28 Oktober 2022

Der Wanderer

Am Horizont taucht eine Staubwolke auf. Ein Feldweg führt den Blick zu der Wolke, abgefahren, tiefe Reifenspuren. Rechts und links flache Landschaft, Felder, so platt wie Wüste. Und staubig.

Der Punkt wird langsam größer. Wenn man sich von dem Weg nach rechts wendet, kann man hinter dem Flachland ein paar Bergzüge erkennen. Noch weiter rechts nimmt der Bergrücken an Höhe ab. Die Wüste schließt sich nahtlos an. Man sieht keinen Übergang, der Staub verwischt alles. Die Berge, oder besser die Hügelkette bilden die einzige Erhebung von der Wüste, so weit das Auge sehen kann.

Die Sonne kommt etwa aus Süden. Sie führt einen erbarmungslosen Kampf gegen das Lebewesen, das langsam in seinen Umrissen erkennbar wird.

Die Sonne wird langsam weiterwandern, Richtung Westen. Dabei muss sie die staubige Landstraße noch überqueren; vielleicht ist der Mann hier, bevor die Sonne über dem Weg steht. Vielleicht auch nicht. Ein Wettlauf.

Der Mann ist in weißes Leinen gekleidet. Der Anzug verschwitzt und dreckig. Auf seinem Rücken trägt er einen Sack, auch Leinen. Er ist noch etwa einen Kilometer entfernt, aber alles ist genau erkennbar.

Wendet man sich nach links, kann man in der Ferne ein Gewässer vermuten, den Cold Lake. Vor vielen Jahren hat einmal einer versucht, dort ein Haus zu bauen. Die Zivilisation hat ihn eingeholt. Hieran erinnern nur noch die Telegraphenmasten, die den Weg begleiten, auf dem der Mann jetzt kommt.

Er ist noch einen halben Kilometer entfernt, die Sonne steht fast über dem Weg, in wenigen Minuten wird sie genau von hinten kommen, die Schatten der Telegraphen bilden dann eine lange Reihe, das Auge verliert den letzten Halt.

Den Weg haben damals die Siedler genommen, weil er eine gute Verbindung zum fruchtbaren Land darstellte. Heute kommen nur noch selten Leute.

Der Mann in dem verschwitzten Anzug ist auf hundert Meter herangekommen. Man kann seine scharfen Gesichtszüge erkennen, die kleine, harte Nase, vom Wetter gegerbt. Er hat Sandalen an, bei jedem Schritt fliegt der Staub aus den Schuhen heraus, beim Abheben der Füße wird er wieder eingesogen. Die Haare liegen strähnig und wirr auf seinem Kopf, Pflege brauchen sie nicht, sie scheinen überflüssig zu sein.

Die Sonne wird es schaffen. Er hat noch fünfzig Meter zu gehen, sie hat ihren Platz fast erreicht. Vielleicht ist er aber doch vor ihr da.

Den Mann und mich trennen zehn Meter, die Schatten bilden eine Reihe. Er schaut auf den Boden und von Zeit zu Zeit in die Ferne, als wolle er den Weg abschätzen. Vor ihm liegt, was hinter ihm liegt, bis auf die Sonne.

Er sieht nicht auf, als er an mir vorübergeht, er schleppt seine Schritte vorwärts. Ich folge ihm mit den Augen. Die Sonne brennt ihm jetzt genau auf den Rücken. Von hinten ist sein Anzug noch dreckiger, ein Schweißfleck läuft über seinen Rücken, nur unterbrochen durch den Riemen des Beutels.

Der Wanderer

Er ist schon wieder einen halben Kilometer entfernt. Er geht seinen Weg ohne schneller oder langsamer zu werden, ohne die Richtung zu ändern, ohne…

Die Schatten lösen sich voneinander. Sie zeigen jetzt einen angedeuteten Sägezahn, an dem der Mann entlanggeht, so, dass er sich nicht schneiden kann. Langsam legt sich der Staub wieder, den der Wanderer aufgewirbelt hat. Er ist schon ziemlich weit entfernt, er wird langsam eins mit dem Horizont, der den kleinen Punkt verschluckt.

Die Straße kennt das. Ihr Staub verklebt jeden, die Telegraphen begleiten jeden, die Sonne versucht ihr Wettrennen mit jedem. Und am Schluss verschluckt der Horizont jeden.

