18 Oktober 2024

Somewhere before the rainbow

"Schau mal", schreit die Frau neben mir, "toll sieht er aus, dieser Regenbogen." Ich glaube nicht, dass sie mit mir spricht, sie will sich nur einfach mal Luft machen, ihre Freude herauslassen. "Schön ist das, so lange hatten wir Regen und jetzt endlich mal Sonne und gleich dieser Regenbogen", geht es weiter. Ich schwanke spontan zwischen genervter Reaktion über die unerbetene Beschallung und Mitfreude an diesem Ausbruch guter Laune.
Somewhere before the rainbow
Kurzerhand entscheide ich mich, mich auf ihre Stimmung einzulassen. "Ein Traum", sage ich zu ihr, lächele sie freundlich an und bin irritiert, weil sie mich jetzt völlig überrascht anschaut. Kurze Pause ihrer Begeisterung, dann scheint sie erst zu realisieren, dass irgendeine Person ihr überhaupt bei ihrem Selbstgespräch zugehört hat. "Ja, ein Traum! Kaum scheint die Sonne, schon fühlt man sich besser, Ende der Depression, ein Traum wie man sich da fühlt. Allmählich konnte ich den Dauerregen nicht mehr sehen, immer Wassertropfen am Fenster, Regenschirm, Flüchten vom Haus ins Auto und platschen in Pfützen."

Und so weiter. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass sie wieder mehr mit sich als mit mir oder irgendjemand anders redet. Halbwegs zusammenhängend fließen die Gedanken aus ihrem Mund, bahnen sich ihren Weg in die Umwelt und versickern im Rappeln der S-Bahn. Strahlend schaut sie mich dabei an, im ersten Moment bin ich geneigt, ihr wieder zuzulächeln oder sogar etwas zu erwidern. Aber weder lässt sie mir in ihrem Redestrom Zeit für eine Antwort, noch scheint sie auf einen Dialog aus zu sein.

"Der Regen hat natürlich auch sein Gutes, nicht allein wegen der Natur - die kann es ja nach dem trockenen Sommer wirklich gut gebrauchen. Aber ohne Regen könnten wir die Sonnenstunden gar nicht so genießen und vor allem könnte es gar keinen Regenbogen geben. Ohne Regen kein Regenbogen, das ist doch logisch", plappert sie weiter. Ich frage mich, ob sie mich überhaupt wahrnimmt, ob sie sich nachher überhaupt an mich erinnern kann. Hatte da jemand neben ihr gesessen?

Weniger aus Interesse an einer Konversation als viel mehr aus Neugierde widerspreche ich ihr "Ist es denn wirklich die Sache wert, mal ein Regenbogen und dafür tagelanges Gepläster und dauernasse Kleidung?" Wie erwartet nimmt sie nur sehr am Rande Notiz von meiner Äußerung. Als wäre sie genau meiner Meinung strahlt sie mich an, oh Gott, gleich knutscht sie mich ab. Aber so weit kommt es nicht, denn schon fällt ihr wieder ein, wo sie stehengeblieben ist und setzte ihre Betrachtung über Sonne, Regen, Laune und so weiter unvermindert fort.

Ist das lustig oder aufdringlich, frage ich mich, und ob sie wohl im Alltag bei anderen Themen, in der Firma oder der Partnerschaft genauso agiert? Oder hatte ich sie nur in einem euphorischen Moment erwischt? Gerade springt sie auf, rudert mit den Armen, breitet sie aus, als wollte sie Segen spenden oder Huldigungen entgegennehmen und schiebt sich in Richtung Tür.

Im Vorbeigehen winkt sie noch einer mittelalten Frau in Businesskostüm zu, weist auch diese lächelnd auf den langsam aus dem Blickfeld verschwindenden Regenbogen hin und ist im nächsten Moment durch die sich öffnende Ausgangstür verschwunden.

