26 Februar 2021

Stadtgeschichten

1
Oder wie der alte Mann, der jeden Tag einfach nur so dasaß und den Leuten zuschaute, die an ihm vorbeikamen, fast ein Fels inmitten einer Strömung, verzog er keine Miene, was auch passierte.

2
Wenn ich dann morgens meine Straßenbahn verließ, die in jenem Teil der Stadt als U-Bahn geführt war, musste ich erst einen Gang entlang, eine Treppe hinauf, wiederum einen Tunnel und schließlich – schon im Angesicht des Tageslichtes, wahlweise den letzten Höhenunterschied mit einer Treppe oder Rolltreppe zurücklegen. Und genau auf diesem Abschnitt meines Weges begegnete ich stets einem behinderten Mann, der sich vor mir die Treppe hinaufschleppte, er wählte freiwillig die Mühe, denn er hätte ja hinauffahren können. War ich früh, so sah ich ihn noch am Fuße der Treppe, anderntags, wenn ich vielleicht etwas später den Tunnel entlangkam, war er bereits weiter oben. Eines Tages habe ich ihn dann gar nicht mehr gesehen.

3
Die betonte Langeweile in den Augen des Verkäufers, die selbstverständliche Handbewegung, mit der er mir – einem Störenfried – fast schon verächtlich den Weg wies, der mich in eine weit von ihm entfernte Abteilung ins Exil schickte, woselbst ich nach längerem Suchen etwa fand, was ich weder haben wollte noch mir leisten konnte – diese nämliche Langeweile war es, die mich aus dem Geschäft flüchten ließ in der Hoffnung andernorts fündig zu werden und im Bedarfsfalle meine Wünsche dergestalt zu erfüllen, dass ich mit meinem Kauf und mir zufrieden nach Hause zurückkehren mochte, ohne mich bereits auf der Heimfahrt wegen der erworbenen Artikel, die ich im Grund nur dem Kassierer zum Gefallen ausgewählt hatte, schämen zu müssen und den Rest des Tages in froher, ich möchte fast sagen einer Stimmung der freudigen Erwartung des Auspackens zu verbringen.

4
Nachdem ich den Vormittag sehr konzentriert und entsprechend fruchtbar gearbeitet hatte, kam noch deutlich vor der Mittagspause mein Vorgesetzter durchs Büro gewirbelt. Ich ordnete, als ich wieder allein war, Schreibtisch und Gedanken, schleppte mich noch eine Viertelstunde weiter und musste dann resigniert zugeben, dass ich den Faden verloren und den Anschluss verpasst hatte.

5
In diesem Schaufenster lag – ich möchte nicht näher beschreiben wie – eine junge Dame, vollauf damit beschäftigt, die Auslage in eine ansprechende Form zu versetzen; mich jedenfalls faszinierten weniger die Gegenstände, die sie da ausbreitete, als vielmehr ihre schlanken Hände, mit denen sie meist mit einem Griff die Dekoration aufs entzückendste gestalten konnte. So blieb ich ein Weilchen vor jenem Fenster stehen, nicht ohne meinen Blick auch über den Rest ihres Körpers gleiten zu lassen, von dem ich hier nur den wohlgeformten Po erwähnen möchte und genoss das Entstehen eines Stilllebens, welches vor meinen Augen aus einem Haufen mehr oder weniger wahllos aus den Regalen genommener Sachen erwuchs.
[09/1989]

19 Februar 2021

Verehrter Anrufer

Es schmerzt mich so sehr, verehrter Anrufer, dass ich nicht persönlich ans Telefon gehen kann. Meine Trauer ist übergroß, größer noch als Dein Wunsch, mich sprechen zu wollen. Es ist auch nur ein unzureichender Ersatz, dass Du nach dem Tonsignal Gelegenheit hast, mir eine Nachricht zu hinterlassen. Finde Worte des Trostes zu meiner stillen Trauer und wenn diese mich erreichen, so werde ich nicht zögern, darüber nachzudenken, ob ich sie in größter Hochachtung erwidere.
*
Ja, hallo erst mal. Ich weiß nicht, ob Sie es schon wussten, aber ich bin im Moment nicht persönlich am Telefon. Bitte wählen Sie eine der folgenden Optionen. (1) Legen Sie jetzt direkt auf. (2) Denken Sie noch mal nach und legen dann auf. (3) Warten Sie bis zum Ende der Ansage und legen dann auf. (4) Rufen Sie später noch mal an. (5) Warten Sie bis zum Ende der Ansage und sprechen, wenn es gepiept hat.
*
Sie haben gewonnen! Der nächste freie Platz auf dem Speicherchip ist exklusiv für Sie reserviert. Nutzen Sie diese einmalige Gelegenheit und sprechen nach dem Signalton.

