Letztlich bekam ich einen Brief. Der Absender überschüttete mich mit allerlei Vorwürfen, aggressiven Formulierungen und Behauptungen. Unterschwellig sprach aus diesem Brief viel aufgestaute Wut, Neid dabei, aber auch Verzweiflung und Trauer. Zum Schluss des Schreibens räumte der Versender ein, geweint zu haben.
Wie, so fragte ich mich beim Lesen, wie sollte man in diesem Wirrwarr der Emotionen der Gegenseite – also mir – Wertschätzung oder auch nur Respekt entgegenbringen? Wie könnte man, trunken vom Cocktail der Gefühle, nüchterne Aussagen von sich geben oder sachliche Entscheidungen treffen?
Weniger die Inhalte haben mich berührt. Vielmehr löste es bei mir Grübeln aus über die psychologischen Ursachen dieser Eruption. Einem depressiven Menschen erscheint auch ein Sonnentag grau; wer einen wilden Stier in sich trägt, für den ist jedes Tuch rot, Blut-rot. Die Chance, Verbesserung über eine Replik oder ein Gespräch herbeizuführen, erschien mir wenig erfolgversprechend.
Viele Fragen kamen mir in den Sinn.
Offensichtlich muss ich in der Tiefe forschen: Was steckt verborgen hinter diesen unfreundlichen Zeilen? Was genau ist der Eisberg, dessen Spitze ich zu sehen bekomme?
Welche Bedürfnisse der Persönlichkeit sind betroffen, werden da von mir nicht oder falsch bedient?
Und natürlich: Welche Glaubenssätze stehen da zwischen uns?
Ich erkannte, dass ich es mit einer nicht untypischen Mischung zu tun habe. Da sind einerseits charakterliche Unterschiede, die wir nicht überbrücken können. Hinzu kommen auf Seiten des Absenders innere Widerstreite, die ungelöst sind und natürlich ihre Außenwirkung auf mich entfalten. Und schließlich bin selbstverständlich auch ich Teil dieses explosiven Systems.
Was also tun? Schwierig, schwierig! Wenn ich antworte, so muss ich mit aller denkbaren Umsicht agieren, schon die Empfehlung eines Coachings zur inneren Versöhnung wäre absehbar ein Zündfunken am Pulverfass. Oder gar nicht reagieren? Ihn mit seiner Situation alleine lassen und zusehen, wie er sich immer weiter hineinsteigert? Wie die Formulierungen immer schärfer, die Gedanken immer abstruser und der imaginäre Feind – ich – aus seiner Sicht immer bedrohlicher wird?
Ehrlich gesagt: Ich kenne die Lösung nicht. Meine Empathie gilt jeder Person in der Öffentlichkeit, die sich von Zeitgenossen zum Teil abenteuerliche Vorwürfe anhören oder lesen müssen. Die große Herausforderung besteht darin, die Post ernst zu nehmen und sensibel in sich selbst nach einer Antwort zu horchen, aber andererseits auch nicht aus jedem Feedback einen Kurswechsel abzuleiten.
Der gute Wille zur Einigkeit und Einigung alleine reicht jedenfalls nicht. Erst muss das ganze System re-noviert (nach Analyse und Bearbeitung neu aufgesetzt) werden. Und so lange werde ich ertragen müssen, solche Briefe zu bekommen, egal wie sehr mich das schmerzt.