Sicher, ich war ein wenig überrumpelt, aber tatsächlich wirkte die merkwürdige Szene noch in mir nach und ich ertappte mich dabei, wie ich meinen Hals verrenkte, um doch noch mal einen Blick auf den farbenfrohen Bogen werfen zu können.

11 Oktober 2024

Foto gemacht

Hohe Tannen weisen die Sterne. Vorsichtig öffne ich meine Augen, Dunkelheit um mich, ganz entfernt meine ich ein paar Lichter entdecken zu können. Es sind Sterne, denn ich liege auf dem Rücken, mein Kopf ruht schwerelos, vermutlich auf weichem Moos.

Langsam komme ich zu mir, die Sterne verblassen und auch die Dunkelheit nimmt ab, vielmehr scheint es eher Tag zu sein. Und auch mein Kopf ist gar nicht so schwerelos. Nur bewegen kann ich ihn nicht. Auch Arme und Beine gehorchen nicht meinem Willen, im Moment kann ich nur liegen und abwarten, wie es weitergeht.

Was mag passiert sein, immerhin kann ich noch denken, wenn auch meine Erinnerung eine Lücke zu haben scheint. Das letzte was ich noch abrufen kann, ist ein heftiger Schlag. Was war davor, ich muss ja unterwegs gewesen sein, wenn ich irgendwo draußen liege.

Ich martere mein Gehirn, versuche die Zeit vor meiner Bewusstlosigkeit zu rekonstruieren. Gleichzeitig der tapfere Antritt, irgendwelche körperlichen Bewegungen auszuführen. Und tatsächlich, jetzt gelingt es mir, die Finger der rechten Hand zu einer Faust zu ballen, noch mal Anstrengung und ich kann sogar die ganze Hand ein wenig anheben.

Also nochmal: Was könnte vorher abgelaufen sein. War da nicht irgendein Ausflug geplant, heute Sonntag wenn ich es richtig vermute, ein Ausflug erst mit dem Auto. Aber hatte ich einen Autounfall oder war das Unglück vorher oder nachher passiert?

Während ich auch andere Muskeln langsam wieder in Gang setze wird mir klar, dass ich trotz meiner merkwürdigen Lage überhaupt keine Schmerzen empfinde. Bin ich schon tot oder ist auch mein Schmerzzentrum so stark geschädigt, dass es nicht mitmacht? Geht das überhaupt?

Es fällt mir schwer, aber ich kann mich jetzt sogar auf die Seite drehen, zum ersten Mal sehe ich meinen Liegeplatz, lauter Steine um mich herum, ein paar Gräser dazwischen. Mit schwerem Arm ertaste ich meinen Kopf, die Haare fühlen sich feucht an, meine Hand ist rot, als ich sie wieder zurückziehe.

Im nächsten Moment tauchen wieder die Sterne auf, es wird noch heller, die wenigen Geräusche wie von Insekten werden überscharf, bis sie verstummen. Meine Augen fallen zu, alles fühlt sich wieder ganz leicht an und ich versinke mit entspanntem Gesicht wieder in der Ohnmacht.

Das junge Paar, das mich schließlich fand berichtete, dass ich dort schon eine Weile gelegen haben musste. Die Platzwunde an meinem Kopf war zur Ruhe gekommen, mein ganzer Körper wie ein lebloser Sack und nur kurze Zuckungen hätten darauf hingedeutet, dass ich noch am Leben war.

Sie hatten mich so gut sie konnten zu zweit hochgehoben und zum nahegelegenen Parkplatz getragen. Dort hatten sie einen Krankenwagen gerufen und die Sanitäter hatten mich dann zum Transport in das nächste Hospital eingeladen.

Foto gemacht
Aus den wenigen Informationen und Fakten kristallisierte sich nach allmählich zurückkehrender Erinnerung heraus, dass ich wohl angehalten hatte um ein Foto zu machen. Auf der Suche nach einem guten Standort musste ich wohl abgerutscht und ein paar Meter den Hang heruntergestürzt sein.