Ich sehe, wie der Wanderer verschwindet, eins wird mit der flimmernden Ebene, aus der nur die Telegraphenmasten herausragen.

21 Oktober 2022

Lebenskünstler

Das war Oli. Er kam einfach rein, setzte sich, guckte vergnügt in die Runde und wartete darauf, was jetzt passierte. Nein, ließ er uns wissen, die Anreise sei gar nicht bequem gewesen. Anzusehen war ihm das allerdings nicht, er strahlte bei dieser Aussage über beide Backen. Wann es losginge, sein Leben ein einziges Erlebnis, dies hier jetzt auch. Wo er denn überhaupt gelandet sei, wir schauten alle aus wie die anonymen Alkoholiker oder vielleicht eher wie Paartherapie.

Letzten Sommer – oder war es das Jahr davor gewesen – erinnere er sich an seine Reise nach Rom, den Heiligen Vater einmal persönlich sehen. Davor in Singapur und Hongkong, Asien sein Favorit, aber auch Deutschland habe viel zu bieten. Ein Haus, das wäre schon schön, aber am Ende doch ein Klotz am Bein. So wie eine feste Beziehung, erläuterte er uns voller Inbrunst.
Das Wichtigste ein gesunder Schlaf, den dürfe man sich nicht nehmen lassen. Ob bei der Rucksacktour oder im Steigenberger. Ob uns klar wäre, dass wir über ein Drittel unseres Lebens verschliefen wollte er wissen und ob wir heute ausgeschlafen wären. Er jedenfalls hatte den Wecker ausgeschaltet, noch mal rumgedreht.

Rausschauen wäre aber auch wichtig. Immer schön aus dem Fenster sehen, die Sonne heute so hell und strahlend. Oh Gott, und dann die Verpflegung: Seine Tasche heranziehend hatte er auch schon eine Wasserflasche in der Hand. Die Stulle für später. Aber nicht für die Arbeit, die macht er auch, gar nicht faul, aber so und dann, wenn es ihm passt. Im Moment mache er ein Sabbatjahr, demnächst gehe es dann weiter.

Ach was, Kinder jetzt nicht, das hat Zeit. Lieber mit seiner Freundin in die Sauna, auch heiß und so entspannend. Das wäre auch was für uns, Stille, zischender Aufguss. Und erst die kalte Schwallbrause danach. Eine Runde schwimmen und ganz schnell ins Bett, wo es weitergeht. Das würde doch jeden Tag abrunden, Rotwein oder doch lieber Weißwein? Er wolle jetzt mal in die Runde fragen.

Aufstehend greift er nach seiner Tasche. Zeit für eine Pause nun, bei dem Wetter wäre Herumsitzen die reinste Verschwendung. Ach, wir wären so ruhig, carpe diem sein Motto wie im Club der toten Dichter. Große Pläne für die Zukunft stehen nur im Weg, jeder Tag ein Erlebnis, das es zu feiern gelte.
Der Tür entgegen, mit wenigen Schritte. Sein Blick noch mal auf uns, neugierig, wie exotische Kreaturen im Zoo.

14 Oktober 2022

Steffen baut ein Haus

Steffen baut ein Haus
Graben und graben und graben.
Schotter rein, Split rein, Beton rein.
Stein auf Stein. Stein auf Stein. Stein auf Stein.
Brüstung und Sturz und Mauer hoch.
Balken, Balken, Balken.
Dämmung unten, Dämmung außen, Dämmung oben.
Fenster vorn, Fenster hinten, Fenster seitlich.
Rohre rein, Rohre kreuz, Rohre quer.
Kabel hier, Kabel dort, Kabel bündeln.
Estrich rein und Putz drauf und Spachteln.
Fliesen grau, Fliesen hell, Fliesen dunkel.
Wasser und Strom, Wasser. Strom.
Wände glatt, Wände schön, Wände streichen
Möbel rein, mehr Möbel, restliche Möbel.

Steffen ist drin.

07 Oktober 2022

Eines Tages war da dieser Kopfschmerz

Eines Tages war da dieser Kopfschmerz
Eines Tages war da dieser Kopfschmerz
plötzlich gekommen. Als er auch nach ein paar Tagen nicht wegging, war ich zum Arzt gegangen, der mich dann untersuchte und nichts fand. Zwei Tage später war der Schmerz weg. Erst nach Wochen dachte ich wieder daran, als er plötzlich wieder da war, ohne Vorwarnung, ohne Anlass. Ich fuhr zu einem Spezialisten, der mir von Freunden empfohlen wurde, und auch dieser untersuchte mich sehr genau, machte ein ernstes Gesicht und erklärte mir, dass ich damit in Zukunft öfter zu rechnen habe. Er sagte auch, dass das am Anfang ganz normal sei und verschrieb mir Tabletten, die furchtbar schmeckten und nur nach Überdosierung den Schmerz linderten.

