26 März 2021

Hinter dem Hydranten

Gerade war sie noch nicht da. Ich bin auf einem Fotospaziergang, habe meine gute Kamera dabei und versuche, die Atmosphäre und besonders sehenswerte Bilder einzufangen. Da kommt mir natürlich dieser rote Hydrant inmitten der grünen Landschaft gerade gelegen. Ich schaue ihn mir genauer an, visiere durch den Fotoapparat, verändere die Position und die Einstellung für die Belichtung und auf einmal: Streckt eine Frau ihren Kopf hinter dem Wasserspender hervor.

Ich bin ziemlich irritiert, aber für die Frau scheint es völlig normal zu sein. Sie sieht sportlich aus, ihr T-Shirt ist leicht verschwitzt, vermutlich hat sie gerade gejoggt. Sicher habe ich sie versehentlich aufgescheucht, in ihrem Versteck gar überrascht? Aber so wirkt sie nicht, würdigt die Kamera keines Blickes, und kommt lächelnd auf mich zu. Bevor ich noch ein Wort der Entschuldigung stammeln kann, hat sie mich schon an der Hand genommen und setzt ihr Lauftraining mit mir fort. Es ist mir etwas peinlich, wie leichtfüßig sie dahingleitet, während ich ziemlich untrainiert neben ihr her schnaufe. Zuerst wird sie schneller und schneller und bleibt dann unvermittelt stehen, so dass ich gegen sie pralle und wir beide auf dem Feldweg landen.

Lacht sie mich an oder aus? Jedenfalls scheint es sie köstlich zu amüsieren, sie steht schon wieder und zieht auch mich mit kräftigem Ruck vom Boden hoch. Wie zum Tanz hat sie jetzt beide Hände von mir ergriffen, dreht sich mit mir im Kreis. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht, aber sie lacht nur, strahlt mich an und ich kann gar nicht anders, als mitzumachen und selbst zu lachen. Schneller und schneller und irgendwann verlieren wir die Kontrolle und liegen wieder auf dem Boden. Was für ein Wirbel, während wir uns beide aufrappeln, diesmal braucht sie auch ein bisschen länger, aber wehgetan haben wir uns nicht. Schon läuft sie wie ein munteres Reh wieder den Weg zurück, ich so gut ich kann hinterher.

Ich habe sie eingeholt, bevor sie den Hydranten erreicht, sie passierend strecke ich meinen Arm aus, und zwinge sie, hinter mir zu bleiben. Das lässt sie nicht auf sich sitzen, stoppt wieder unvermittelt und weicht zur Seite aus, wo die rote Zapfstelle aus dem Grün heraussteht. Wir sind von dem überraschenden Sportprogramm beide ein wenig außer Atem, ich lasse mich fallen, wo ich vorhin hinter der Kamera gehockt habe, die immer noch einsam auf ihrem Stativ steht.

Wo ist sie denn? Ich schaue mich um, aber hinter mir steht sie nicht, auch nicht vor mir und nach wenigen Schritten bin ich am Hydranten, um dahinter nachzusehen. Ebenso Fehlanzeige. Nun schaue ich an mir herunter: Keine Flecken von den beiden Stürzen, die Hose in Ordnung, nur mein Atem geht schneller als normal.


19 März 2021

Der Schnee macht alles gleich

Heute gibt es verspätet noch einmal ein wenig Schnee. Ein Blick aus dem Fenster, ich schaue den Schneeflocken zu, die sich ihren Weg herabtanzen vom Himmel hoch zu meinen Niederungen und dabei mal hier- mal dorthin zu schauen scheinen, so als ob sie sich noch nicht sicher wären, ob sie wirklich bis auf die Erde herabfallen wollten.

Aber irgendwann sind sie dann doch unten, kuscheln sich zusammen mit ihren Genossen, nicht so eng wie der Regen oder das Eis, vielmehr eine lockere, flockige Gemeinschaft, die den Boden bedeckt, mit windiger Unterstützung zum Teil hoch aufgetürmt zu Schneeverwehungen und kleinen Hügeln und Bergen, die die Menschen mit ihren Schaufeln zu entfernen versuchen.

Wer es nicht bis auf den Boden schafft, bleibt vielleicht auf einem Dach liegen, beschwert mit den anderen Flocken unsere Gebäude und bleibt dort eine Weile liegen, nicht weggeräumt von Menschenhand, eher hinabgezogen in einer kleinen Lawine oder endend als Opfer des Tauwetters, wenn es zu warm wird, um sich halten zu können.