Jedenfalls hatte ich Glück im Unglück gehabt, trotz sorgfältiger Untersuchung stellten die Ärzte nur eine massive Gehirnerschütterung, ein paar Abschürfungen und natürlich die Platzwunde an meinem Hinterkopf fest.

Und es war nochmal ein Stück schöner, als mich Claudia und Thorsten auch in den folgenden Tagen im Krankenhaus besuchen kamen und mich nach Wiederkehr meiner Kräfte einluden, den Urlaub mit ihnen gemeinsam fortzusetzen. Wie wir nämlich feststellten, teilten wir die Liebe zu den Bergen und die Freude an den weiten Ausblicken. Die ich allerdings nicht mehr auf gerölligem Fels mit meiner Kamera festhalten sollte, wie mir Thorsten mit Augenzwinkern empfahl.

04 Oktober 2024

Schwimmen im Strom der Zeit

Schwimmen im Strom der Zeit
Ich schwimme seit ich auf der Welt bin. Die erste große Welle direkt bei der Geburt, durch den Kanal hindurch ans Tageslicht.

Das erste Ziel der Entwicklung erreicht. Ich bin von meiner Mutter dazu gebracht worden, etwas zu beginnen, was man Leben nennt.

Es beginnt mit künstlichem Auf und Ab. Stunden zwischen Mutterbrust, Schlaf und Beobachtung der Welt.

Krabbeln und die Umgebung erkunden, nur unterbrochen vom sorgsam vorbereiteten Bad in der Wanne.

Ein wenig unsicher auf den wackeligen Beinen, vom Menschstrom höflich umrundet.

Plantschen im Bach mit den Spielkameraden, Bau von Dämmen und stolzieren in viel zu großen Gummistiefeln.

Schule. Umgeben von Anderen in meinem Alter, umringt von Lehrern, umsorgt von den Eltern.

Die seichten Wogen der ersten Liebelei. Ein undefinierbares Prickeln, gelegentlich ein paar bislang ungekannte Gedanken.

Steigerung des Wellengangs zwischen euphorischer Begeisterung und tieftrauriger Enttäuschung. Pubertät eben.

Untiefen im Gewässer, immer wieder Gelegenheiten auf Grund zu laufen, in die Loreley vernarrt auf die falsche Bahn zu geraten. Drogen, Alkohol und allerlei illegale Gelegenheiten.

Rollen und Stampfen im Seegang der ersten festen Beziehung, der ersten Stelle, des ersten Ortswechsels.

Mal kurze Beruhigung, ablandiger Rückenwind mit zügiger Fahrt auf das offene Meer hinaus mit all seinen Herausforderungen, Verlockungen, fremden Ländern und Geschichten.

Seitenwind, Gegenwind, Umzug, Beziehungswechsel, neue Stelle, Kind und Kegel.

Böiger Wind aus wechselnden Richtungen, große Fahrt auf freiem Wasser, mal mit stolz in See stechendem Bug, mal mit beängstigender Schlagseite.

Vor Anker gegangen, Taucheranzug an, rein ins Wasser und ein Blick durch die dicke Schwimmbrille auf die Unterwelt.

Nach Verbrauch von reichlich Sauerstoff und umringt von bunten Fischen, giftigen Meeresbewohnern und stacheligen Pflanzen wieder zurück an Deck.

Sanftes Schaukeln, sanfte Brise ohne merklichen Wellengang. Pause, Midlife-Crisis.

Doch dort hinten am Horizont wieder ein Ziel, Anker gelichtet, das Fernglas vor den Augen und wieder Fahrt aufgenommen.

Die Tage kommen, sie gehen, unzählige Nächte mit immer seltsameren Träumen.

Das letzte Stück kann ich auch schwimmen, ich springe wieder mal über Bord, vielleicht habe ich mich bei diesem letzten Ausflug ein wenig verschätzt. Denn gegen den Strom der Zeit kann auch ich nicht schwimmen.