25 November 2022

Dichter, Denker, Aktivistin

Sie setzt sich einfach neben mich auf die Parkbank. Ob ich auch dagegen wäre? "Wogegen?" "Na, gegen den Klimawandel, die Erderwärmung, die Energiekosten, dagegen halt." "Ja, nein… also… egal." Ich will eigentlich nur mein Buch weiterlesen, nicht von einer Aktivistin belatschert werden. Doch so einfach ist das nicht.
"Wie kann einem das egal sein? Die Globalisierung geht voran, die Wirtschaft macht einfach weiter und bezahlt, aber es passiert nichts."
Sie ist Mitte zwanzig, mittelgroß, dunkelblonde Haare, sportliche Figur und intelligente Augen. Über der Jeans trägt sie eine robuste Jacke, für Outdoor geeignet. Insgesamt wirkt sie ein bisschen außer Atem, jetzt sehe ich auch die roten Kratzer an ihrem Kopf und auch an der Hand scheint sie sich verletzt zu haben.
"Also gut, ich bin dagegen." "Und da sitzt du hier herum und liest ein Buch?" "Ja." "Wir müssen demonstrieren, zeigen, dass es so nicht weitergehen darf. Die Menschen wachrütteln." "Nein, ich muss nicht demonstrieren." "Wer nichts macht, macht sich mitschuldig."
Langsam finde ich die Sache lästig. Nicht, dass mir die desolate Lage einerlei wäre, aber weder will ich mich unter wildgewordene Menschenmassen mengen oder mich auf die Straße kleben, noch möchte ich in Diskussionen mit Sendungsbewussten verstrickt werden.
"Wissen Sie," (ich wähle bewusst die Sie-Form) "es gibt unbeschreiblich viel Elend, viel Kritikwürdiges, viel Ungerechtigkeit. Und gegen jeden dieser Punkte kann man demonstrieren, aber eben nicht gegen alles." Sie lässt nicht locker: "Was bist du selbstgefällig und träge und überlässt den unangenehmen Teil anderen Leuten. Wenn wir alle so drauf wären, würden wir noch im Mittelalter leben." "Was vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Kann ich jetzt bitte weiterlesen?"
Meine unerwünschte Nachbarin ist noch auf Krawall aus, vermutlich kommt sie gerade von irgendeiner Kundgebung oder Versammlung oder Demo und muss jetzt ihre ganze Energie loswerden. Vorzugsweise an mir. "Du kannst bald nicht mehr weiterlesen, dann gibt es keine Bücher mehr." "Warum das jetzt schon wieder?" "Weil Bücher klimaschädlich sind." "Wer erzählt solchen Blödsinn?" Langsam werde ich sauer, habe weder auf das Gespräch noch auf die Halbwahrheiten Lust. "Habe ich gelesen und es gab einen Bericht dazu im 'Monitor'. Die haben die Ökobilanz von Büchern untersucht. Da staunst du!"

Dichter, Denker, Aktivistin
Nein, ich staune nicht und auch wenn ich in ihren Augen ein lahmer Spießer und Demo-Verweigerer bin: Meine Mittagspause hatte ich mir anders vorgestellt. "Wissen Sie", fange ich wieder an, komme aber nicht weit, weil jetzt von der Seite eine kleine Menschenmenge gezogen kommt. Sie sehen alle leicht angeschlagen aus, haben wohl eine anstrengende Auseinandersetzung hinter sich. Gerade entdecken sie uns auf der Bank, schwenken zu uns herüber und stehen vor uns. "Mensch Sonja, wir wussten eben nicht, wo du warst, plötzlich weg und die anderen Arschlöcher hinter uns her." "Nein, alles gut. Ich habe versucht, den Mann hier zu bewegen. Mal ein bisschen an unseren ökologischen Fußabdruck zu denken und den Hintern hoch zu kriegen. Irgendwie kapiert er nicht, dass Bücherlesen nicht hilft." Angesichts der Übermacht halte ich mal lieber den Mund, auch wenn ich ganz anderer Meinung bin.
Und dann habe ich Glück, denn "Komm, ist egal jetzt, der Kerl wird es auch noch raffen und wir müssen weiter."

Noch ein wenig in Gedanken lege ich das Buch zur Seite, schaue dem abziehenden Trupp nach und frage mich, ob ich selbstgefällig und träge bin und den unangenehmen Teil anderen Leuten überlasse.