Und wie schön weiß jetzt alles ist, auf einmal strahlen auch trübe Böden makellos, werden Bäume, Äste, Zweige, Steine und alle anderen Gegenstände zu einem formgebenden Untergrund, der von einer Hülle überzogen ist. Spitzen werden weicher, alles ein wenig egalisiert, und je mehr Schnee sich darauf niedergelassen hat, desto weniger kann man die ursprüngliche Form noch erraten.

Hinzu kommt, dass selbst die Geräusche sich verändern, sie sind gedämpft wie die Formen, Spitzen fehlen und eine ungewohnte Stille legt sich über die gesamte Landschaft, als ob mit dem Entfernen der Farbe auch der Ton abgestellt worden wäre.

Wege sind nicht mehr als solche zu erkennen, wir helfen mit Wegweisern und weithin sichtbaren Orientierungshilfen nach, müssen der Natur ein Schnippchen schlagen oder trampeln gewohnte Pfade per Fußabdruck in die weiße Pracht, bis die nächsten Schneewolken kommen und unsere Markierung zu Nichte machen.

Weiter schaue ich gebannt aus dem Fenster, es ist so beruhigend wie der Meeresbrandung zuzusehen, und tatsächlich wirken beide bei Konzentration der Sinne wie eine Einladung zu Meditation, der inneren Einkehr und dem Erkennen unserer eigenen Begrenztheit gegenüber jedem einzelnen Wassertropfen und jeder ach so kleinen Schneeflocke, die durch ihre schiere Vielzahl zu einer für Menschen unkontrollierbaren Gewalt zusammenfinden.

[Andere Blogs: Interdisziplinäre GedankenDienstliche Glossen]

12 März 2021

Der Vorsteher hatte graue Lampen austeilen lassen

denn der Jahrmarkt sollte sich schon nach außen ganz deutlich von den anderen Märkten und Feiern unterscheiden. Vor einer Woche waren sie dann gekommen: Ein langer Zug von Schaustellern, Losbuden, Zuckerverkäufern, allerlei beweglichen Belustigungen und Künstlern. In wenigen Tagen waren die Stände aufgebaut, auch wurden Lichterketten aufgehängt, in die die grauen Lampen eingeschraubt wurden. Dann starb das Gelände noch einmal für einen Tag aus, an dem alle mit Plakaten, Handzetteln und Flugblättern durch die Stadt zogen.

Und die Werbung war erfolgreich, denn schon morgens war der Marktplatz besucht, selten waren so viele Leute gekommen, die jetzt eine Masse bildeten. Zähflüssig und schweigend schwappte die Masse durch die Gassen zwischen den Buden, die sicherheitshalber wegen der vielen Leute durch Glasscheiben von dem Durchgang abgetrennt waren. Musik war diesmal nicht eingeladen worden und auch den einzelnen Buden war es verboten, Musik zu machen oder ihre Ware lautstark anzupreisen. So pressten die Leute ihre Nasen gegen die Scheiben, hinter denen die Budenbesitzer ihre Ware ausgelegt hatten und ganz, als hätten sie einen unsichtbaren Kunden, bald dieses und bald jenes Stück aus der Auslage griffen, um es besser zeigen zu können.

Die Zuckerwarenhändler wogen ganz nach fiktiven Kundenwünschen verschiedene Süßigkeiten ab und verpackten sie in kleine Papiertütchen, um dieselben dann wieder in das Fach zu entleeren, aus dem sie eben gekommen waren. Auch bei den Autoscootern konnte man zusehen. Hier wurden durch ein enges Loch die Leute hineingetrieben, dabei durfte einer hinein, wenn einer hinausging, wodurch der Durchgang noch beengter wurde. Die Fahrer der kleinen Autos waren nicht fröhlich, vielmehr schien es fast, als wollten sie hier ihre Aggressionen abbauen.

Wer hier war, der musste sich auch das Riesenrad ansehen und darauf fahren, denn es war die Hauptattraktion. Das Besondere war, dass dieses Riesenrad keinen Motor besaß und von nur einem alten Mann angetrieben wurde. Er saß in seinem Stuhl und las ein Buch, während der leise schaukelte. Von Zeit zu Zeit blickte er auf, als ob er sehen wollte, ob das Rad noch da wäre. Er war durch Zäune von der Menge abgetrennt und es bedurfte kräftiger Arme und Beine, falls man ihn etwas näher sehen wollte. Wenn man dann am Zaun stand, und durch die Drähte sah, konnte man erkennen, dass er die Zähne zusammengebissen hatte, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, während er schaukelte und das Rad sich langsam, ganz langsam weiterdrehte. Man meinte im Hintergrund das Grinsen des Personals zu sehen, das sich aus der Menge die Dicksten und Schwersten aussuchte, damit der Alte auch ordentlich zu tun hatte.

