30 Juli 2020

You have mail

Letztlich bekam ich einen Brief. Der Absender überschüttete mich mit allerlei Vorwürfen, aggressiven Formulierungen und Behauptungen. Unterschwellig sprach aus diesem Brief viel aufgestaute Wut, Neid dabei, aber auch Verzweiflung und Trauer. Zum Schluss des Schreibens räumte der Versender ein, geweint zu haben.
Wie, so fragte ich mich beim Lesen, wie sollte man in diesem Wirrwarr der Emotionen der Gegenseite – also mir – Wertschätzung oder auch nur Respekt entgegenbringen? Wie könnte man, trunken vom Cocktail der Gefühle, nüchterne Aussagen von sich geben oder sachliche Entscheidungen treffen?

Weniger die Inhalte haben mich berührt. Vielmehr löste es bei mir Grübeln aus über die psychologischen Ursachen dieser Eruption. Einem depressiven Menschen erscheint auch ein Sonnentag grau; wer einen wilden Stier in sich trägt, für den ist jedes Tuch rot, Blut-rot. Die Chance, Verbesserung über eine Replik oder ein Gespräch herbeizuführen, erschien mir wenig erfolgversprechend. 

Viele Fragen kamen mir in den Sinn.
Offensichtlich muss ich in der Tiefe forschen: Was steckt verborgen hinter diesen unfreundlichen Zeilen? Was genau ist der Eisberg, dessen Spitze ich zu sehen bekomme?
Welche Bedürfnisse der Persönlichkeit sind betroffen, werden da von mir nicht oder falsch bedient?
Und natürlich: Welche Glaubenssätze stehen da zwischen uns?

Ich erkannte, dass ich es mit einer nicht untypischen Mischung zu tun habe. Da sind einerseits charakterliche Unterschiede, die wir nicht überbrücken können. Hinzu kommen auf Seiten des Absenders innere Widerstreite, die ungelöst sind und natürlich ihre Außenwirkung auf mich entfalten. Und schließlich bin selbstverständlich auch ich Teil dieses explosiven Systems.

Was also tun? Schwierig, schwierig! Wenn ich antworte, so muss ich mit aller denkbaren Umsicht agieren, schon die Empfehlung eines Coachings zur inneren Versöhnung wäre absehbar ein Zündfunken am Pulverfass. Oder gar nicht reagieren? Ihn mit seiner Situation alleine lassen und zusehen, wie er sich immer weiter hineinsteigert? Wie die Formulierungen immer schärfer, die Gedanken immer abstruser und der imaginäre Feind – ich – aus seiner Sicht immer bedrohlicher wird?

Ehrlich gesagt: Ich kenne die Lösung nicht. Meine Empathie gilt jeder Person in der Öffentlichkeit, die sich von Zeitgenossen zum Teil abenteuerliche Vorwürfe anhören oder lesen müssen. Die große Herausforderung besteht darin, die Post ernst zu nehmen und sensibel in sich selbst nach einer Antwort zu horchen, aber andererseits auch nicht aus jedem Feedback einen Kurswechsel abzuleiten.

Der gute Wille zur Einigkeit  und Einigung alleine reicht jedenfalls nicht. Erst muss das ganze System re-noviert (nach Analyse und Bearbeitung neu aufgesetzt) werden. Und so lange werde ich ertragen müssen, solche Briefe zu bekommen, egal wie sehr mich das schmerzt.

26 Juli 2020

Wir sind Kleinigkeiten


Blechern die Abendglocke, der Kirchturm weiß getüncht. Ich stehe im Glockenturm und blicke auf das Dorf, gut zu überblicken von hier. Nein, sagt der Pfarrer zu mir, nein, vom Internet halte er nicht viel. Ob ich mich noch an die Regenbogenpresse erinnern könne.

Bunte Bilder, wilde Geschichten. Pseudo-Informationen, nennt es der Geistliche. Seinen Facebook-Account habe er gelöscht. Was erfährt man denn dort, was man nicht woanders besser lesen könnte.
Knarzend unter uns die Stufen, während wir die steile Stiege hinuntergehen. In der gedankenverlorenen Verabschiedung liegt etwas wie Endgültigkeit. Die alte Sehnsucht der Menschen, raunt er mir noch zu.

Im Auto holt mich seine Sehnsucht ein. Schwimmen können, doch wir sind keine Fische. Fliegen können, aber wir sind keine Vögel. Alles wissen wollen, auch das geht nicht. Auch nicht mit Internet.