12 Februar 2021

Hex-hex

Vertraue meinem Zauberstab. Ich berühre irgendeinen Gegenstand, und schon wird er lebendig, bekommt eine Seele. Ich unterhalte mich gerne mit den Sachen, denn oft können sie mir Dinge erzählen, die ich als Mensch gar nicht so mitbekomme. Und die sie natürlich auch nur mir anvertrauen.

Neulich habe ich einem Gespräch im Kleiderschrank gelauscht, es war nur ein leises Wispern, erst beim Öffnen der Tür konnte ich verstehen, um was es geht. Es war das Klagen meiner Schlipse, seit dem Ausbruch der Pandemie hängen sie im Schrank und werden nicht benutzt. Kommen auch überhaupt nicht mehr raus, unter Leute, können an keiner Gesellschaft und keiner Veranstaltung mehr teilnehmen.

Was für ein tragisches Schicksal, dachte ich, nahm liebevoll eine gestreifte Krawatte von der Stange und streichelte sie. Das Wispern verstummte, ich konnte fühlen, wie sie sich unter meinen Fingern entspannte und glättete. Nun nahm ich auch die restlichen Krawatten, breitete sie auf dem Bett aus, sie lagen im hellen Sonnenschein und konnten glänzen. Um den Tag noch schöner zu gestalten entnahm ich aus dem Nachbarschrank einen seit Monaten nicht getragenen Anzug, legte ihn daneben und freute mich an dem schicken Anblick.

Kaum drehte ich mich um, konnte ich auch schon wieder die piepsigen Stimmen hören, aber diesmal war es kein Jammern, sondern die Freude über das Wiedersehen. Ich beschloss, sie eine Weile alleine zu lassen und anlässlich der guten Stimmung schnell mit meinem Zauberstab das Badezimmer zu beseelen.

Und tatsächlich: Der Zahnpastatube ging es heute gar nicht gut. Sie war wohl in der Mitte ausgedrückt worden und hing jetzt mit üblen Bauchschmerzen über dem Rand des Zahnputzglases. Das war allerdings ein gefundenes Fressen für die Zicken von Zahnbürsten, die hinter vorgehaltenen Borsten kicherten und sich über die Unpässlichkeit der Tube lustig machten. Ohne großen Aufwand konnte ich die Tube zurechtdrücken, jetzt steht die Tube wieder stolz im Glas und die Garstigkeiten der Bürsten verstummt.

Nun, manchmal will ich gar nicht so genau wissen, was da zwischen den Gegenständen abgeht. Aber das immer fröhliche Gurgeln des Waschbeckens sorgt bei mir für gute Stimmung. Wie ich hörte, ist es unsterblich verliebt in das Parfumflakon, das feingeschliffen und wohlriechend auf ihm steht. Was für ein schönes Paar, selbstlos duftend, fröhlich tönend.

Ach, laufe ich gut gelaunt in mein Büro, lasse mich auf den Schreibtischstuhl sinken (er seufzt ein wenig unter der Belastung) und berühre mit meinem Zauberstab den Bildschirm meines Dienst-Laptops. Schweigsam schaltet es um vom Ruhezustand, es erscheint meine Mailbox und trotz mehrfacher Versuche gelingt es mir nicht, den Nachrichten eine Seele einzuhauchen. Oder habe ich meine Wünsche bei der guten Fee für heute verbraucht?

