29 Januar 2021

Alle Macht den Büchern

Neulich habe ich in Gewohnheit ein Buch gelesen, es zeigte sich von seiner besten Seite. Schon früh gab es mir seine Gliederung preis und gestattete mir dort mehrere Ein-Blicke in die verzweigten Entwicklungen seines Inneren.
Weiterblätternd fand ich die strenge Ordnung der Buchstaben, wie sie sich in Sinn-Lichkeit aneinanderreihen, zu Wörtern ansammeln und weiter zu Bildern entfalten.
Hierfür lassen sich die Wörter auch beugen und unterwerfen sich der Hierarchie der Rechtschreibung. Wie standhaft doch die Schrift, nachdem der Autor sie gestellt hat.

Ich staunte über die Herrschaft der Hauptwörter, die ihren Machtanspruch bedingungslos durch einen führenden Großbuchstaben signalisieren. Bestenfalls an Satzanfängen fand ich Vertreter des sprachlichen Fußvolkes, das die Gelegenheit ergriffen hatte, ebenfalls einmal mit herrschaftlicher Majuskel prahlen zu können.
Erst unter Druck wird aus zuvor weißen Blättern eine Sammlung an Wert-Papieren, fortlaufend nummeriert. Gewissenhaft legen sich die Seiten aufeinander und gehen unter fachkundiger Hand sogar eine Bindung ein, meist bis der Tod sie scheidet.

Und doch konnte das Buch mich nicht über-zeugen, zeugte es doch von konservativer Einfachheit des Ablaufs vom Anfang zum Ende, entgegen der Lebenserfahrung dogmatisch von links nach rechts. Es stand in seiner Macht, mich zu fesseln, aber es hatte nicht die Größe, mich loszulassen. Vielmehr führte es mich stets vom Olymp der obersten bis zum Hades der letzten Zeile, vereinzelt sogar bis in die Unterwelt seiner Fußnoten.

Kein noch so kühn erdachter Inhalt vermag auch die Reihenfolge der Niederlegung zu umgehen. 

Ich weiß noch, wie ich verstört aufblickte, die Seitenwelt verlassend. Fast überheblich kehrte mir das Druck-Werk den Rücken zu, verschloss sich zwanghaft bei Rückkehr in die mit den Artgenossen geteilte Wand. Nun steht es also wieder da, unschuldig ist es nicht, eher umschlagen, inhaltsschwanger und die Phantasie befruchtend. Während es ohne Regung all sein Inneres hergibt und sich von mir lesen lässt, wird es doch nicht leerer – im Gegensatz zu meinem Kopf, der voller wird.

22 Januar 2021

Wintergespräch

„Mir ist kalt“, sagt der Schneemann und wendet sich so gut er kann mit seinen langen Ast-Armen an den Eiszapfen. „Was soll ich denn erst sagen“, erwidert dieser, „ich hänge schon seit Tagen hier herum, und im Gegensatz zu dir hat mich auch noch keiner angeschaut.“
Dabei fröstelt es ihn von innen heraus. Ach, wenn doch das Tauwetter käme, das würde dem Dauerfrieren ein Ende machen. Er weiß, dass es sein Tod ist, wärmer wäre es, aber sein Dasein als Eiszapfen hätte auch ein Ende.

„Freust du dich auf das Abnehmen?“, will er vom Schneemann wissen, dessen Figur nun wirklich nicht gerade vorbildlich ist. „Das kannst du wohl laut sagen, irgendwie liegt meine Unförmigkeit in meiner Natur, steckt wohl in den Genen. Schon als die Kinder mich aus dem Schnee entstehen ließen, als sie mich gerollt und gekugelt haben, den kugeligen Oberkörper auf den kugeligen Unterleib gehievt, schon da hätte mich mir ein paar Hände gewünscht, die mir eine schlanke Hüfte und ansehnliche Beine modellieren.“
„Ach Gott, ja“, meint der Eiszapfen, „man hat ja nie die Figur, die man sich wünscht. Meine schlaksige Erscheinung ist mir auch in die Wiege gelegt, viel zu lang, viel zu dürr, ein kaum messbarer BMI und jedes Abnehmen ist lebenskritisch.“ Dabei gibt ihm die Dachrinne Halt, versorgt ihn und seine Kameraden immer mal wieder mit flüssigem Nachschub, der unverzüglich vereist und damit seine Existenz schon seit Wochen sichert.

„Mir ist kalt“, wiederholt der Schneemann, „auch wenn ich den Winter liebe und mit den anderen Jahreszeiten überhaupt nichts anfangen kann.“ – Einen Moment herrscht Stille, dann hört man Kinder in der Nähe spielen, johlen, fahren sie Schlitten? oder machen sie sich einen Spaß daraus, unsere beiden Helden zu necken und mit ihnen ein Spiel zu treiben?
Tatsächlich trifft ein Schneeball jetzt den Schneemann, „in Deckung!“ ruft er dem Eiszapfen zu, aber der kann sich so wenig von seiner Dachrinne lösen, wie der Schneemann davonlaufen kann. Wieder ein Schneeball „Autsch!“, das hätte leicht ins Kohle-Auge gehen können, schlimmer noch: beinahe hätte es die Rübennase erwischt.
„Wenn sie uns doch in Ruhe ließen, der Winter dauert noch ein paar Tage, so klar und frostig hier, da frieren wir doch gerne. Immer mal ein paar Schneeflocken von oben, ein paar Tropfen Wasser aus der Rinne, was will man mehr?“ Der Eiszapfen hat die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als auch ihn ein Schneeball trifft. Sein magersüchtiger Körper kann dem Aufprall nichts entgegensetzen, mit trockenem Knack! bricht er ab, stürzt hinunter in die Schneewehe unter dem Dachvorsprung.