17 November 2022

Bandwurm in XML

An Tagen wie diesen schlängeln sich meine Gedanken wie ein ganz langer Wurm durch wechselnde Themen. Einzige Chance, sie als Extensible Markup Language zu strukturieren. Etwa so:
Bandwurm in XML
<Bandwurm>
So-stand-ich-heute-Morgen-beim-Zähneputzen-vor-dem-Spiegel-und-fragte-mich-,-was-der-Tag-bringen-würde.
<Arbeit>
Zuerst-kam-mir-die-Arbeit-in-den-Sinn-,-die-Mailbox-nach-meiner-Abwesenheit-letzte-Woche-noch-nicht-ganz-abgearbeitet.
Immerhin-(-so-fiel-mir-ein-)-hatte-ich-mich-durch-die-meisten-Nachrichten-durchgearbeitet-und-hatte-gute-Chancen-heute-fertig-zu-werden.
</Arbeit> 
<Privatmail>
Von-der-Mailbox-schweiften-die-Gedanken-weiter-zu-meinen-privaten-Mails-und-neben-den-angenehmen-Kontakten-erinnerte-ich-mich-an-das-Finanzamt.
</Privatmail> 
<Steuer>
Dieses-Jahr-durch-Zensus-und-Grundsteuer-zusätzliche-lästige-Formulare-zum-Teil-in-Papierform-,-zum-Teil-elektronisch.
<Passwort>
Tja-,-seufze-ich-,-wo-mag-nur-das-Passwort-für-Elster-sein-,-und-überhaupt-wo-habe-ich-die-Zugangsdaten?
</Passwort>
<Vergesslichkeit>
Diese-Vergesslichkeit-beschäftigte-mich-wie-gesagt-schon-beim-Zähneputzen-und-verfolgte-mich-noch-während-der-Rasur.
</Vergesslichkeit>
Wenn-ich-schon-die-Unterlagen-für-die-Grundsteuer-heraussuchen-muss-kann-ich-auch-gleich-die-Unterlage-für-die-Steuererklärung-mit-suchen.
</Steuer>
<Kleidung>
Noch-grübelnd-ziehe-ich-mich-an-,-zurück-zum-Arbeitstag-gibt-es-heute-Besprechungen-zu-denen-ich-mich-in-Schale-werfen-muss?
</Kleidung>
<Frühstück>
Treppe-runter-in-die-Küche-an-den-Kühlschrank-lenkt-meine-Gedanken-auf-das-Frühstück-,-ist-noch-Müsli-da-und-Obst?
</Frühstück>
<Einkaufsliste>
Geschwind-die-Einkaufsliste-ergänzen-,-war-da-nicht-gestern-Abend-irgendetwas-zur-Neige-gegangen?
Beim-Anschauen-des-Spielfilms-(-wie-hieß-er-noch?-)-hatten-wir-doch-Salzstangen-und-Nachos-geknabbert.
</Einkaufsliste>
<Arbeit2>
Derweil-haben-mich-meine-Füße-zum-Schreibtisch-gebracht-,-der-PC-ist-gestartet-und-die-Gedankensprünge-werden-kürzer.
</Arbeit2>
Jetzt-konzentrieren-,-Themen-bündeln-und-behutsam-in-der-Arbeitswelt-ankommen.
</Bandwurm>

11 November 2022

Wiedersehen

Mensch, Wolfgang, altes Haus, wie geht es Dir denn so? – Mein Gegenüber schaut mich etwas irritiert an: Sollten wir uns kennen? – Klar, wir waren zusammen in der Ferienfreizeit, als Jugendliche, damals hast Du wie ein Wilder Fußball gespielt und am Ende ist eine Fensterscheibe in der Herberge zu Bruch gegangen. – Daran kann ich mich nicht erinnern, Fußball war auch nie so meine Leidenschaft. Ich glaube, Sie verwechseln mich. – Doch, doch, das musst Du doch noch wissen, wie wir damals im Bus mit Kaugummis Muster auf den Vordersitz geklebt haben. Und dabei erwischt worden sind. – Ähm, wirklich, das hört sich alles recht abenteuerlich an, aber mit mir hat es nichts zu tun. Obendrein heiße ich auch nicht Wolfgang. – Nicht Wolfgang? Dann habe ich den Namen falsch im Gedächtnis, aber Dein Gesicht… die Mädchen waren doch ganz verrückt danach, auf Deinem Schoß zu landen und Dir in den Haaren zu wuscheln. – Also, das kann ich mal bestätigen, mit Mädchen lief es ganz gut. In der Mitte der Jugend war es eine einzige Knutscherei. – Und heute, was machst Du heute? – Reisebranche. Immer unterwegs, Beratung von Geschäftskunden und Organisation von Incentives. – Mensch, wie cool, rumkommen und dafür auch noch bezahlt werden, das muss doch ein Traum sein. Was hast Du denn dafür studiert? – Der Mann, der nicht Wolfgang heißt schaut mich etwas verlegen an, gar nichts.

Ich bin der Chemie treu geblieben, wie damals immer ein Reagenzglas in der Tasche, haha, es gibt noch viel zu erforschen und viel zu erleben. Nicht nur bei Frauen, stimmts? Wir sind inzwischen am Ende vom Bahnhof angekommen, mein Kumpel biegt ab und: War schön, Dich wiedergesehen zu haben. Wir sollten mal ein Bier trinken rufe ich ihm nach, heute Abend suche ich mal die alten Fotos raus und dann fallen mir auch noch ein paar Geschichten ein.
Wiedersehen


03 November 2022

Farbenfroh und geräuschvoll

Farbenfroh und geräuschvoll
Grün die Wiesen
Dunkelgrün der Wald
Blau der Himmel
Weiß die Wolken
Golden die Sonne
Grau das Bauernhaus
Braun die Scheune
Schwarz der Rauch
Rot das Feuer

Zischend die Flammen
Knackend die Balken
Ächzend der Dachstuhl
Schreiend die Bewohner
Grunzend die Schweine
Rufend die Feuerwehrleute
Schluchzend die Kinder
Wiehernd die Pferde
Still die Landschaft

Rauchende Trümmer
Verendete Tiere
Durchnässter Boden
Erschöpfte Menschen
Zerstörtes Gebäude
Verbrannte Ernte
Verheulte Bewohner
Untergehende Sonne
Gott Lob, das Wohnhaus steht noch.