 

05 Februar 2021

Billyboy

Das erste was ich sah, war der Mann auf dem Boden. Die Fliegen auf der rostbraunen Flüssigkeit um ihn und der Geruch sagten mir, dass ich seinen Puls nicht mehr prüfen muss. Tote sind nicht gerade mein Tagesgeschäft, aber das war ziemlich eindeutig einer.
Ich ging zurück zum Eingang des Motels. Hinter dem Tresen ein Mann mit speckigem Lederhut, ein schlampiges Hemd, Jeans aus besseren Tagen und vermutlich die dazu passenden Stiefel. „Bei mir im Zimmer ist noch jemand.“ Ach ja? „Ja. Und er ist tot.“ Woher wissen Sie das? „Sieht man.“ Aha.
Der Cowboy wird nicht gerade aktiv, zum Telefon greift er auch nicht. Wenn der Kasten in dieser gottverlassenen Gegend überhaupt funktioniert. Hier gibt es Gesetz und Ordnung, das eine hat mit dem anderen aber nichts zu tun. „Wer ist das?“ Wortlos kramt der Cowboy das Gästebuch hervor, blättert darin herum. Bill. „Billy Miller?“ Sie kennen den Mann?
Billy Miller habe ich in Vegas getroffen, ein Vertreter aus Detroit. Mit seinem Jahresgehalt hat er den dicken Macker heraushängen lassen. Großspurig berichtet, dass er im Casino richtig abkassiert hat und Party gemacht. In Wahrheit hatte er ständig verloren. Wer nach Vegas fährt, um Geld zu gewinnen, glaubt auch an den Weihnachtsmann. Aber in den Bars gab’s Schampus, Scharen von Mädchen um ihn. Was machte er hier, jetzt, tot?
Mehr Sorgen als die Leiche scheint dem Cowboy meine Gegenwart zu machen. Leute, die das Wort Fotoapparat fehlerfrei aussprechen können, sind ihm unheimlich. Fotografen gibt es nicht, das sind getarnte Detektive. Hey, Mister. „Ja?“ Wenn Sie weiterfahren, können Sie den Mann vielleicht in den Nachbarort mitnehmen.
Ich gehe nach draußen und setze mich auf die Stufen zum Parkplatz. Ich bin irgendwo an der Route 95, in der Wüste von Nevada. Hier gibt es keinen Nachbarort. Und was soll ich mit einer Leiche im Kofferraum. Ich schiebe mir den Hut ins Gesicht und will erst mal nachdenken. Am Horizont sehe ich eine Staubwolke, ein Auto nähert sich. Ich entschließe mich, nicht einzudösen. Ein ziemlich neuer Pickup fährt vor und die Tür springt auf. Ich sehe nichts, dann einen Strich mit hohen Pumps. Eine Blondine steigt die Fahrertreppe herunter, geht auf die Rezeption zu.
Irgendwoher kenne ich die Puppe. Ja, das war eine von Billys Mädchen. Er mit Strohhut am Pool, tagsüber, nicht ganz so betrunken wie nachts. Und sie hatte ihn immer Billyboy genannt. Was machte die hier, jetzt, lebendig?
Ich stehe auf, schaue durchs Fenster in den Pickup. Auf dem Armaturenbrett liegt die Zulassung, Arthur Cabeza. Der Name auf dem Schild vom Motel. Ich schlurfe rüber zum Eingang, der Tresen ist leer, kein Cowboy, keine Blondine. Während ich noch überlege, legt sich von hinten eine Hand auf meinem Arm und sie haucht mir irgendwas ins Ohr. „Wer sind Sie?“ Die Putzfrau.
Also, wenn sie die Putzfrau ist, bin ich der Sekretär vom Präsidenten. Sie hat eine durchsichtige Bluse an, durch die man ihre beeindruckende Oberweite sieht. Selbst ein Nerd würde von der Tastatur hochgucken. Darunter eine Jeans, ein Teil einer Jeans, gerade genug für ihren Hintern.
Sie machen Fotos? „Ja. Tiere. Landschaft.“ Auch Menschen? Kommen Sie!
Mit einem langen Schritt ist sie um den Tresen herum, greift Schlüssel 12 und zieht mich an sich. Ich denke an Billyboy. „Vergessen Sie es.“
Als hätte ich nichts gesagt greift sie meine Hand, hol Deine Kamera! und hält auf Zimmer 12 zu. Ich schnappe mir den Fotokoffer und gehe ihr nach. Während ich das Dreibein aufstelle, liegt sie schon auf dem Bett, räkelt sich.
