"Schau mal", schreit die Frau neben mir, "toll sieht er aus, dieser Regenbogen." Ich glaube nicht, dass sie mit mir spricht, sie will sich nur einfach mal Luft machen, ihre Freude herauslassen. "Schön ist das, so lange hatten wir Regen und jetzt endlich mal Sonne und gleich dieser Regenbogen", geht es weiter. Ich schwanke spontan zwischen genervter Reaktion über die unerbetene Beschallung und Mitfreude an diesem Ausbruch guter Laune.
Kurzerhand entscheide ich mich, mich auf ihre Stimmung einzulassen. "Ein Traum", sage ich zu ihr, lächele sie freundlich an und bin irritiert, weil sie mich jetzt völlig überrascht anschaut. Kurze Pause ihrer Begeisterung, dann scheint sie erst zu realisieren, dass irgendeine Person ihr überhaupt bei ihrem Selbstgespräch zugehört hat. "Ja, ein Traum! Kaum scheint die Sonne, schon fühlt man sich besser, Ende der Depression, ein Traum wie man sich da fühlt. Allmählich konnte ich den Dauerregen nicht mehr sehen, immer Wassertropfen am Fenster, Regenschirm, Flüchten vom Haus ins Auto und platschen in Pfützen."
Und so weiter. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass sie wieder mehr mit sich als mit mir oder irgendjemand anders redet. Halbwegs zusammenhängend fließen die Gedanken aus ihrem Mund, bahnen sich ihren Weg in die Umwelt und versickern im Rappeln der S-Bahn. Strahlend schaut sie mich dabei an, im ersten Moment bin ich geneigt, ihr wieder zuzulächeln oder sogar etwas zu erwidern. Aber weder lässt sie mir in ihrem Redestrom Zeit für eine Antwort, noch scheint sie auf einen Dialog aus zu sein.
"Der Regen hat natürlich auch sein Gutes, nicht allein wegen der Natur - die kann es ja nach dem trockenen Sommer wirklich gut gebrauchen. Aber ohne Regen könnten wir die Sonnenstunden gar nicht so genießen und vor allem könnte es gar keinen Regenbogen geben. Ohne Regen kein Regenbogen, das ist doch logisch", plappert sie weiter. Ich frage mich, ob sie mich überhaupt wahrnimmt, ob sie sich nachher überhaupt an mich erinnern kann. Hatte da jemand neben ihr gesessen?
Weniger aus Interesse an einer Konversation als viel mehr aus Neugierde widerspreche ich ihr "Ist es denn wirklich die Sache wert, mal ein Regenbogen und dafür tagelanges Gepläster und dauernasse Kleidung?" Wie erwartet nimmt sie nur sehr am Rande Notiz von meiner Äußerung. Als wäre sie genau meiner Meinung strahlt sie mich an, oh Gott, gleich knutscht sie mich ab. Aber so weit kommt es nicht, denn schon fällt ihr wieder ein, wo sie stehengeblieben ist und setzte ihre Betrachtung über Sonne, Regen, Laune und so weiter unvermindert fort.
Ist das lustig oder aufdringlich, frage ich mich, und ob sie wohl im Alltag bei anderen Themen, in der Firma oder der Partnerschaft genauso agiert? Oder hatte ich sie nur in einem euphorischen Moment erwischt? Gerade springt sie auf, rudert mit den Armen, breitet sie aus, als wollte sie Segen spenden oder Huldigungen entgegennehmen und schiebt sich in Richtung Tür.
Im Vorbeigehen winkt sie noch einer mittelalten Frau in Businesskostüm zu, weist auch diese lächelnd auf den langsam aus dem Blickfeld verschwindenden Regenbogen hin und ist im nächsten Moment durch die sich öffnende Ausgangstür verschwunden.
Sicher, ich war ein wenig überrumpelt, aber tatsächlich wirkte die merkwürdige Szene noch in mir nach und ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Hals verrenkte, um doch noch mal einen Blick auf den farbenfrohen Bogen werfen zu können.
[Andere Blogs: Interdisziplinäre Gedanken - Dienstliche Glossen]