19 Juli 2020

Zum Geburtstag meiner Tochter


Treffen sich zwei zweien.
„Ui“, sagt die eine, „Du siehst ja aus wie ich. Wir kommen aus derselben Familie. Komm, wir tun uns zusammen, dann sind wir zwei und zwei, und das sind dann schon vier!“
„Ach was“, erwidert die andere, „da habe ich eine schlauere Idee. Wir sind doch zwei mal zwei, das ist viel besser.“
„Was für ein Quatsch“, nun wieder die erste. „Ob nun zwei und zwei oder zwei mal zwei, das ist doch das gleiche.“ – „Nicht so ganz, wenn man den Zahlentheoretikern glauben darf. Denn wie in der Musik die enharmonische Verwechslung sind auch diese beiden vermeintlich gleichen Zahlen eben doch nicht gleich.“
„Mal ganz ehrlich, Du Klugscheißer, kein Mensch macht da einen Unterschied. Aber ob nun vier oder vier – das kann ich ganz leicht übertreffen. Wir stellen uns einfach hintereinander auf, dann sind wir zweiundzwanzig, mehr können wir beide nicht erreichen.“ – „Ja, und ich soll dann hinter Dir herlaufen, weil Du die Idee hattest?“
„Wir sind doch Geschwister, Zwillingsgeschwister sogar, da wird keiner merken, wer von uns gerade vorne und wer hinten ist. Wir wechseln uns einfach ab.“
„Was für ein schöner Gedanke. Wir machen was gemeinsam und sind damit das elffache unserer Selbst. Wechseln uns ab, keiner ist besser oder schlechter. Ich hab Dich lieb."

Und so blieben die beiden ein ganzes Jahr zusammen, bis die 23 sie ablöste… aber das ist eine andere Geschichte, die ich im Jahr 2021 erzähle.

13 Juli 2020

Die Höhle Cogul


Nordspanien, April 1992. Heute ist Gerhard dran mit Autofahren. Mein Golf holpert seit Stunden über die Piste. Das wird dem Radlager gar nicht gefallen. Auf meinem Schoss liegt die Karte, viel zu ungenau, sagt Gerhard. Recht hat er, wir können uns kaum orientieren in einer fremden Landschaft und hätten mal lieber ein paar Mark mehr in gutes Kartenmaterial gesteckt.

Billy Idol ist cool, Gerhard liebt die Autoreverse-Funktion meines Kassettenspielers. Rebel Yell in Dauerschleife und wir scheinen im Kreis zu fahren. Irgendwo in dieser Mitte des Nichts taucht endlich mal ein Ort auf, nicht auf der Karte. Gerhard bremst, hält an. Neugierig kommen ein paar Bewohner auf uns zu. Wir kein Spanisch, die kein Deutsch. Wir lächeln sie an.

Zwei Burschen verloren, hier ist man nicht Student, hier ist man Ereignis. Ein Mann, vermutlich der Dorfälteste, wird herangewunken. Wir reden mit Händen und Füßen, zeigen auf die Karte. Gerhard holt den Reiseführer raus, hier, schau mal, die Höhle. Cogul.

Der Dorfälteste nickt, strahlt, gibt irgendwelche Anweisungen. Bewegung in der Menschentraube um unser Auto. Wasser im Angebot und mit Gesten, ob wir nicht aussteigen und rasten wollen. Aber die Höhlenmalerei aus dem Reiseführer. Ein jugendliches Mädchen kommt herbei, rassig, nicht wirklich schön. Ein paar Brocken englisch, Lichtblick für uns. Yes, Cogul, not so long. Geflüster mit dem Dorfältesten, Nicken, das Mädchen macht Anstalten einzusteigen. I show you the way. Gerhard schaut mich an. Volveré a pie. Wie eine Angebot, eine Verheißung.

Ich glaube, sie wünschen uns gute Fahrt und winken uns nach. Das Mädchen tippt Gerhard auf die Schulter, zeigt mal nach rechts und dann nach links, redet dabei. Temperamentvolles Spanisch ohne Scheu. Por ahí! La Cueva – hay. Wirklich ein Schild zur Höhle.

Wir sind da, Gerhard hält, das Mädchen springt aus dem Auto. Billy Idol läuft. Einen Moment Ruhe, ein Tag Fahrt, ein Dorfbesuch, ein Mädchen, eine Höhle.

Wir steigen aus, die Höhle ist wegen Renovierung geschlossen. Das Mädchen ist verschwunden.
Wir kommen wieder, sagt Gerhard.