Von Ferne höre ich klingeln, ein Auto muss an der Tankstelle vorgefahren sein. Diskussion am Empfang, die Wände sind nicht gerade dicht hier. Die Streiterei hört auf, kurze Stille, dann springt die Tür auf. Ein Fremder steht da, eine Pistole in der Hand. „Ich kann, ich will…“ Halts Maul!
Die Pistole ist auf die Blondine gerichtet. Schätzchen, was habe ich Dir gesagt? – Tu‘ mir nichts, ich mache es nie wieder. Der Gentleman ist Fotograf. – Ja klar, Fotograf.
Ich springe hinter den Fernsehsessel, Deckung. Ich höre, wie der Fremde durchs Zimmer läuft, dann fällt ein Schuss. Ich schaue vorsichtig um die Ecke, der Fremde liegt auf dem Boden, Blut läuft aus dem Mund. In der Hand der Blondine raucht ein kleiner Revolver.
Du hast nichts gesehen. Kleine Unstimmigkeit unter Freunden.
Im nächsten Moment ist sie weg, ich allein. Warum schon wieder eine Leiche? Draußen jetzt Geschrei, der Cowboy brüllt sie an, musste es unbedingt Charly sein? – Er wollte mir an die Wäsche – Als ob Dich das stört – Das geht Dich nichts an – Und ob, wenn der Clan davon Wind bekommt.
Der Clan also. Ich krieche hinter dem Sessel hervor, rapple mich auf und gehe zur Rezeption.
Ja? „Bei mir im neuen Zimmer ist auch noch jemand.“ Ach ja? „Ja. Und er ist tot.“ Woher wissen Sie das? „Sieht man.“ Aha. Mister, Sie machen mir wirklich den Tag kaputt. „Wollen Sie nicht mal den Sheriff anrufen?“ Ist heute schon zu spät. Morgen. Wann reisen Sie ab? Nächste Nacht ist hier nichts frei.
Ich schaue auf die Uhr. Später Nachmittag. Die Blondine schaut mich an. Er kann in die Suite, ich bring ihn hin.
Ich schnappe mir den Fotokram und meinen Koffer, der Blondine nach. Nicht schon wieder eine Leiche. Aber sie schließt nur die Tür auf, schiebt mich ins Zimmer, ist wieder weg. Kommt noch mal, stellt mir eine Flasche Whisky rein. Das Zimmer ist geräumig, Doppelbett, Waschbecken, Schreibtisch. Ich schnappe mir den Whisky, undefinierte Marke, ein Schluck, ein zweiter. Dann lasse ich mich auf das Bett fallen, noch mal ein großer Schluck, Augen zu.
Am nächsten Morgen werde ich von Geklapper wach. Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken, Scheiß auf Rasieren, und mache die Tür auf. Die Blondine mit Eimer, sie hat tatsächlich Gummihandschuhe an. „Guten Morgen.“ Kann ich rein?
Wieder Besuch, diesmal ein Polizeiauto. Sie sind der Mann mit den Leichen? „Ja.“ Ich sehe keine. „Was sagt der Besitzer?“ Keine Leichen, hält Sie für so ‘nen überspannten Großstädter. Zeigen Sie mir die Toten.
Wir laufen über den Parkplatz zur Rezeption. Kein Cowboy. Ich drücke auf den Klingelknopf, nichts. Zimmernummer? „8 und 12.“ Ok, kommen Sie.
Der Sheriff greift über die Theke, angelt die beiden Schlüssel und macht sich auf den Weg zu den Zimmern. Billy ist weg. Wo er gestern lag, ist ein Teppich, kein Blut. Vielleicht steht der Stuhl jetzt woanders, sonst nichts.
Zimmer 12 genauso. Der Fernsehsessel steht wieder, kein Toter, ein Teppich auf dem Boden. „Ok, ich sehe auch keine Leichen.“ Mister, ich habe keine Zeit für Typen mit zu viel Fantasie. Was machen Sie eigentlich überhaupt hier? „Ich bin Fotograf.“ Fotograf, klar. Wissen Sie was, packen Sie Ihre Sachen und fahren Sie, fahren Sie wohin sie wollen, mindestens 300 Meilen und lassen sich hier nicht mehr blicken.
Ich bleibe kurz stehen, dann schiebe ich mir den Hut in den Nacken. Hole mir meinen Koffer und dann zum Eingang. Der Cowboy ist jetzt da, einen Moment zu spät klappt er die Kasse zu. Mehr Scheine als diese Kaschemme in den nächsten zehn Jahren abwerfen könnte. Wortlos gebe ich ihm den Schlüssel.

[Andere Reisegeschichte aus Amerika: Auf dem Weg nach L. A.