Er steht ganz oben auf der Leiter, nein, nicht auf der obersten Stufe, sondern mit einem Fuß auf dem Bügel darüber. Der andere Fuß hängt in der Luft, ich kann gar nicht hinsehen, wenn er auch nur ein wenig schwankt gibt es ein Unglück. Aber Josof lässt das unbeeindruckt. Wie ein Künstler malt er meinen hohen Heizkörper an, das ist nicht einfach nur Weißen der Röhren, das ist die Entwicklung eines Kunstwerkes, dass er wie ein Maestro zelebriert.
Ein Lied, vermutlich italienisch oder so, kommt ihm über die Lippen. Er pfeift lustig, der Farbeimer schwankt mit ihm, ich folge seinen akrobatischen Aktionen mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung. Ob ich mir mal Gedanken gemacht habe, die alten Heizkörper auszutauschen, will er wissen, wegen der Energiewerte. Also, ihm sei es ja egal, gerne würde er diese schönen Stücke pinseln, auch in ästhetischer Sicht kämen die neuen Modelle da ja nicht mit.
Noch während ich über eine potentielle Antwort nachdenke kommt er auf verschiedene Heizsysteme zu sprechen, was das mit seiner Arbeit als Anstreicher zu tun hat und – upps, da ist ihm doch tatsächlich ein Schwung Farbe auf den mit Pappe ausgelegten Boden getropft. Traurig schaut er auf den Klecks hinunter, widmet sich dann wieder der zuletzt bearbeiteten Stelle.
Nicht zu vergessen natürlich die verschiedenen Heizsysteme, die dahinter stehen. Kohleofen noch in seiner Jugend, längst abgelöst durch Öl und inzwischen bei vielen seiner Kunden durch Wärmepumpen, denen er allerdings skeptisch gegenübersteht, das ist nicht mehr die solide Technik, die wir nach dem Krieg hatten, sondern fehleranfällige Hightech. (Wobei er das Wort Hightech so merkwürdig ausspricht, dass ich erst mal überlegen muss, was er meint.)
Das freie Bein wird getauscht, jetzt noch die andere Seite des Heizkörpers, nicht weniger tänzerisch balanciert er wieder hoch oben und streicht und kleckst und kleckst und streicht. Dem Kreppband sei Dank gibt es kein farbliches, seinem Geschick sei Dank gibt es kein körperliches Unglück. Plappernd arbeitet er sich durch alle Schlagzeilen der aktuellen Nachrichten, erzählt mir von Ukraine, Flüchtlingen, Fußballergebnissen und Wetterprognosen. Die ja bekanntlich immer noch nicht sonderlich zuverlässig sind.
„Fertig“ ist das letzte Wort, was er mir zuruft, während er aus seinem Olymp herabsteigt auf die Niederungen der Leiter, fast ein wenig traurig jetzt wieder in den normalen Arbeitsalltag wechseln zu müssen. Die Stufen der Leiter knarren, aber für mich sieht es schon viel sicherer aus und ich kann wesentlich entspannter seinen Ausführungen lauschen. Noch ein paar Erläuterungen zu der Herkunft von O Sole mio und dann hat er auch die restlichen Stellen abschließend gestrichen, den Farbeimer für morgen abgedeckt und den Pinsel ausgedrückt.
Da drüben, so viel ist sicher, da drüben der Heizkörper sollte auch noch mal kontrolliert und zumindest nachgetupft werden. Wegen Fachkräftemangel wird alles schwieriger, wie ich ungefragt informiert werde, er hat so viele Aufträge wie noch nie oder vielleicht doch etwa so wie seinerzeit, als er als Gastarbeiter ins Land kam. Da muss er selbst lachen, Gastarbeiter war er nie, weder wäre er als Gast behandelt worden, noch hätte er sich nur für eine kurze Zeit hierher begeben. Jetzt sei er aber fertig, die Farbe müsse trocknen und er wünsche bis morgen noch einen schönen Tag.
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