dass ich mich dagegen wehre.

Ein Wort nur, geht mir durch den Kopf,
Ein Wort nur und ich bleibe dir
Für immer treu bis in den Tod.

01 November 2024

Gell, du verstehst mich

"Ennndlich....", nuschelst du zu mir herüber, "ennndlich maaal einer, der zuhööörd." Nüchtern sind wir beide nicht, aber mein Geist ist noch halbwegs da und ich kann dich betrachten, während du dein Glas mit beiden Händen festhältst, nicht nur die Zunge ein wenig schwer geworden, auch der Kopf scheint recht wackelig über deinen Schultern zu thronen.

Es ist nicht einfach, dir auf deinem wilden Ritt durch die Themen zu folgen. Vorhin hast du mir von deiner Mutter erzählt, bist dann recht unvermittelt auf irgendeinen Klaus, wohl ein Schulkamerad aus der Grundschule, gekommen und nimmst gerade die Kurve, um etwas über die Ungerechtigkeit des Lebens in Ausbildung und Beruf zu erzählen.

Gell, du verstehst mich
Entsprechend mische ich mich nur wenig in dein Gespräch ein, höre zu und grüble über den einen oder anderen Gedanken nach, den du in weinseliger Stimmung auf dem Tisch ausbreitest. Im Griff des Rieslings frage ich nach, wie du denn Gerechtigkeit definieren würdest, warum du das Leben so empfindest und überhaupt, was für dich der Kern des Lebens ist.

Hoppa, macht das Thema, und du berichtest von den Tagen in der weiterführenden Schule, den Schulgottesdiensten und dem Geruch nach Weihrauch, von dem du immer Kopfschmerzen bekommen hast. Der Pfarrer und die Klosterbrüder waren nach deiner Erinnerung sexuell nicht gerade gefestigt, ob sie sich für Buben oder Mädchen interessierten oder es bei feuchten Träumen und Masturbation bewenden ließen.

Einen Schluck später kommst du dann doch noch auf meine Frage nach der Gerechtigkeit zurück und spielst den Ball weiter in Richtung Wirt. Gerecht wäre es, wenn er die Gäste reihum bedienen würde und ihr Glas wie beim Round-Robin füllen würde. Ob ich Round-Robin kenne, ein Begriff aus der IT, den du mal bei deinem Partner aufgeschnappt hast.

Jetzt ist es an meinen Gedanken, ein bisschen weiterzuhüpfen. Warum sprechen die Menschen nur immer von ihrem Partner, so emotionslos als wäre es ein Baustein, ein mehr oder weniger technisches Element im Leben. Meine Arbeitskollegen sind Partner, einige mag ich persönlich sehr gerne und treffe mich auch außerhalb der Dienstzeit mal mit ihnen. Aber die Menschen, die mir so richtig nahestehen, die würde ich als Freunde bezeichnen und die Person, mit der ich mein Leben teile als Geliebte.

Oh weh, in meinen Gedanken versunken ist meine Trinkgenossin schon wieder in ihrer komplexen Themenwelt abgebogen. Hektisch versuche ich, den Anschluss wieder zu finden, höre von ihren Brüdern und der Wohnung, in der sie ein Gästebett hat, um auch mal überraschenden Besuch beherbergen zu können. Es wird nicht klar, ob das eine Anspielung auf mich sein soll oder ob sie mir nur die Ausstattung ihrer Bleibe darstellen möchte.

Der Wirt kommt, aber anstelle einer Bestellung bitte ich ihn um die Rechnung. Während er zur Theke zurückschlurft versuche ich, den Abend zu resümieren. Die Vielzahl der kaum zusammenhängenden Themen macht es mir schwer, ein Gesamtbild zu bekommen. Wir haben uns lebhaft unterhalten, ein paar Monologe dazwischen, Berichte von Szenen, vereinzelt mehr oder weniger intime Details aus dem persönlichen Schatzkistchen.

Und doch ist es vorwiegend eine Beschreibung des Umfeldes, nur an wenigen Stellen habe ich einen kurzen Blick hinter die Fassade werfen können. Merkwürdig neutral und ohne Tiefgang habe ich mir nicht wirklich ein Bild von dir machen können. Ja, denke ich zurück, ja, ich habe dir zugehört, aber verstanden habe ich dich nicht.