Wenn er dann nicht schnell genug schaukelte oder er eine kurze Pause einlegte, durchfuhr es ihn wie einen Schlag, wobei das Personal jedes Mal lautlos lachte. Wieder bimmelte das Glöckchen als Signal, dass eine Kabine neu besetzt werden konnte und ein kleiner Junge stand am Eingang und wollte fahren. Doch ein Mann mit schwarzer Binde um den Hals schob ihn zur Seite und zeigte auf eine beleibte Frau, die etwas hinter ihm stand und sich jetzt durch die Menge schob.

Der Alte weinte jetzt vor sich hin. Es war wirklich kein Spaß für Kinder.

[08/1986]

05 März 2021

Du auf der Blumenwiese

Vor einigen Wochen lag ich im Bett und ließ den Tag Revue passieren. Es war nicht gerade einer meiner besten Tage, der da hinter mir lag. Um auf andere Gedanken zu kommen, malte ich mir in meiner Phantasie eine fröhliche, warme Szene aus.

Beim Wandern kam ich nicht fern des Dorfes, in dem ich den meisten Teil des Sommers verbringe, an einer kleinen Weide mit Kühen vorbei, dann folgen ein paar wilde Obstbäume, ferner ein Tümpel. Und dann kommt eine Blumenwiese, die ich sehr gerne mag, ausgebreitet unter der Sonne, und im Laufe der Saison die blühende Pracht wechselnd und nach allerlei Kräutern duftend.

Heute sah ich dort ein kleines Mädchen, es lief auf der Wiese umher, tänzelnd manchmal, die langen Haare glänzten in der Sonne. Das junge Ding wartet auf die Freundin, mit der es sich häufig trifft, die beiden spielen viel miteinander, tanzen über die Wiese, zupfen einen Strauß zusammen oder necken irgendwelche kleinen Tierchen mit Grashalmen.

Die Freundin scheint wohl nicht zu kommen, das ist nicht ungewöhnlich, mal muss sie für den Vater noch etwas erledigen, mal der Mutter im Haushalt helfen. Dann wird es Nachmittag, du legst erst den Kopf in den Nacken, schaust zum Himmel und lässt dich dann aus einer Pirouette auf die Wiese fallen.

Aufmerksam schaust du einem Käfer zu, der sich einen Weg durch das für ihn hohe Gras sucht. Zuerst erwägst Du, ihn bei seinem beschwerlichen Weg zu unterstützen, aber er kommt denn doch recht erfolgreich voran, so dass du erst mal nicht weiterhelfen musst. Das war vorgestern mit dem Hund vom Nachbarsjungen anders, er hatte sich mit einer Hinterpfote im Zaun verfangen und jaulte erbärmlich, bis du ihn befreien konntest.

So wird es auch immer mit deiner besten Freundin sein, ihr werdet euch immer helfen und natürlich auch keine Geheimnisse voreinander haben. Es ist toll, mit ihr alles zu teilen und besonders schön, wenn sie da ist und ihr über die Blumenwiese tanzen könnt, bis ihr müde werdet und zu den Obstbäumen lauft, wo ihr euch im Schatten ausruht. An anderen Tagen versucht ihr so lange kleine Kunststücke hinzubekommen, bis die Abendglocke ertönt und es an der Zeit ist, nach Hause zu gehen. Hand in Hand hüpfst Du mit der Nachbarin zurück zum Dorf, zum Elternhaus mit seinem gedeckten Tisch.

Heute bist du freilich alleine da, aber das ist gar nicht so wichtig, denn auch ohne das andere Mädchen kannst du springen und einen kleinen Parcours aufbauen, den du mit flatterndem Rock umlaufen, dann auf einem Bein umhüpfen musst, jetzt auf dem anderen Fuß zurück. Vielleicht ein Kopfstand, naja, der klappt selten, das wäre ja heute die Gelegenheit zu üben.

Noch während ich dir zuschaue und über die hartnäckig erkämpften Erfolge staune, schlafe ich mit einem friedlichen Lächeln ein und gleite von meiner Phantasie- in die Traumwelt.

Seit diesem Abend besuche ich dich immer mal wieder und schaue dir auf der Blumenwiese zu, deren Duft und Strahlen mich so wundervoll beruhigt.