„Wie geht es dir, so sag doch was, ist alles in Ordnung?“ will der verängstigte Schneemann wissen. Er schert sich nicht darum, dass die Buben und Mädchen jetzt ihn als Ziel ausgemacht haben, er mit Schnee beworfen, eingeseift, verunstaltet wird. Wenn das Wetter es zulässt, wird er sich sofort auf den Weg machen, dahinschmelzen für seinen lieben Eiszapfen und mit den dann abgesunkenen Zweigarmen im verbleibenden Schnee nach ihm stochern.

15 Januar 2021

An der Schleuse

Er saß an der Schleuse, die Augen geschlossen, hörte das Fließen des Wassers, dann das Anschwellen zu flutartigen Wassermasse, das Schäumen der dreckbeladenen Wogen, auf denen eine Erinnerung einen wilden Wellenritt veranstaltete. Ein Gefühl stieg in ihm auf, unklar und bedeutungsschwanger, ein paar Wassertropfen zuerst, die aus den Schleusentoren emporgeschleudert wurden, Feuchtigkeit auf sonnengebräunter Haut, um zu verdunsten und nur einen salzigen Nachgeschmack zu hinterlassen, wenn man an den Stellen leckt.

Wie groß, mutig und erhaben waren doch die Gedanken, als die Schleuse voll war, wie majestätisch die Fluten und die buntbeflaggten Schiffe, bevor die Tore geöffnet wurden. Doch jetzt dümpelten sie dort unten, so tief unter ihm, Segel lagen schlaff und tot, ach wäre schon die Schleuse offen, das sie ausführen, die armen Spielzeugboote, mit denen er jetzt Mitleid hatte, ja fast schon so etwas wie Wut darüber, wie sie geschrumpft schienen, ihn gefoppt hatten mit ihrer Größe und Ansehnlichkeit.

Er leckte sich die Hand an der Stelle, wo ihn ein Tropfen getroffen hatte, saurer Geschmack, wo die Schleuse ihm Urin hingespritzt hatte, um ihn zu verjagen, ja, gehen sollte er, war es nicht schon den ganzen Tag so gewesen, dass die Schiffe vor seinen Augen in Nussschalen verwandelt wurden, und gar zu selten kam aus der Tiefe ein unscheinbares Boot zu ihm hinauf, um ihn erst kurz mit seiner Schönheit zu blenden, dann bei gelösten Leinen langsam von ihm wegzutreiben.

Einmal hatte er seinen Hut aufgerafft, war hinterhergelaufen, hatte gewinkt, wollte es dabehalten und immer nur anschauen, wie es weiß in der Sonne glänzte, bis zum Ende der Pier, wo es, ohne sich auch nur um seine Anwesenheit zu kümmern, hinausgelaufen war, ganz weit, bis es wieder klein und kleiner wurde am Horizont und er sich schämte, dass er ihm hinterhergelaufen war.

Und tatsächlich – jetzt weint er, sitzt wieder da wie vorhin und weint, nicht, weil die Schiffe dahinfahren, nicht, weil der ihren Lauf nicht stoppen kann, sondern weil sie ihn nicht bemerken, wie er hier oben sitzt, ihnen gierig und sehnsuchtsvoll zuschaut, weil sie ihn mit ihren Bullaugen anschauen und ihn in ihre riesigen stählernen oder hölzernen Bäuche aufnehmen, ein Blubb, und er ist nichts mehr als ein Exkrement, das sie auf hoher See wieder von sich geben.
[07/1989]

08 Januar 2021

Das Ende des Tages

Ein Tag der Hektik geht langsam zu Ende. Ich verlasse meinen Platz der Arbeit und laufe durch das Haus der Treppe zum Zimmer des Wohnens. „Wie schön“, ruft meine Frau mir von der Zeile der Küche zu, „dass Du endlich Abend des Feierns machst!“ Und dann noch: „Kannst Du bitte noch ins Geschoss wohl unter gehen und eine Flasche des Wassers aus dem Schrank des Kühlens mitbringen.“

Wie freue ich mich auf den Tisch des Brotes des Abends, denn es gibt immer eine leckere Folge des Menüs, die meine Frau der Ehe für mich vorbereitet hat. Dann sitzen wir zusammen, besprechen die Themen des Tages und genießen die Stunden der Gemeinsamkeit. Beide schließen wir dann mit einem Wein der Ahr ab, allerdings unterschiedlichen Sorten der Rebe. Ein eher später Burgunder für mich, ein deutlich feinherber Rivaner für sie.

Doch das Ende des Abends naht, wir abdecken den Tisch, räumen die Maschine des Spülens ein. Schnell noch die Krümel auf dem Boden des Parketts mit dem Sauger des Staubs entfernt, dann können wir in das Geschoss wohl ober in die Zimmer des Bades schlüpfen. Zwei Minuten später habe ich mit der Bürste der Zähne die verbliebenen Reste des Essens in das Becken des Waschens gespült und kann meinen Anzug des Schlafes anziehen. Auch meine Frau hat die Toilette des Abends erledigt und wartet bereits im Bett des Himmels auf mich.

Ich lese ihr noch eine Geschichte der guten Nacht vor, ich abschalte das Licht der Lampe des Tisches der Nacht und ziehe das Zeug des Betts über mir zu Recht. Bevor wir in die Welt der Träume schlafwandeln, drücken wir uns noch einmal und wünschen uns Chöre der Engel mit süßen Gesängen der Nacht für einen guten Schlaf der Erholung.