In meinen kindlichen Gedanken sah ich ein haariges Tier vor mir, so eine Mischung aus Affe und Bison, es schaute mich mit wütendem Blick an, während es wild mit seinen Hinterbeinen auf den Boden stampfte.
Ich stand im Flur im Haus meiner Oma, mein Onkel erklärte mir gerade, dass die Kuhle im Boden hinter der Eingangstür „vom Russen“ gemacht worden sei. Ich wusste nicht, was ein Russe ist, und in meiner Phantasie stellte ich mir ein ziemlich wildes Tier darunter vor.
Einige Jahre später hatten wir dann Besuch von einem Russen, er kam in mein Elternhaus, war ein ganz normaler Mensch und brachte mir Schokolade mit. Auch mit meinen Eltern unterhielt er sich sehr freundlich und hatte so gar keine Ähnlichkeiten mit dem Wesen, das ich bis zu diesem Zeitpunkt mit diesem Begriff in Verbindung gebracht hatte.
Es vergingen Wochen, in denen mich diese Diskrepanz immer wieder beschäftigte. Schließlich nahm ich mir ein Herz und sprach meine Mutter darauf an. „Das war im Krieg“, war ihre Antwort und das klang in meinen Ohren so, wie sie mir den elektrischen Herd erklärt hatte. Erstmal ungefährlich, aber wenn man ihn einschaltet und er heiß wird, verbrennt man sich.
Ich war irritiert, was sollte denn diesen netten Mann mit seiner Schokolade und den lustigen Geschichten zu dem zotteligen Tier machen? Und was meinte sie mit dem Krieg? „Ach, mein Junge“, nahm mich meine Mutter in den Arm, „das verstehst du noch nicht.“ – „Nein“, flüsterte ich ganz leise zurück, „nein, das verstehe ich bis heute nicht.“
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