26 Dezember 2020

Rudolf, der Streber

So einen hatten wir doch alle in der Klasse. Der alles weiß, der alles kann, der sich bei jedem Lehrer partout einschleimen muss. „Darf ich das vorrechnen?“, „Ich habe Aufgabe 38c zusätzlich gemacht.“ und so weiter.
Das ist total anti, stört den Frieden und verdirbt den Durchschnitt. Und so Typen haben ja auch keine Hobbies, können die Weihnachtsgeschichte rückwärts erzählen und kennen die Flugroute der Rosinenbomber. 
Mit seiner Laterne auf der Nase ist er furchtbar niedlich, findet meine Freundin. Und wie süß er gucken kann. Also für mich sieht er ein bisschen dämlich aus und das Licht ist doch eher ein peinlich leuchtender Pickel. 
Kurz: Noch schöner wäre mein Schulleben ohne solche Mitschüler gewesen.

Aber es gibt sie. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, bleiben sie einem auch über die Schulzeit hinaus erhalten. Der ganze Rummel ging ja danach erst richtig los. Merchandising, T-Shirts mit Rodolf, Kissen, Süßigkeiten. Wenn ich das Lied schon im Radio höre „Rudolf, das kleine Rentier“, wo er als Superheld gefeiert wird, der Retter in der Not. Unfassbar, selbst dem Nikolaus hat er mit seinem blöden Geschwätz und seiner Angeberei den Kopf verdreht.
Einziger Trost: Ich bin nicht alleine. Der Weihnachtsrummel, die Rudolf!-Rudolf!-Rufe, dieser ganze Hype – elend, finden meine Schulkameraden auch. Gut, dass man da mal ganz klar einer Meinung ist.

18 Dezember 2020

Der alte Mann und das Tor

Er steht davor und kramt in der Tasche. Schließlich findet er den Schlüssel und zieht ihn heraus. Über sein Gesicht gleitet ein triumphierendes Lächeln. Nach oben ist es nur ein Balken, nach rechts und links nur zwei Pfähle, achtlos in den Boden gerammt. Dahinter liegt eine wilde Wiese mit einer Handvoll Bäumen, Obstbäumen.

Er tritt ein und macht das Tor sorgfältig hinter sich zu. Er schließt sogar ab. Ein paar Schritte nach vorn und er steht unter dem schönsten Stück in dieser Idylle. Bald werden Pflaumen herunterhängen.
Bald wird der Bagger kommen. Vor dem Tor liegt die Hauptverkehrsader, rechts sind zwei Wohnblocks mit Büros, links ein Metallbetrieb. So kann das nicht bleiben. Irgendwie muss hier für ein einheitliches Bild gesorgt werden.

Der alte Mann setzt sich hin, mitten auf seine Wiese, inmitten der Blumen und wilden Gräser, die eine Erinnerung darstellen an den Familienbesitz. Früher war hier der Garten, weiter hinten das Wohnhaus. Das Haus war das erste, was gehen musste. Stattdessen gibt es jetzt ein Hotel, ganz neu und so eingerichtet, dass die Stadt darin ihre Diskussionsabende abhalten kann.

Der Garten war früher besser gepflegt, aber auch heute strömt er noch eine gewisse romantische Schönheit aus. Der Zaun hat die Zeit nicht überlebt; Nicht, dass ihn jemand abgerissen hätte, aber es tat auch niemand etwas zu seiner Erhaltung.

So stehen von der Familie nur noch der alte Mann und das Tor. Es hat keine Aufgabe mehr, man würde es besser abreißen, weil es mitten in der Landschaft steht, und er hat…
[07/1985. Inspiriert von einem verfallenen Torbogen auf freiem Feld.]

11 Dezember 2020

Verstehst du mich nicht oder willst Du mich nicht verstehen?

In den letzten Jahren ist mir mehrmals der Vorwurf gemacht worden, ich würde mein Gegenüber nicht verstehen. Oder ich wollte es nicht verstehen. Mehr oder weniger offen wurde mir bei der Gelegenheit signalisiert, ich wäre mit irgendeinem Sachverhalt oder einem Austausch intellektuell überfordert oder sagen wir mal rundheraus: zu doof dazu. Dieser Vorwurf war in allen Fällen in der Sache komplett unzutreffend. Auch stand keine Ablehnung meinerseits, also eine Verweigerung im Sinne des Nicht-wollens, im Weg.

Erst nach einiger Zeit wurde mir klar, was eigentlich dahinter steckt. Tatsächlich ist die Formulierung richtig: wir verstehen uns nicht. Verstehen kommt im Ursprung von Verstand, hier spielt also der Stand(-punkt) und der – nennen wir es mal – „Stand in und zu der Welt“ eine Rolle. Und da sind wir uns wirklich so fern, dass wir uns nicht ver-stehen können. Und auch nicht mit gutem Willen („willst Du mich verstehen“) an dieser Diskrepanz vorbei kommen.

Ich beleuchte es am Beispiel von Personen, die aus unterschiedlichen Ländern kommen. Nicht allein die Sprache ist verschieden, auch das Bedeutungsumfeld der verwendeten Begriffe oder sprachlicher Bilder. Hinzu kommen noch die Unterschiede in der Mentalität, also der Grundausrichtung des Geistes, und nicht zuletzt der Sozialisation.

Was in diesem Fall jedem direkt einleuchtet, gilt aber auch für Menschen, die eine vermeintlich gleiche Sprache sprechen und aus benachbarten Gegenden stammen. Man denke nur an die traditionelle Reiberei zwischen Bayern und Preußen.

Aber es gilt – mehr oder weniger ausgeprägt - auch in noch engerem Rahmen, bei Nachbarn aus dem gleichen Wohnort und sogar in der Familie bei Geschwistern.

Die Gefahr eines unüberbrückbaren Abstandes im „Stand zu und in der Welt“, vielleicht als Niveau oder Klasse umschrieben, ist allgegenwärtig. Und es ist für alle Beteiligten ausgesprochen wichtig, dies zu erkennen und weder als intellektuelle Lücke oder als Sperrigkeit des Gegenübers zu interpretieren. 

Ein Miteinander, also der verbale oder auch emotionale Austausch und das gemeinsame Arbeiten sind dennoch möglich. Aber nur auf Feldern, wo es im Stand in und zu der Welt Überschneidungen gibt. In der Auswirkung auch in Bereichen, die reglementiert sind und beide Seiten diese Regeln akzeptieren (müssen) – denn auch dieses beidseitige Akzeptieren setzt eine diesbezügliche Schnittmenge der Weltbilder voraus.

Je weiter man sich jedoch von dieser Überdeckung entfernt – aus welchem Grund auch immer – desto schwieriger wird die Kommunikation und gerät dann schnell an Grenzen. Da hilft dann keine Vermittlung oder gutes Zureden. Es geht schlichtweg nicht und ja: „Du verstehst mich einfach nicht.“ – frustriert oder vorwurfsvoll – stimmt leider in diesem Fall.

[Dazu passt auch: Weltoffenheit und Weltoffenheit Teil 2]

01 Dezember 2020

Evitas Heimweg durch nebelgrauen Abend


Die Luft unter den Lampen lichtgeschwängert, der Finger meines Scheinwerfers hineintastend in den feuchten Atem, den die Erde hergibt.

Remember, I never left you Du bist gar nicht so weit weg, eigentlich kann ich deine Körperwärme spüren und dein Herz 

All through my wild days Tanzen bis der Arzt kommt, das ist es 

My mad existence Denn eigentlich hat alles so harmlos angefangen 

I kept my promise Du hast dagesessen und wir haben uns aufs Parkett gestellt und getanzt 

Don’t keep your distance Und dann war es da, dieses Gefühl, dass wir es schaffen, wenn irgendjemand es schafft, dann wir. 

Have I said too much Stehengeblieben in der Kälte 

There’s nothing more I can think of to say to you dabei eigentlich noch näher als beim Tanzen 

But all you have to do, is look at me to know that every word is true dazu ein Blick in Deine braunen Augen.

Wie schwanger kann ein Abend sein, um das Licht noch aufzu­nehmen und einen Heimeilenden aufzuhalten?