Ich fand heraus, dass die Wirkung der Tabletten sich mit einem Glas Wein oder Sherry steigern ließ, und so nahm ich bald jeden Abend meine Medizin, was nötig wurde, da der Schmerz nun mein steter Begleiter wurde. Manchmal, wenn es ganz arg war, nach ich auch tagsüber eine von den Tabletten mit einem Schluck Rotwein aus einer Flasche, die ich in meinem Schreibtisch deponiert hatte. Als ein Kollege dahinterkam, dass ich nach der Einnahme meiner Medizin zwar schmerzfrei aber auch arbeitsunfähig war und drohte, meinen Chef zu verständigen, nahm ich sie nur noch heimlich.

Ich ging auf die Toilette und spülte sie mit Schnaps hinunter, den ich im Flachmann stets mit mir führte. Doch die Heimlichkeit stresste mich, die Wirkung der Tablette ließ nach und ich musste zwei nehmen oder sehr viel Alkohol trinken, um einigermaßen schmerzfrei zu sein.

Ja, und irgendwann saß ich dann mit geöffneten Augen aber jeden Gedankens unfähig an meinem Schreibtisch, als mein Chef hereinkam. Es gab keine lange Diskussion, er bedeutete mir nur sehr klar, dass das nie wieder vorkommen dürfte. Natürlich kam er jetzt öfter in mein Büro, was mich wieder stresste und zu einer Erhöhung der notwendigen Dosis führte. Fast war ich froh, als er mich endlich hinauswarf.

Jetzt sitze ich zu Hause, den Spezialisten, bei dem ich in Behandlung war, wollte meine Krankenkasse nicht mehr bezahlen, mein Hausarzt darf mir meine Tabletten nicht verschreiben. Manchmal denke ich, er ist weg, aber er ist nicht weg, er wartet nur diskret im Hintergrund, bis ich wieder nüchtern bin, um sich wieder auf mich zu stürzen und mich zu quälen, bis ich ihn dann nicht mehr fühle, nichts mehr fühle außer der Schwere meiner Beine, die ich hochlege, wenn ich ins Bett gehe. Meine Freunde kommen jetzt seltener zu Besuch, schon mal rufen sie an und sagen, wie entsetzlich leid ich ihnen tue.

Letzten Monat bin ich eines Morgens auf der Toilette aufgewacht, ich hatte wie so oft erbrochen und mechanisch das Fenster geöffnet. In der ganzen Wohnung stank es nach Gas und ich wusste, ich hatte versucht, mich umzubringen und war nur durch einen Zufall meinem eigenen Mordanschlag entgangen. Das war der Tag, an dem ich mit einem Hammer alle Flaschen in der Badewanne zertrümmerte, die ich finden konnte, nur damit ich mich nicht wieder besaufen und doch noch umbringen konnte. Ich setzte meinen ganzen Willen ein und sagte mir, dass mein Körper erfahren müsste, dass ich immer noch Gewalt über ihn hätte. 

Mein Körper hat mir dann gezeigt, dass er stärker ist, meinen Willen in einer wochenlangen Schmerzperiode gebrochen und deshalb werde ich heute Abend das Bad abschließen und den Hahn aufdrehen. Der Hausarzt hat mir gesagt, er lässt nach, bald, sehr bald. Aber der Kopfschmerz ist nur die Vorwarnung, Ausdruck des Kampfes, den mein Körper verzweifelt führt und der doch nicht zu gewinnen ist, weil das Immunsystem zerfällt und sobald es dann zerfallen ist und den Kampf aufgibt gegen meine Schmerzen, dann fühle ich bald nichts mehr, gar nichts mehr.

Ich könnte in ein Krankenhaus, hat der Arzt mir gesagt, aber ich will nicht, solange ich kann, will ich selbst bestimmen und heute Abend feiere ich ein letztes Mal, um dann mein angesammeltes Wissen und meine Erfahrung zu vernichten mit einer Handbewegung.

Hauptsache, diese letzte Sache ist schmerzlos.