04 März 2022

Meine Ziegelwand


Sie spricht mit mir, erzählt mir ihre Geschichte. Von der Entstehung vor vielen Jahren. Es waren warme Frühlingstage, der Winter nahm langsam reis aus und selbst der Nachtfrost war seit einigen Wochen ausgeblieben. Gelegenheit damit, dass der kleine Italiener mit seinem Bagger den Untergrund planieren, die Armierung einlegen und den Beton für die Bodenplatte aufbringen konnte.

Auf dieser Platte nun entstand sie, die Mauer aus Ziegelstein, Härte in ihrem Herzen und Stabilität für die große Verantwortung, die ein ganzes Haus auf ihren Schultern erfordert. Viel später dann kam der Putz, kalt und feucht hatte er sich angefühlt, gerade innen hatte sie sich an die wohlige Wärme und Trockenheit gewöhnt, und selbst nach dem Innenputz war die Leidensgeschichte noch nicht zu Ende, kam doch noch mal die Estrichfeuchte durchs Haus gezogen. Erst als der Tapezierer erschien und mit seiner Raufaser und dem Anstrich die endgültige Oberfläche schuf, war endlich Ruhe eingekehrt.

So vergingen die Jahre. Mal wurde ein Bild aufgehängt, mal der Anstrich erneuert. Die Beleuchtung wechselte, aber stoisch ertrug die Wand selbst die Lochbohrungen zur Befestigung eines Schrankes. Ich schaue sie an, bewundere ihre positive Einstellung, unschuldig weiß und doch nicht unberührt, so genügsam und doch treu ergeben, standfest bis heute. Auch die Fügung in die Erfüllung ihrer wichtigen Aufgabe, eine Selbstlosigkeit, die nicht erwartet, jeden Tag aufs Neue angesprochen und motiviert zu werden.

Welch wortlose Dienerin, schweigsam, wo sie doch so manches gesehen und gehört hat, so viele Geschichten und Gespräche, die sie stets für sich behält. Nur manchmal, so erscheint es mir, erzählt sie doch ein wenig über sich oder erinnert mich an Erlebnisse, die ich vor ihren unsichtbaren Augen und Ohren hatte.

[Andere Blogs: Interdisziplinäre GedankenDienstliche Glossen]

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen