30 Oktober 2020

Die fröhliche Melancholie der Deutschen

Die Bäckersfrau kennt mich schon gut. Jeden Morgen kaufe ich bei ihr frische Croissants, sie lächelt mich an, genießt mein schlechtes Französisch. Hier in Istres mache ich ein paar Wochen Station, will den Herbst ein wenig aufschieben und die Gedanken für die Winterzeit sammeln. Es ist ruhig hier, ich schaue von meinem Balkon hinunter auf den Ort, zwischen den Häusern kann ich die Masten der Boote sehen, die träge im Hafen schaukeln.

Hier gibt es nichts zu beschleunigen, aber auch nichts zu verzögern, die Geschwindigkeit und das Leben scheinen hier unbeeindruckt von der Zeit einem Fluss gleich unveränderlich. Der ewige Kreislauf des Lebens mit Geburt, Ehe und Tod bilden die Grundlage für den dahinströmenden Alltag.

Nachher werde ich das Backwerk in den gut gemilchten Kaffee tunken, im Laufe meines Aufenthaltes komme ich immer mehr zu dieser leichten Variante des Frühstücks. Noch stehe ich aber an der Theke, denke an die sich färbenden Blätter an den Bäumen der Allee und schaue der Bäckersfrau beim Befüllen der Brötchentüte zu.

Zur Mittagszeit liegt der ganze Ort in der Sonne, räkelt sich wie ein junges Mädchen unter den bräunenden Strahlen. Hier und da noch ein paar Fischer, die zur Mittagspause in die Bars am Hafen gehen, eher schlurfend. Es ist die Zeit der Pause, einer kleinen Mahlzeit und der Mittagsliebe. Vielleicht auch ein Kaffee oder ein Glas Wein, savoir vivre.
Um diese Uhrzeit hat der Bäckerladen geschlossen, wie überhaupt in den Stunden das aktive Leben zurücktreten muss. Wer nicht unbedingt zu schaffen hat, lässt sich treiben.

Ich bin an der Reihe und nehme zusätzlich zu meiner üblichen Bestellung noch etwas Süßes. Wegen des überraschten Blicks begründe ich der Bäckerin, dass ich den anbrechenden Herbst auf dem Platz mit Blick auf die Fontaine genießen und mir versüßen will. Sie strahlt und erklärt mir, sie liebe die fröhliche Melancholie der Deutschen, l'heureuse mélancolie des Allemands. Ich frage mich, ob es eine Kritik oder eine Liebeserklärung sein soll, entscheide mich für letzteres und werfe ihr beim Hinausgehen noch einen Kuss zu. 

24 Oktober 2020

And Now for Something Completely Different

Ich erlaube mir vorzustellen: Der komplette Unterschied. Worthülsengeschwängert die Texte, Nebelschwadenumwabert die Botschaften. Dazwischen ich als Kommunikationslotse in den Untiefen deutscher Sprache, deutscher Redensunart, deutschem Brain Setting.

Prägten wir nicht den Begriff der Propaganda, eigens erfinden müssten wir ihn gerade jetzt als Bezeichnung für unsere Fremdsteuerungssehnsucht. Wie liegen sich Medikation und Mediation in den Armen, nachtbang hoffen wir auf die Einbrüche der Ausbrüche, trösten uns mit Gourmandenlust durch Konsum von Wichtigmeldungen.

Mantra unserer Schwarmintelligenz ist die Bewertung des Wahrheitsgehaltes nach Statistik und dem unumstößlichen Verständnis der Gewichtigkeit von Lautstärke und Häufigkeit. Menschlicherweise haben wir einen optional bergeversetzenden Glauben, dem gebotswidrige Handlungen nach dem verordneten Prinzip der Billigkeit angedient werden. Sollten uns Fakten so irritieren, dass wir das kopfnähere Hemd der Hose vorziehen?

Umgehung von Paradoxien ist Leitkultur, sicherheitsschaffende Gewissheit, dass ich bin, weil ich denke, ohne wissen zu können, ob ich überhaupt denkfähig bin.

Dem Wetterbericht folgend eine Warnmeldung vor stürmische Denkzeiten, bringen Sie starre Ansichten und änderungsempfindliche Entscheidungen in Sicherheit und bleiben Sie zu Hause. Die anonymitätsgesicherte Verlautbarung im Internet ist das Fundament freier Meinungsäußerung und eine Bodenplatte gesellschaftsfähiger Verbalausrutscher.

Komplexe Sprachbilder müssen verbannt werden, Leseanstrengung ist unter Sanktionsandrohung zu vermeiden. Qualitätsmaßstäbe sind Leichtverdaulichkeit, Verkaufserfolg und Anzahl der Follower. Nur was Kindern, Laien und Vorständen unmittelbar einleuchtet, kommt für die weitere Betrachtung in Frage, in Frage gestellt wird es nicht.

So singen wir gemeinsam unser einsilbiges Abschiedslied, stecken uns schunkelnd an Geist und Körper an, geteiltes Leid ist verteiltes Leid, wer will schon alleine sterben. 

16 Oktober 2020

Gemeinschaft

Bernd ist Fischer. Er fährt einen Downeaster, wie er mir erklärt. Ein traditionelles Boot, das schon sein Vater von seinem Vater übernommen hat. Jeden Tag die Woche geht es hinaus auf das Wasser, in die Fischgründe und Gott alleine weiß, wie viel in seinem Netz hängenbleibt.

Gott allein?
Natürlich kennt er die Jahreszeiten, die Züge der Fische. Wie das Wetter sich auswirkt. Und er hat jahrzehntelange Erfahrung und ein Gefühl für den richtigen Fang. Aber am Ende gibt es eben auch gute und schlechte Tage.

Und da sind die Kameraden und Kollegen wichtig. Nein, sie führen alle im selben Gewässer und natürlich gäbe jeder sein Bestes und habe eine Familie zu ernähren. Aber Konkurrenten wären sie nicht. Vielleicht ein Wettstreit. Und Stolz, wenn man besonderes Glück gehabt hatte. Aber wenn es nicht gut liefe auch eine Stütze.

So wie vor ein paar Jahren, als er sich das Bein gebrochen hatte und nicht aufs Boot konnte. Alle hatten zusammengelegt und den Kindern Essen zugesteckt. Krankenversicherung und Berufsunfähigkeit sind für Reiche, an eine Hilfe durch den Staat glaubt er nicht. Das sagt er ganz ohne Bitterkeit oder Vorwurf. Das Fischerdorf ist ein Kleinstaat, in dem das soziale Netz auf andere Art funktioniert.

Er ist ein glücklicher Mensch, denke ich mir.
Aber das bin ich auch.

09 Oktober 2020

Die Archäologie der Silberlinde

Dort, wo die Archäologie die Silberlinde schneidet, mitten durch den Stamm. Ich lese im Geschichtsbuch der Jahresringe:  Trockene Jahre sehe ich da, fast ein Jahrzehnt später muss es sehr windig gewesen sein. Und die schwere Jugend, in der du dich dem Hang entgegenstemmen musstest.
Dann die Baumperlen. Deine Verletzungen vergisst Du nie, sie sind kein Trauma, nein, sie verheilen ohne bleibende Schäden, aber dem Betrachter zeigst du sie ohne Scheu. Über Jahrhunderte, die du den Menschen bei ihrem Tagwerk zuschaust.
Wie erdend, haben wir doch die Macht, dein Leben durch unsere Sägen zu beenden. Worein du dich klaglos fügst, dich hergibst für ein paar Jahrzehnte als Möbelstück. Obgleich du ohne uns ein Leben über achthundert Jahre hättest führen können.
So liegst du also vor mir, nackt ohne deine feine furchenförmige Borke. Bitte, scheinst du mir zuzuflüstern, bitte verhilf mir mit deinen Händen zu der hölzernen Vollkommenheit des geplanten Schreibtisches. Und übergib so, das ist mein Wunsch, meine ganze Geschichte dem sensiblen Betrachter des entstandenen Werkes.